Schönheit liegt immer im Auge des Betrachters. Und warum sollen bei grandiosen Gemälden nicht mal ein paar Pinselstriche anders gesetzt sein als erwartet? Ist schließlich Kunst! Und kann nicht weg, denn das Goethe-Porträt von Tischbein ist bis heute Kult. Autorin: Brigitte Kohn
Rom, Oktober 1786. Der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein eilt zu der Herberge, in der Goethe Quartier genommen hat. Gleich nach seiner Ankunft in der ewigen Stadt hat der nach ihm schicken lassen, und Tischbein weiß,
was er dem Anderen schuldig ist: Schließlich hat Goethe ihm ein Stipendium in Rom vermittelt, weil er seine Gemälde schätzt und nicht will, dass er als Porträtmaler in Deutschland versauert. Für Künstler im 18. Jahrhundert ist es wichtig, antike Kunstwerke vor Ort zu studieren: Sie wollen in klassischer Schlichtheit neue Maßstäbe setzen und wegführen vom überladenen Schwulst des Barock und Rokoko.
Goethe und die Maler
Goethe sucht oft den Austausch mit Malern und sitzt ihnen auch gern Modell. Schließlich will er Eindruck machen auf die Mit- und Nachwelt und seinen Ruhm befördern: Von nichts kommt nichts, die Welt braucht Bilder.
Tischbein ist 35 Jahre alt, zwei Jahre jünger als Goethe, und die beiden Männer sind sich sofort sympathisch. Goethe zieht zu Tischbein in die Casa Moscatelli in der Via del Corso, nur wenige Meter von der Porta del Popolo entfernt.
Dort entsteht eine hübsche, aquarellierte Federzeichnung: Goethe in Rückenansicht, jugendlich schlank und lässig gekleidet, wie er am Fenster steht und auf die belebte Straße hinunterschaut. Eine Momentaufnahme des gemeinsamen Alltags, sehr charmant, aber nicht repräsentativ.
Doch Tischbein kann auch anders. Als Spross einer hessischen Künstlerdynastie ist er von Malern umgeben aufgewachsen und bei zwei onkeln in Kassel und Hamburg in die Lehre gegangen. Er wagt sich ohne Scheu an ein monumentales Werk, das Goethe in Überlebensgröße zeigt, hingegossen auf einen Steinblock, hinter ihm eine italienische Landschaft mit antiken Bauwerken. Goethe ist in einen weißen Mantel mit reichem Faltenwurf gehüllt. Seinen Kopf bedeckt ein Schlapphut mit einer Krempe groß wie ein Heiligenschein.
Über ihm klart der bewölkte Himmel auf. Man sieht den Dichter hier,"wie er über das Schicksal der menschlichen Dinge nachdenket", so jedenfalls kommentiert Tischbein den ernsten Gesichtsausdruck seines Modells.
Der menschlichen Dinge Schicksal
Das Schicksal der menschlichen Dinge ist von Vergänglichkeit gezeichnet, aber der Dargestellte scheint nicht zum Kreis der Normalsterblichen zu zählen:
jeder Zoll ein Genie in der Blüte seiner Jahre. Das Bild ist Kult geworden und hat die Aura Goethes maßgeblich geprägt, selbst Andy Warhol hat es zur Grundlage eines seiner berühmten Siebdrucke genommen.