Die Luftfahrt mit dem Marder blieb Strix’ letzte Heldentat. Die Kämpfe des Lebens hatten sie allmählich arg mitgenommen.
Als sie wieder einigermaßen zu Kräften gekommen ist und ihre Wundflächen sich vernarbt haben, fliegt sie fort aus ihrem Schlupfwinkel unter der Brücke. Sie hat sich dort von einem Mondwechsel bis zum andern aufgehalten und Frieden gehabt, denn um diese Jahreszeit gab es ja keine Arbeit auf den Feldern.
Wochenlang fliegt sie herum und sucht — sucht nach großen Wäldern mit hohlen Bäumen, nach alten, leeren Eichen. Sie sucht nach Ruhe und Frieden, nach der großen Einsamkeit, die ihr Schreien ertragen kann, ohne sich zu entsetzen ... wo sich der Wald ohne Hilfe der Menschen verjüngt, wo die Sonnenstrahlen spielen und der Wind saust, wo niemand außer ihr sich in die Weltenordnung einmischt — da will sie sein, da will sie hin ...
Während sie so umherschweift, folgt sie, ohne es zu wissen, einem uralten Naturgesetz. Es liegt heimlich verborgen in dem Fluge ihrer Flügel wie in dem Bedürfnis ihres Herzens: sie fliegt im Kreise und landet in einer schönen Mitternacht in heimischen Gegenden.
Während ihrer Luftfahrt mit Klein-Taa hat sie in einem einzigen 158 Fluge eine Wegeslänge zurückgelegt, zu der sie in früheren Zeiten Jahre und Tage gebraucht hat. Sie ist über den Westerwald dahingeflogen und über seine jetzt so kultivierten Sümpfe und Moore; sie ist über ihre einstmals so große Heide geflogen, die jetzt zum größten Teil umgepflügt und bepflanzt ist. Der Hügelabhang, hinter dem sie in der Nacht landete, liegt nicht weit von dem verfallenen, von Ratten wimmelnden Torfschuppen, und der Wald, in den sie jetzt Einkehr hält, ist — wilder Wald.
Aber sie kennt ihren großen wilden Wald nicht wieder!
Dort, wo noch vor zwei Jahrzehnten, als sie in der hohlen Buche auf der Hügelkette vor dem Waldsee wohnte, alte, herrlich dichte Tannen wuchsen, wo es selbst an glühenden Sommertagen dunkel und kühl war, ragen jetzt lange, gestengelte Stöcke in die Höhe. Und da ist immer Spektakel! Die Menschen treiben sich dort herum und hauen weg, so daß nur die steifsten von den Stöcken übrig bleiben.
Der neue Wald sieht aus wie hohes Gras.
Und treiben die Menschen sich dort nicht herum, so zerrt der Wind fast immer an den Wipfeln; die Bäume ihrer Kindheit standen frei und offen, sie konnten sich, ohne einander zu hindern, wiegen und biegen.
Und nun die alten Riesen mit den vielen Knorren, Narben und Löchern, die sie Bäume zu nennen pflegte und nicht Gras — die sind weg. Die Axt hat sie wohl genommen, lange bevor der Sturm sie hat holen mögen.
In einer kleinen, krummen, dichtkronigen Buche läßt sie sich nieder!
Es ist eine Krüppel-Buche — einigen Bäumen ergeht es nämlich 159 wie einigen Menschen: je mehr sie in Regelmäßigkeit und Schemaform hineingezwängt werden, um so mehr kommen sie mit der Neigung zum Ausschreiten zur Welt. Sie werden sonderlich — und wollen nicht gut tun! Viel von dem Samen, den die langaufgeschossenen, hochkultivierten Buchen um sich werfen, und den sie von Winden und Vögeln über das umliegende Land hinaustragen lassen, artet nicht im geringsten nach seinem Ursprung. Der Nachwuchs wird krumm und buckelig, treibt Zweige in rechten Winkeln und bildet, wenn er Erlaubnis erhält, lange genug zu stehen, die wunderlichsten Labyrinthe aus seiner Kronenwölbung. Die Forstleute haben geradezu neue Namen für diese Sonderlinge; sie nennen sie Krüppel.
