Manchmal sind Brüder sich nicht nur im Wesen sehr ähnlich. Verwirrend wird es obendrein, wenn beide auch noch die Königskrone tragen. Aber bisweilen scheint die Welt eben verrückt. Autor: Christian Feldmann
Schuld an jedem Mist in der Welt ist letztlich immer die Familie. Früher waren es die hochneurotischen Einzelkinder, narzisstisch, beziehungsgestört, soziophob, die alles verbockt haben. Nach heutigem Erkenntnisstand soll es eher am problematischen Verhältnis zwischen Geschwistern liegen, wenn sich jemand zu einem sonderbaren Kauz entwickelt.
Von Anfang an hatte er es nicht leicht, der 1848 als schwächliches Siebenmonatskind geborene Wittelsbacherprinz Otto. Zum einen kam er aus einer von chronischer Inzucht und psychischen Auffälligkeiten geprägten Familie:
Seine Urgroßmutter ging nie vor Sonnenaufgang zu Bett, aus Angst vor Nachtgespenstern; seine Tante Alexandra bildete sich ein, in ihrem Kopf habe sich ein Sofa eingenistet, weshalb sie sich überaus vorsichtig bewegte, um mit dem Möbel nicht an einen Türrahmen zu stoßen.
Bruderliebe
Zum andern war der quecksilbrige, gesellige, immer freundliche, vom ganzen Königshof zärtlich geliebte Otto unglücklicherweise der Bruder des drei Jahre älteren Kronprinzen Ludwig, des späteren Märchenkönigs. Beide standen lebenslang in einer symbiotischen Beziehung, Otto bewunderte und verehrte den großen Bruder. Doch der menschenscheue, stolze Ludwig deckelte und demütigte das fügsame Brüderchen, wo er nur konnte.
Bruderzwist
Als Ludwig 1864 achtzehnjährig den Königsthron erbte, wollte er den ebenso geknechteten wie geliebten Bruder ständig in seiner Nähe haben. Er weinte sich bei ihm über die Anforderungen der Politik aus, schickte ihn in den Krieg gegen die Preußen und dann gegen die Franzosen, er selbst verabscheute alles Militärische. Im Volk war der leutselige Offizier freilich überaus beliebt - obwohl sich längst herumgesprochen hatte, dass er im Kopf nicht ganz richtig war.
Aus Hofkreisen war durchgesickert, dass er an Verfolgungswahn und Halluzinationen litt, mit unsichtbaren Personen sprach und zu unkontrollierten Aggressionsausbrüchen neigte. Ein Jahr nach der Kaiserproklamation brachte man ihn in milder Isolation im Schloss Nymphenburg unter, schnitt Gucklöcher in seine Zimmer und verschraubte die Fenster.
Wegen unsittlicher Beziehungen zum Jesuskind auf ewig verdammt zu sein, das war eine von Ottos Wahnideen. Am 27. Mai 1875, es war der Fronleichnamstag, schlich er sich aus Nymphenburg fort, stürmte im Jagdrock in den Liebfrauendom, wo Erzbischof von Scherr gerade das Hochamt zelebrierte, warf sich auf den Altarstufen nieder und bekannte laut schreiend die grässlichsten Sünden. Jetzt ließ es sich nicht mehr vermeiden, Otto dauerhaft im barocken Jagdschlösschen Fürstenried zu internieren, das man zu einer Privatklinik umbaute. Ludwig fuhr anfangs häufig nachts nach Fürstenried, weil es ihm als einzigem gelang, den tobenden Bruder zu beruhigen, doch am Ende erkannte ihn der Kranke nicht mehr, und dem König war der Anblick des Bruders unheimlich, in dem er sein eigenes Schicksal ahnte.
Als Ludwig elf Jahre später tatsächlich für irrsinnig erklärt und abgesetzt wurde und im Starnberger See ein mysteriöses Ende fand, proklamierte man Otto offiziell zum König. Die Amtsgeschäfte führte sein damals 65-jähriger onkel Luitpold als "Prinzregent", aber zahllose Offiziere und Beamte wurden auf den Schattenkönig Otto vereidigt, den kein Mensch jemals sah und der Bayern 27 Jahre regierte, länger als jeder andere Wittelsbacher. Der Titel "König" blieb ihm auch, als Luitpold starb und dessen Sohn Ludwig nun doch als Ludwig III. die Monarchie weiterführte.
In Bayern gab es jetzt zwei Könige, bis Otto 1916 ein friedliches Ende fand.
Zwei Jahre später war es auch mit der Monarchie vorbei. Im Volk aber hielt sich hartnäckig die Vorstellung, Otto sei gar nicht geisteskrank gewesen, sondern wegen seiner glühenden Gegnerschaft zu Preußen und zum Hohenzollernkaiser von der Thronfolge ferngehalten worden.