Ammoniak. Muss man erst mal erfinden, um dann rauszubekommen, für was man dieses NH3 überhaupt brauchen kann. Als Dünger. Oder als Kampfstoff. Oder beides? Ein chemischer Krimi - Autor: Hellmuth Nordwig
"Es tröpfelt!" Dieser Ausruf gehört nicht zu den geflügelten Worten der Menschheit. Schade eigentlich. Denn auch kleine Tropfen können Geschichte machen. Zum Beispiel im Karlsruher Labor des Chemikers Fritz Haber. Am 2. Juli 1909 hatte sich dort der Vorstand der Badischen Anilin- und Sodafabrik BASF versammelt, um einer Premiere beizuwohnen. Die Herren - eine Frauenquote war damals noch weit weg - die Herren also waren Zeugen einer Sensation: Fritz Haber konnte zum ersten Mal Stickstoff aus der Luft einfangen und zu einer brauchbaren Substanz umwandeln. Nämlich zu Tröpfchen aus Ammoniak: für Österreicher Ammóniak,
für Chemiker NH3. Ein Atom Stickstoff, drei Atome Wasserstoff.
NH3
Wer das jetzt für wenig sensationell hält, ist in guter Gesellschaft. Zehn beliebige Menschen auf der Straße würden auf die Frage, wozu man Ammoniak braucht, wahrscheinlich zehn Mal antworten: "Keine Ahnung!". Ein Spruch, der nun wirklich zu den geflügelten Worten zählt. Die Unkenntnis ändert aber nichts daran, dass Ammoniak das unverzichtbare Rohmaterial für zwei ganz unterschiedliche Dinge ist: für Dünger und für Sprengstoff. Ohne Ammoniak könnte die Erde keine sieben Milliarden Menschen ernähren - das behauptet jedenfalls stolz die chemische Industrie. Über die Vorzüge von Bomben und Granaten schweigt sie vornehm.
Anfang des 20. Jahrhunderts durfte man beides noch laut sagen. Ein angesehener britischer Experte prophezeite spätestens für das Jahr 1918 eine Hungersnot, weil der Boden nicht mehr genug Nahrung für alle hergeben würde. Und nicht genug Rohstoffe für Munition. Die würde den Armeen dieser Welt schon 1914 ausgehen, unkte eine andere Prognose.
Erstens anders und zweitens als man denkt
Es ist bekanntlich anders gekommen. Und der entscheidende Wendepunkt war das Tröpfeln im Karlsruher Labor. Wobei die Ausgangsstoffe banal waren:
Luft, Wasser und Koks. Mehr ist nämlich kaum nötig, um Ammoniak herzustellen. Freiwillig reagieren diese drei allerdings nicht miteinander. Man muss schon Druck ausüben. Fritz Haber probierte es mit dem hundertfachen Atmosphärendruck. Bei einer Hitze von 600 Grad konnte er die störrischen Reaktionspartner schließlich dazu bewegen, ihr Alleinsein aufzugeben und die Ehe zum Ammoniak einzugehen. In einem armdicken metallrohr, gefüllt mit haselnussgroßen Eisenkügelchen. Erstaunlich, dass Haber diese Bombe Marke Eigenbau nie um die Ohren geflogen ist.
Die Vorstände wussten sofort: Das müssen wir haben! Und gaben Carl Bosch aus der BASF den Auftrag, gemeinsam mit Fritz Haber dessen Laborexperiment in den großen Maßstab der Industrie zu übertragen. Drei Jahre später war es soweit: Dank des Haber-Bosch-Verfahrens konnte das Unternehmen nun eine Tonne Ammoniak pro Tag herstellen. Für die Landwirtschaft und den bevorstehenden Weltkrieg.