In der dichtverfilzten Zweigkrone einer solchen Krüppelbuche haust Strix fast einen ganzen Monat.
Aber was hilft es ihr, daß sie endlich Häusung gefunden hat — Tagesruhe und Waldesfrieden hat sie nicht gefunden.
In alten Zeiten waren Tagesruhe und Waldesfrieden so sicher wie die Sonne am Himmel. Wenn sie damals aus ihrem Mittagsschlummer in dem hohlen Baumstamm erwachte, hatte sie nur den Gesang der Jahreszeit im Walde gehört: im Winter den Sturm und das Sieden und Brausen. Im Herbst den Regen und den Tropfenfall und das Plätschern. Im Frühling das Bersten der Knospenschalen und das Glucksen und Saugen des Holzsaftes aus Wurzel und Faser.
Und im Sommer hatte sie damals nur das Zittern der Blätter, das Summen der Insekten, den Diskant der Mönchgrasmücke und das Gurren der Holztaube gehört, alles das, was naturgemäß mit zu dem Waldfrieden gehörte und gleichsam die Stille verdoppelte.
160 Jetzt dahingegen — nein, sie gewöhnt sich niemals daran, sondern fährt jede zweite, dritte Minute auf: Ein Wagen nach dem andern kommt dahergerollt, Rufen und Rennen von Menschen ertönt; dann bellt ein Hund, ein Schuß knallt; das Gellen von Pfiffen erschallt und das aufgeschreckte Gebrüll von Waldhörnern. Der Wald hat sich verändert; der neue Wald hat andere Gewohnheiten als der alte — und die sind ihrem Wesen und ihrer Natur ganz zuwider.
So muß sie denn weiter, — nach nur ein paar Monaten! Sie muß den Kreis schließen und die letzte Strecke der weiten, starkgebogenen Kurve zurücklegen, in der sie seit ihren frühesten Tagen vorwärts getrieben wurde.
Gewandert ist sie auf ihre Weise — und nun geschieht es, daß der Instinkt und die neuen Verhältnisse in den Gegenden, aus denen sie kommt, sie nach den großen Fördenwäldern zurückziehen, wo sie einstmals gebrütet hat, und wo sie vor bald achtzig Jahren das Licht der Welt erblickte.
Der große Eichenstumpf, unter dem sie ihren Horst gehabt und ihr erstes Gelege Junge mit Uf ausgebrütet hat, ist nicht mehr da, und alles, was dunkel und urwäldlich war, — was sie schön genannt hat — ist weg ... nur draußen in einer Einöde, in einem sumpfigen, tiefgelegenen Winkel, den die Menschen jetzt die Urwaldecke nennen, stehen auf einigen kleinen Inseln in einem schlammigen, noch unentwässerten Waldmoor ein paar alte, geschonte Rieseneichen.
Jahrhunderte und Jahrhunderte sind über die Eichen dahingegangen! Winter auf Winter, Frühling auf Frühling haben sie erlebt, haben sie genossen. Sie kennen den Himmel in Frostkälte 161 mit Schneegestöber, in Lenzesblau mit Schneewolken, in Sommersonne und Herbstnebel; sie kennen Edelhirsch und Wildsau, Wolf und Bär — und sie kennen den Menschen!
Aus dem Baumgewimmel des Urwaldes, aus seinem Chaos von Alt und Jung, Heimgegangenem und Neuem sind sie herausgestiegen, haben sie sich emporgelitten, emporgetrotzt und sich den Platz erkämpft, auf dem sie stehen. Vor hunderten und aber hunderten von Jahren haben sie geblüht und die Wonne der Bestäubung genossen; vor hunderten und aber hunderten von Jahren haben sie schwere, langapfelige Früchte um sich gestreut. Sie haben Generationen von Tieren und Generationen von Vögeln gefüttert, haben das Sonnenlicht von über tausenden von Jahren umgesetzt. Jetzt verebbt das Leben in ihnen, sie sollen der Erde zurückgeben, was sie einstmals empfangen haben.
