Der Winter verging leidlich für Strix.
Sie hatte nur mit dem Hunger und der Langenweile zu kämpfen.
Das Los des Leuchtturmwärters wirkte gerade nicht verlockend auf die in der Gegend ansässigen Jäger; sie erblickten darin eine weitere Bestätigung für die Annahme, daß die große Eule ein Zaubervogel sei, den man am besten in Ruhe ließ.
Der alte Niels Pibe, den die Strandzeitung interviewte, benutzte die Veranlassung, um verschiedene Geschichten von Eulen wieder aufzufrischen, aus denen zu ersehen war, daß die Eule Böses ansagt — und daß, wenn man sie schießt, dies den Tod bedeutet.
Eifrige Sammler ließen sich freilich nicht von diesen Ammenmärchen abschrecken, und als der Frühling sich näherte und das Wetter weniger rauh wurde, erhielt der gewiegte Hotelpächter in der Tat Anfragen in bezug auf seine Pensionspreise und den viel beredeten Vogel.
Indessen kam ihnen ein Fremder, mit dem niemand rechnete, zuvor.
Es ist an einem Abend, Ende März, bei heftigem Seesturm ...
150 Das Meer schäumt. Kein Fahrzeug ist zu erblicken. Die grauen Regenschauer und die graue See gehen ineinander über. Nur eine vereinzelte, große Möwe mit einer unverhältnismäßig großen Flügelweite für den kleinen, leichten Körper tummelt sich im Sturmgebraus und wiegt sich hin und her über dem einsamen Horizont.
Scharf und salzig treibt die Seeluft durch den Strandwald; sie stinkt nach Fischen und Tang, nach Strand und Muscheln ...
Strix tanzt nicht mehr an dem Dünenhang, sie hat zurzeit anderes zu tun.
Sie hat sich ein Nest aus Zweigen zwischen ein paar ausstrahlenden Wurzelhälsen einer kleinen verkrüppelten Erle zusammengetragen und liegt und brütet auf einem unbefruchteten Ei, einem letzten, aus alter Gewohnheit gelegten Ei!
Und die Regenschauer kommen in Zwischenräumen, aber regelmäßig wie die Kinder in dem Heim armer Leute, und das Meer da draußen nimmt die trostlose Farbe des Sandgraus an. Und der Regen peitscht herab, strömt und strömt, so daß auch oben in der Luft See und Meer entstehen.
Strix drückt sich tief in ihr schützendes Nest unter dem Erlenstamm und läßt die Regenschauer kommen und die Regenschauer gehen; sie brütet und gibt acht ... auf die Erde, das weiß sie ja, ist kein Verlaß.
Da kracht und raschelt es vor ihr im welken Laub ... ein langgestrecktes, schlangengeschmeidiges Raubtier wickelt seinen blanken Pelz aus dem Grau der Dämmerung heraus.
Es ist auch einer von den alten Feinden — ein guter Bekannter aus Strix’ jubelvollen Tagen! Obwohl Klein-Taa jetzt ein alter Marder geworden ist, ähnelt er noch immer seinem 151 Vater so aufs Haar, daß ihm eigentlich nur die gestutzte Rute fehlt.
Klein-Taa ist auf der Frühlingswanderung; auf der Suche nach einem Weibchen — sonst käme er nie in diese rauhe Gegend.
Der Marder ahnt die Eule nicht, er kriecht nur in Schutz vor dem Wasser. Hopp, hopp, geht es, hopp, hopp — ins Trockne hinein, am Eulenbaum entlang.
Stieg in Strix eine Erinnerung auf, als sie den Burschen sah? Bereute sie vielleicht erst jetzt eine ungenutzte Gelegenheit bei einer zufälligen Begegnung in einer dunklen Tanne? Oder ist nur das Wetter schuld daran?
Sie fährt auf die Waldkatze ein. Der Marder glaubt in dem ersten Augenblick der Überrumpelung, daß er einem Truthahn geradeswegs in die Arme läuft. Ein warmes Aufblitzen, eine Mischung von Freude und Überraschung über dies unerhörte Glück zuckt in den kleinen, listigen Lichtern des behenden Raubmörders auf — da pflanzt Strix ihre acht Fänge in seinen Hinterkörper.
