Der Meermann Knut traf die letzten Vorbereitungen für seinen Arbeitstag. Er steckte sich sein Abzeichen, den Seestern Enno, ans Revers und übergab die schweren Ledertaschen an seinen Kollegen Fiete, der als Krake genug Arme zum Tragen hatte.
Gemeinsam verließen die Drei das Flaschenpostamt um ihre Tour zu beginnen. Doch schon im Vorgarten stockte ihnen der Atem. Am Stadtrand türmte sich ein neuer Berg auf, dessen Gipfel leuchtend rot glühte.
»Bei allen Meeresgöttern.« Knut schluckte schwer. »Das ist ein Unterwasservulkan. Er sieht aus, als könnte er jeden Augenblick ausbrechen und explodieren. Die Stadt unter dem Meer ist in Gefahr. Wir brauchen dringend Hilfe.«
Die Flaschenpostboten schwammen zurück ins Haus. Knut schnappte sich das Telefon und wählte eine Nummer, von der er immer gehofft hatte, sie niemals zu brauchen.
»Na los! Mach ihn doch endlich rein. Das darf doch alles nicht wahr sein.«
Auf der Uhr am oberen Bildschirmrand lief die Zeit ab. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zum Ende des Spiels. In einer großen Halle warfen sich zwei Mannschaften einen Ball hin und her und hofften, das Tor des Gegners treffen zu können. Die Handball Weltmeisterschaft war in vollem Gange. Es stand unentschieden.
»Jetzt muss doch endlich mal die Pocke ins Netz gehen.« Alpenklaus sah zitternd auf den kleinen Zettel in seiner Hand. Er hoffte darauf, dass er seine Sportwette gewinnen würde. Mit etwas Glück würde sie ihm das Abendessen bezahlen. Doch dafür musste ein Sieg her.
Die gegnerische Mannschaft eroberte sich das Leder. Die Spieler stürmten nach vorn. Der Stürmer warf und traf. Eine laute Sirene ertönte und beendete damit das Spiel.
»Verdammter Mist.« Meerjürgen, der extra aus der Nordsee gekommen war, um mit seinen Freunden das Spiel zu schauen, schlug mit seiner Schwanzflosse um sich und verspritzte dabei das Wasser aus der Schüssel vor seinem Sessel.
»Ey, lass das. Ich werde ganz nass.« Alpenklaus zog das karierte Hemd aus der Lederhose und hielt es sich vor das Gesicht.
»Ich kann nichts dafür. Ohne Wasserbad vertrockne ich zu schnell an Land.« Meerjürgen steckte die Flosse in die Schüssel zurück und warf stattdessen die Chipstüte gegen den Fernseher. Irgendwie musste er seinen Frust herauslassen.
»Wenn du rechtzeitig ins Spiel eingegriffen hättest, wäre das alles nicht passiert.« Alpenklaus hatte sich zum Dritten in ihrer Runde umgedreht. Neben ihm saß ein dicker Mann mit lockigem Haar und Feinrippunterhemd, unter dem ein paar Flügel zu erkennen waren.
»Ich bin ein Elfe und kein Zauberer.« Harald wedelte kurz mit seinem Zauberstab und tauschte ihn anschließend gegen seine halb geleerte Bierflasche. »Außerdem habe ich bereits etwas getrunken. Zaubern unter Alkoholeinfluss ist strengstens verboten, weil es zu unvorhersehbaren Komplikationen kommen kann.« Er rülpste laut. »Beim letzten Mal wollte ich beim Minigolf schummeln und habe meinem Gegner versehentlich Elefantenohren verpasst. Ich stehe also schon unter Beobachtung. Ich kann mir keine weiteren Punkte in meiner Akte leisten. Am Ende nehmen die mir noch die Flügel und den Zauberstab ab.«
Hätte in diesem Moment nicht das Handy von Meerjürgen geklingelt, die drei hätten sich wohl noch mehrere Stunden gestritten.
»Du hast ein Problem? Erzähl es Meerjürgen. Ich bin ganz Ohr.« Gelangweilt kratzte er sich sein Bikinioberteil, das aus dichten Brusthaaren bestand und gähnte laut.
Plötzlich riss er seine Augen auf. Etwas hatte ihn in den tiefsten Tiefen seiner Seele erschrocken.
»Tut mir leid. Das ist eine Spur zu groß für mich. Ich bin vielleicht ein Held, aber kein Weltretter. Was ihr jetzt braucht, ist jemand mit richtigen Muckis, jemand der sich vor nichts fürchtet. Ihr braucht den Mucki-Frosch.«
Meerjürgen hörte dem Anrufer weiter zu, nickte immer wieder und seufzte schließlich laut. »In Ordnung. Ich habe verstanden.« Er legte auf.