Auf ein paar alten Bildern an der Wand des Forsthauses steht eine jede von ihnen wie ein einsam aufragender Turm. Die Photographien sind vor fast einem Menschenalter aufgenommen, als der Tannenwald auf den Hügeln rings um sie her nur eine kleine Anpflanzung war. Kein jetzt lebender Forstbeamter entsinnt sich der alten Eichen als Waldkönige zwischen Tannenzwergen stehend. Nur Strix sieht noch heutigen Tages immer das stolze Bild. Da ist sie Nacht für Nacht über den kleinen Tannen hingeschwebt und hat manch einen jungen Hasen, manch ein Rehkitz geschlagen, und Amseln hat sie zu hunderten genommen.
Die eine von den Eichen — die älteste — ist überall geborsten und gerissen, und es sind große Stücke aus ihrem Stamm gefallen. Man hat Liebhaberaufnahmen, wo ein Reiter zu Pferd 162 in der Eiche hält! Um sie zu bewahren, ist ihre Rinde in Eisenringe eingeschlossen und es sind starke Stützen unter ihre Äste gestellt. So geborsten und zerrissen ist sie, daß die Leute gar nicht mehr glauben wollen, daß es ein Baum mit einem Stamm gewesen ist. Nein, den Ärger muß sie nun erdulden, daß kluge Köpfe unter den Forsteleven behaupten, es sei ursprünglich ein ganzes Bündel von Eichen gewesen, deren Stämme dann allmählich zusammengewachsen seien.
Die andere Eiche, die am weitesten draußen im Moore steht, umgeben von dem Geflecht des Geisblatts und dem dichten Wald der Adlerfarnen, hat noch ihre ganze äußere Rinde bewahrt. So mächtig ist ihr Stamm, daß zehn Personen erforderlich sind, um ihn zu umspannen und ihre dicken, knorrigen Wurzeln greifen so weit um sich, daß ein vierspänniger Wagen im Kreise um sie herumfahren könnte. Es ist ein Anblick aus der Vergangenheit!
Wer sich allmählich durch das Gestrüpp hindurchgearbeitet hat, und nun plötzlich der Eiche von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, stutzt ganz benommen: das ist doch endlich einmal ein Baum, den ein paar moderne Holzhauer nicht in einem Tage zu bewältigen vermögen!
Nur ganz oben, wo ein Ast abgeweht ist, hat das Alter eingesetzt. Hier ist die Rinde abgefallen, und ein großes Loch klafft aus der nackten Holzschale heraus.
Durch dies Loch fliegt Strix eines Abends hinein und läßt sich auf den Boden des hohlen Stammes fallen. Hier sitzt sie den Winter hindurch — sitzt warm und dunkel zwischen Spinnengeweben und Wurmlöchern, ohne andre Gesellschaft als ein paar Frostschmetterlinge und eine große Hummel im Winterschlaf.
163 Als der Frühling kommt, fliegt eine ungenierte Kohlmeisenfamilie in den Baum hinein und läßt sich häuslich nieder in dem faulen Holz über ihr. Das Nest, das ganz unten in einem langen und engen Loch ist, birgt fast eine ganze Stiege Eier!
Und dann, eines Morgens, als Strix von der nächtlichen Jagd heimkehrt, sieht sie auf dem Grunde der hohlen Eiche zwischen ihren großen Gewöllklößen die letzten traurigen Überreste des Meisenweibchens liegen. Der kleine Vogel hat offenbar ein tragisches Ende genommen.
Aber noch am Abend desselben Tages stellt sich der Meisenvater mit einem neuen Weibchen ein, das ganz ruhig das Eierlegen in dem Nest der ersten Frau fortsetzt. Längst hat der arme Mann die Stiege voll, aber das Ende ist noch nicht abzusehen, das kann die alte, welterfahrene Eule hören.
Dies schreckliche Rumoren ist Strix ein wenig unbehaglich, und als das Meisenpaar erst Junge bekommt, ganze einundzwanzig, da wird das Geschrei und Gepiepse fast unerträglich. Mehrmals versucht Strix, all das schreiende Leben mit den Fängen herauszuziehen — es ist ja doch Nahrung und sie ist gleich zur Hand. Aber ihre Fänge sind nicht mehr kräftig und nicht mehr geschmeidig genug, namentlich wollen die großen Horndolche sich nicht mehr in Winkel biegen lassen.