Äh! knurrt der kleine Taa ... verdammter Irrtum! Und blitzschnell reißt er seinen kurzen, kräftigen Katzenschlund auf — Strix sieht wie in einer Sonnenuntergangsvision den roten, blutdampfenden Rachen und die weißen Zahnreihen. Eine drohende Wolke von wilder Bosheit senkt sich über die vorhin so glitzernden Pupillen des Marders; er legt die Lauscher zurück und windet sich mit einer Kraftanspannung plötzlich in eine kauernde Stellung.
Strix will sich das Tier mit ihren Fängen vom Leibe halten, aber Klein-Taa ist zu lang, ohne Anstrengung gelingt es ihm, 152 seine Vorderläufe in die Horneule hineinzuschlagen. Er umarmt Strix auf beiden Seiten des Brustbeins und bohrt in der Wut seines ganzen Schmerzes seine Nase und seinen Rachen in ihre Federn und ihr Fleisch.
Einen Augenblick ist Strix kurz davor, umzufallen.
Sie muß den einen Fang loslassen und in aller Eile die Flügelspitzen und den Stoß als Stützstäbe in die Erde bohren, aber der Marder geht mit der vollen Unbändigkeit seines ganzen Mordinstinktes drauflos.
Vergebens preßt Strix ihr zottiges Gesicht gegen seinen Nacken und läßt ihre scharfe Hakennase seinen Pelz lichten, vergebens schleudert sie ihm ihr Wolfsgeheul ins Ohr und begeifert ihn mit ihrem Auswurf: der aufgeregte Taa läßt sich nicht einschüchtern, es handelt sich um Leben oder Tod — Strix muß entweder weichen oder sich ergeben.
Strix, die noch unverletzt ist, weil ihr dichtdauniges Kleid und die langen, dicken Brustfedern bisher den Stachel von den leidenschaftlichen Bissen des Marders abgehalten haben, wählt das erstere und reißt sich mit einem Ruck von ihrem Gegner los. Aber der Marder hält fest und geht mit.
Da kommt ein Orkanstoß! Er schlägt plötzlich wie ein Vogel Greif nach Beute in die Waldestiefe hinab, fällt ein paar Bäume und erhascht einen Arm voll Laub. Strix breitet mechanisch die Flügel zur Flucht aus — und leicht wie ein Federball, den Marder in ihren Fängen, braust sie durch die Waldesgipfel empor. Sie hat das Glück, beim Aufflug, wo Klein-Taa endlich loslassen will, seinen langen, geschmeidigen Körper fest zu umklammern, ihre acht Krummdolche bohren sich in sein Fell hinein, gerade unter den Schulterblättern zwischen den Rippen.
153 Das wird eine seltsame Luftfahrt! Im Vergleich damit ist der Flug mit der Kreuzotter das reine Kinderspiel; der fauchende Sturm nimmt Strix mit ihrem bißchen Beute in seine mächtigen Klauen und streicht mit rasender Geschwindigkeit mit ihnen davon. Er spielt Fangball mit ihnen, wirbelt sie in großen Rutschbahnschleifen auf und nieder und nach den Seiten und rund herum. Strix hat alle ihre Kräfte nötig, um die Flügel gespannt zu halten.
Die wasserblanke Erde jagt wie auf flüchtigen Läufen des Rehbocks unter ihr dahin; sie sieht von Dukelheit umhüllte Baumwipfel auf sich zu eilen, im Nu unter ihr liegen und dann wieder davonschießen. Bald ist sie schwindelnd hoch in der Luft über ihnen, sie sieht weder Gestrüpp noch Hochwald oder die Lichtung der kahlen Stellen; bald ist sie den schaukelnden Kronenwölbungen so nahe, daß sie ihr Sturmgebraus und Zweigegeklapper hören kann — und es durchschaudert sie, trotzdem sie den Marder umklammert hält; sie kann ja nicht landen, das fühlt sie, nicht anhalten und die Flügel emporschwingen und im Winde rütteln; alles, was sie berührt, wird sie umrennen.
Da macht sie eine mächtige Bewegung mit den Flügeln und, obwohl ein Flug in die hohe Luft sonst nicht Sache der Eule ist, steigt und steigt sie — sie muß fort von der Anziehungskraft der Erde und der Sturmesgewalt, hoch hinauf, wo sie ungehindert gleiten kann, wenn auch in einer selbst für sie wahnsinnigen Eile.
Eindrücke und Empfindungen sausen durch ihr Gehirn; sie drängen sich auf, gewinnen Platz, werden beiseite gestoßen und gewinnen abermals Platz, und während alledem kämpft 154 sie — sie, der lebende Ballon — mit ihrem noch immer gleich mordlustigen Passagier in der Gondel.