»Leute, die Stadt unter dem Meer, meine Heimat, ist bedroht. Ich habe gerade mit meinem Bruder Knut telefoniert. Dort unten hat sich ein riesiger Unterwasservulkan gebildet, der schon bald ausbrechen wird. Der Mucki-Frosch, ein Kollege den ich sehr schätze, der vor nichts Angst hat, ist verhindert. Wir drei müssen den Job übernehmen und die Bevölkerung retten.«
Alpenklaus zog sich das Hemd von Gesicht. »Ja Kruzifix noch eins. Wie sollen wir das denn schaffen?«
Von Harald war mittlerweile nur ein lautes Schnarchen zu hören. Er war eingeschlafen.
»Ey. Wach auf.« Meerjürgen warf dem Elfen die Fernbedienung des Fernsehers gegen den Kopf. »Wach auf. Wir müssen die Unterwasserwelt retten.«
Harald schreckte hoch und rülpste. Er wischte sich die Hände an seinem Unterhemd ab und salutierte unbeholfen. »Zu Befehl, Chef.«
Im nahen Hafen hatte sich die Rettungstruppe ein kleines Tauchboot gechartert. Für Meerjürgen wäre das nicht nötig gewesen, denn als Meeresbewohner konnte er auch unter Wasser atmen. Bei Alpenklaus und Elfe Harald sah das schon ganz anders aus.
»Wenn wir in der Stadt angekommen sind, stelle ich euch Aphrodörte vor.« Meerjürgen grinste breit. »Sie wird euch helfen, dass ihr besser in meiner Welt klar kommt. Sie hat magische Fähigkeiten, die sie nur zu gern einsetzt.«
Harald atmete auf. Ein ungeschützter Einsatz unter Wasser hätte ihm gerade noch gefehlt. Er erinnerte sich noch gut an seine letzte Kneipentour. Danach wäre er im Schlaf beinahe an seiner eigenen Spucke ertrunken, so sehr hatte der Elfe in sein Kopfkissen gesabbert.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie den Meeresgrund erreichten. Meerjürgen steuerte das Tauchboot in eine Garage, die er anschließend fest verschloss und das Wasser abließ. »Ihr könnt jetzt aussteigen. Aphrodörte wartet bereits nebenan auf euch.«
Harald und Alpenklaus nickten. Sie traten durch die einzige Tür und sahen sich einer Meerfrau gegenüber, für deren Schönheit es kein passendes Wort gab, dass ihr auch nur annähernd gerecht geworden wäre.
»Klappt eure Münder zu, Männers. Wir müssen die Unterwasserwelt retten.«
Aphrodörte hatte auf einem gemütlichen Sessel Platz genommen und musterte die zwei Landbewohner von oben bis unten.
»Ihr müsst mir jetzt vertrauen. Meerjürgen wird das Tor der Garage öffnen. Das Wasser wird mit hoher Geschwindigkeit hier hereinströmen. Ihr müsst die Luft anhalten und darauf vertrauen, dass alles gut wird. Sobald dieser Raum vollständig gefüllt ist, werde ich euch die Fähigkeit zum Atmen schenken.«
Alpenklaus nickte ängstlich, während Harald Panik bekam und sich gern im Tauchboot verkrochen hätte.
»Vertraut ihr.« Meerjürgen öffnete das Garagentor, trat zwischen seine Freunde und nahm sie an den Händen. »Sie macht das nicht zum ersten Mal.«
Das Wasser strömte herein. Schnell stieg es an. Harald und Alpenklaus wollten sich losreißen, doch Meerjürgen öffnete seine Hände nicht eher, bis auch die letzten Luftreste verdrängt worden waren.
Nun erhob sich Aphrodörte langsam von ihren Polstern, schwamm zuerst zum Elfen. Sie schlang ihre Arme um seinen Körper, blickte ihm tief in die Augen und gab ihm einen Kuss, der Harald beinahe die Sinne raubte. Sie löste sich von ihm. Der Elfe holte tief Luft und entspannte sich sofort. Er konnte tatsächlich atmen.
Die Prozedur wiederholte Aphrodörte nun bei Alpenklaus, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand. Außerdem freute er sich schon darauf, die Lippen der Meerfrau spüren zu dürfen. Seinen letzten Kuss hatte er beim Oktoberfest bekommen, was schon eine halbe Ewigkeit her war.
Aphrodörte zog sich zurück. Sie nickte den Männern zu. »Es war mir wie immer ein riesig großes Vergnügen.« Sie verschwand hinter einem Vorhang.
»Wäre das also erledigt. Dann folgt mir. Mein Bruder wird uns führen.«
Meerjürgen schwamm voraus. Seine Freunde folgten ihm etwas unbeholfen und waren sehr neidisch auf die große Schwanzflosse, die ihnen fehlte.