So gewöhnt sie sich denn an den Spektakel ... etwas Gemütliches hat dies Lärmen trotz alledem! Es bringt Abwechslung, es bringt Leben — und sie entbehrt es sehr, als die Meisenkinder eines schönen Tages erwachsen sind und sich auf und davon machen.
164 Strix altert jetzt. Und wie bei allen Raubvögeln meldet sich das Alter ungestüm und plötzlich.
Ihre starken geschmeidigen Flügel fangen an, steif zu werden, ihre Fänge sind abgenutzt und sie greift fehl. Auch ihr Sehvermögen ist nicht mehr wie in alten Zeiten, wo sie in der Dämmerung des Zwielichts die Motte am Stamm erkennen konnte.
So ist ihr kürzlich ein wahrer Skandal passiert — sie hält einen großen Auswuchs an einem Stamm für einen Vogel!
Der Auswuchs ist ein Wespennest, aber im Blendwerk des Mondlichts und zwischen dem Maskenspiel der Blätter wird es zu einem Birkhahn.
Es ist lange, sehr lange her, seit die alte Strix Birkhahn gekostet hat, und es hungert sie förmlich danach, wieder einmal einen ordentlichen Bissen zu bekommen. Sie entsinnt sich ihres früher so glücklichen Verfahrens, setzt volle Fahrt auf und — schlägt mit allen ihren acht Fängen in eine wunderlich schwammige Zundermasse. Sie hat sich geirrt, das merkt sie, denn dies Wesen ist ja kein Wesen ihrer Natur; es schreit nicht, es summt — und die Daunen, die sie losreißt, sind lebendig und stechen.
Für einen Wespenbussard würde diese Begebenheit ein wahrer Götterbissen gewesen sein; der Vogel würde die Waben geschätzt haben, er hätte es verstanden, jede Hornisse aus ihrer Federbekleidung herauszuschälen. Strix dahingegen wird nur gequält und zerstochen, obwohl sie nicht zaudert, die Flucht zu ergreifen.
Mehrere Tage lang ist sie hiernach in ihrem hohlen Baum sitzen geblieben und hat über ihr Schicksal gejammert; sie 165 begreift nicht, warum das Glück sie so plötzlich im Stich läßt ...
Bisher war ja alles, was mit dem Beschaffen der Nahrung zusammenhing, so selbstverständlich für Strix gegangen! Sie hatte immer fangen können und selbst aus ungleichem Kampf immer den Sieg davongetragen. Sie hatte sich aus schwierigen Lagen erretten, hatte Schutz und Versteck finden können, kurz, das Leben war trotz allen Streites und aller Widerwärtigkeiten leicht für sie gewesen.
Sie wird ganz melancholisch!
Und während der Sommer fortschreitet und die Ernte herannaht, macht das Alter mehr und mehr sein Recht geltend.
Die ehemals so selbstverständlichen kleinen Glückszufälle werden zu ebenso selbstverständlichen kleinen Unglücksfällen; sie fliegt immer häufiger in der Dunkelheit irre; bekommt Schläge von den Zweigen ins Auge und stößt die Flügel und den Kopf gegen Äste und Baumstümpfe. Eines Abends auf der Jagd verwickelt sie sich — bei den wütenden Anstrengungen, ein Moorschwein zu fangen — in ein niedriges Eisengespinst, das die großen zweibeinigen Spinnen um eine Anpflanzung gezogen haben. Um ein Haar hätte sie ihr Leben dabei eingebüßt.
Die Arbeit der Nacht wird schwer für sie; sie geht ihr nicht mehr wie ein Spiel von der Hand, sondern verursacht ihr große Anstrengungen und tausende von Qualen.
Das alles altert sie; sie büßt mehr und mehr von dem ein, was wir Menschen Lebenskraft nennen: Mut und gute Laune.
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Es wird wieder Winter — und Strix hat sehr zu leiden. 166 Namentlich peinigen ihre Erbfeinde — die Krähen und Elstern — sie schrecklich.