Klein-Taa, dem schon gleich zu Anfang Strix’ Klauen durch die Eingeweide gedrungen sind, wühlt ununterbrochen in ihrer Brust und ihren Flanken herum, aber ihm fehlt eine Stütze für seinen Hinterkörper, seine Bisse gelangen nicht auf den Grund, er reißt ihr nur große Büschel Federn und Hautstreifen aus.
Strix ihrerseits arbeitet mit der ganzen Willenskraft des Selbsterhaltungstriebes. Zäh und ausdauernd klemmt sie die Horndolche tiefer und tiefer in die Seiten des Marders und zapft Blut aus seiner Brust, während sie vor Erregung und Anstrengung im Fluge schlingert.
Taa ist im Begriff zu ermatten. Er schnappt wild und blind im Irrsinn des Todes um sich, und seine kräftigen Hinterklauen, die wiederholt während der Fahrt Strix auf verhängnisvolle Weise gegen den Bauch gestoßen haben, fangen an, schlaff und leblos herabzuhängen.
Da benutzt Strix einen Augenblick, wo Klein-Taa, um Luft zu schöpfen und die kitzelnden Federn vom Maul zu entfernen, den Hals ausstreckt, und sie umfaßt mit ihrem scharfen Krummschnabel seine Kehle. Einen Bruchteil einer Sekunde schwindelt es sie — dann läßt sie plötzlich, zuerst mit den Fängen, dann mit dem Schnabel, los. Sie schleudert ihn von sich und gibt ihm noch einen Segen in Gestalt ihres kalkweißen Geschmeißes mit. In einem langgestreckten Bogen sieht sie seinen schwarzen Raubtierkörper, der sich rund um seine Rute herum dreht, durch die Luft Purzelbäume schlagen, bis ihn das Erdendunkel endlich verschlingt, und er in der Nacht verschwindet.
155 Im selben Nu erfaßt der Sturm Strix wie mit einem Kampfruck. Von ihrem Passagier befreit, ist sie einen Augenblick später hoch oben zwischen den Wolken; sie muß schleunigst ihre Flügelweite verringern, sich rund herumdrehen und, den Kopf gegen die Windrichtung, sich in langen, weitgedehnten Schleifen seitlich dahintreiben lassen. Naßkalte Sturmstöße fauchen ihr ins Gesicht und pflücken lose Daunen und Federn aus ihrem Kleide — dann ergießen sie sich in reißenden Regenströmen über sie.
Ermattet vom Kampfe und schwer von dem Regen, der sie niederzuschlagen droht, sucht sie schleunigst Schutz hinter dem ersten Hügelabhang, den sie antrifft. Jetzt, wo sie ein freier Vogel ist, hat sie keine Angst, dagegen zu rennen; sie hat ihre ganze Beweglichkeit wieder und landet glatt auf einem Fels im Talgrunde.
Sie ist entsetzlich zugerichtet.
Der eine Schenkel hängt in Fetzen, bis in die Fänge hinein schnurrt es darin; der Ständer versagt anfänglich dem Körper die Stütze. Von den langen Brustfedern, mit denen sie die Fänge zu wärmen pflegt, sind nur noch einzelne Daunen übrig geblieben, der übrige Teil der Brust besteht aus schweißenden Löchern und Rissen. Sie ist mürbe am ganzen Körper, im Nacken, in den Flügeln — und ihre mächtigen Fänge sind wie aus den Gelenken gezogen. Der große Knoten an ihrem linken Augenlid, den sie jahrelang mit sich herumgeschleppt hat, seit ihrem Kampf mit der Kreuzotter, ist fast zu Wallnußgröße angeschwollen und ragt über das Auge vor, so daß sie nur schlecht sehen kann. Jeder Fleck an ihrem Rumpf schreit nach Pflege und Säuberung.
156 Sie muß irgendwo in Ruhe und Einsamkeit sitzen — und sie hinkt davon, hinab nach einem Graben und verkriecht sich unter einer Brücke.
Ein großer Frosch, der, aus seinem Winterschlaf erwacht, auf dem Wege ins Freie ist, hat das Unglück, ihr geradeswegs in die Fänge zu laufen.
— — —
Der kalte Klumpen war ein Götterbissen für Strix, er wirkte wie ein Stück Eis in dem Mund eines armen, dürstenden, fieberkranken Patienten!