»Endlich seid ihr da.« Flaschenpostbote Knut war völlig aufgelöst. Die Nervosität konnte man ihm angesehen. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Schweißperlen? Alpenklaus stutzte und legte die Stirn in Falten. Wie konnte man unter Wasser schwitzen? Wie konnte es möglich sein, das auch zu sehen?
»Dort vorn ist der Vulkan. Niemand hat gesehen, wie er entstanden ist. Er war am frühen Morgen plötzlich da. Unter ihm muss eine gewaltige Magmakammer existieren, die den Boden angehoben hat.«
»Puh.« Meerjürgen war nicht nur beeindruckt. Er fühlte sich plötzlich extrem eingeschüchtert. Wie sollten sie dieses Monstrum nur besänftigen oder beseitigen? Das war zu viel für einen kleinen, dreiköpfigen Rettungstrupp. »Bist du dir sicher, dass du den Richtigen gerufen hast? Vielleicht wäre es doch besser gewesen, auf den Mucki-Frosch zu warten. Ruf ihn doch einfach nochmal an.«
»Nein. Auf keinen Fall.« Knut war damit überhaupt nicht einverstanden. »Das dauert viel zu lange. Ihr müsst das machen. Du prahlst doch sonst immer, dass dir nichts zu groß oder zu schwer ist, dass du dich jeder Aufgabe stellst.«
»Ja!« Nun mischte sich auch noch Harald ein. »Das ist auch so. Er kann das. Wir können das. Wir werden es dir schon beweisen.«
Er zog den Elfenstab auf dem Holster an seiner Hüfte und schwamm dem Vulkan entgegen. »Ich mach das jetzt. Ihr wartet einfach hier. Ich hab schon einen Plan.«
Sie konnten den Elfen nicht aufhalten. Mit seinem Stab zauberte er Barriere hinter sich, die die anderen nicht zu durchdringen vermochten. Sie konnten nur zuschauen, wie Harald den rot leuchtenden Gipfel des Vulkans erreichte.
Er sah noch einmal zurück, grinste breit und hob einen Daumen nach oben. Dann richtete er seinen Stab auf den Gipfel. Der Gipfel riss auseinander. Statt heißem Magma, dass das Meer zum kochen bringen sollte, ergoss sich nur eine helle Flüssigkeit. Der Vulkan sackte innerhalb weniger Sekunden in sich zusammen.
Harald kam zurück und löste die Barriere auf. »War gar nicht so schwer. Das war gar kein Vulkan, sondern nur ein besonders großer Pickel.«
»Ein Pickel?« Meerjürgen wollte es nicht glauben. Doch dann erhob sich ein riesiges Tier vom Boden. Es war der Meeressäuger Wal-de-Mar. »Puh. Danke, Harald. Endlich geht es mir besser. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das nervige Ding geschmerzt hat. Endlich ist der Druck weg.«
»Dann können wir jetzt wieder nach Hause fahren?« Alpenklaus begann zu drängeln. »Ich weiß ja nicht, wie lang der Zauber von Aphrodörte noch anhält. Außerdem hab ich auf dem Wohnzimmertisch meine Maß Bier vergessen. Die wird langsam schal.«
Die Männer lachten laut und klatschten sich zufrieden ab. Schon wollten sie zum Tauchboot zurück, als mit einem lauten POFF eine Elfe auftauchte.
»Moment mal. Wo soll es denn hingehen?« Sie hielt Harald am Arm fest und zog ihn zu sich. »Elfe Harald, hauch mich bitte mal an.« Doch noch bevor er es getan hatte, wusste sie bereits Bescheid. »Elfenwachtmeisterin Cordula ist mein Name. Unsere magischen Sensoren haben festgestelt, dass du unter Alkoholeinfluss deinen Elfenstab benutzt hast. Du weißt ganz genau, dass das nicht erlaubt ist. Ist ja nicht das erste Mal.«
Sie füllte ein Formular aus, welches sie Harald in die Hand drückte. »Das ist die letzte Verwarnung. Beim nächsten Mal ziehe ich deinen Elfenstab ein.«
Es machte erneut POFF. Elfenwachtmeisterin Cordula war verschwunden.
Harald seufzte. »Wie gewonnen, so zerronnen.« Doch dann grinste er schon wieder. »Spaß gemacht hat es trotzdem.«
Elfe Harald und der Alpenklaus bestiegen das Tauchboot und machten sich auf den Weg zum Land, während Meerjürgen in der Stadt unter dem Meer zurückblieb. Es wurde Zeit, seine Oktopussy zu füttern und ihr das weiche Fell auf den acht Armen zu bürsten.