Eines Tages wird sie von einer ganzen Schar Elstern entdeckt; es sind ihrer zwölf — zwei ganze Familien — Hauskrähen, mit langen Schwänzen und mit Weiß an den Flügeln, ihre Federn glänzen wie metall; sie sind eingebildet und sagen, daß sie, wenn sie fliegen, sehr wohl mit Fasanenhähnen verwechselt werden können. Sie foppen die Alte, ziehen sie auf. Sie sitzt da, verzweifelt vor Wut, und schneidet Gesichter.
Aber was soll sie tun? Mit ihrem Sehvermögen ist es schlecht bestellt, namentlich am hellen Tage, und sie kann nicht mehr, wie in ihren jungen Tagen, herausfahren und eine mit jedem Fang fassen und sie mit sich in den hohlen Baum schleppen. Sie muß den Hohn leiden und die Qual aushalten. Aber allein das Bewußtsein davon macht sie noch hinfälliger.
Es ist unter den Tieren nicht wie unter den Menschen. Unter den Tieren muß ein jeder für sich selbst sorgen, und nur selten hilft eins dem andern beim Fang, wenn die Fänge abgegriffen und die scharfen Zahnränder oder Schneiden zu Zahnfleisch werden. Daher kommen auch in diesem Winter für Strix Zeiten wo sie Aas fressen und noch dankbar dafür sein muß.
In ihrem langen Leben hat sie reichlich Gelegenheit gehabt, das nächtliche Leben der Raubtiere aus der Nähe zu beobachten und ihr Tun und Lassen zu erspähen.
Sie sieht die Füchse in großem Umfang ihre verschiedenen Speisekammern rings umher im Erdboden versorgen. Die Kerle machen es gerade so wie der Hund, sie vergraben alles, was sie nicht auf einmal fressen können. Rings umher in den Mooren, unter Grasbüscheln und in verlassenen Ameisenhaufen 167 verstecken sie ihren Raub — und finden ihn mit Sicherheit selbst nach Verlauf langer Zeiten wieder.
So legt sich denn Strix darauf, ihnen ihren Wechsel abzulauern und die Gelegenheit wahrzunehmen, in ungestörter Ruhe sich die Niederlagen zunutze zu machen. Aber das Leichengift des Aases ist keine stärkende Medizin — sie wird schwach und altert in beständig zunehmendem Grade.
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Strix hat jetzt die längste Zeit gelebt.
Sie hat alle Qualen des Lebens erduldet —
Der Nachtfrost und der Lenzschnee löschten den Lebensfunken in ihrem ersten Gelege Eier und sie hat mehr als einmal auf verfaulten Eierschalen gesessen; einige spätausgefallene Junge, die nicht flügge waren, als der Winter kam, sind eingegangen, und wo sind die wenigen glücklichen, die lebten, abgeblieben?
Sie hat sich nie stark vermehrt und die Welt mit dem Abklatsch ihres eigenen Ichs belästigt. Andere Vögel brüteten zweimal im Jahre und setzten jedesmal vier, sechs, acht, ja, zehn Kinder in die Welt; sie war mäßig gewesen und hatte sich stets mit nur zweien begnügt.
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Der Winter geht seinen Gang. Er wird hart werden in diesem Jahr, und Strix leidet Not — schlimmer denn je.
Sie streift nicht mehr umher, macht nicht einmal mehr kleine Ausflüge; sie hat keine Kräfte dazu und fühlt auch nicht das Bedürfnis. Sie bleibt lieber in der Urwaldecke und hungert.
Wenn dann der Novembersturm pfeift und die Schneeflocken um ihr Haus da draußen wirbeln, wenn es so schneidend kalt ist, daß Larve und Wurm im Holz um sie her in Ruhe frieren 168 und nicht den leisesten Laut mehr telegraphieren — dann schließt sie die Augen und sitzt in sich versunken da, während sie den dänischen Frühling vor sich sieht.
Die Weiden stehen gelb von aufgebrochenen Kätzchen, und Schwärme von lenzdurstigen Bienen fliegen hin und her, während ein warmer und wachstumverheißender Erdbrodem aus dem Boden aufsteigt. Die Schnecken sind draußen, und mitten im Sonnenschein zwischen den grünen Wildkerbelbüschen thront eine große, leckere Kröte. Sie sitzt da und verzehrt Mücken, die sie in einem dichten Schwarm umtanzen. Jedesmal, wenn sie mit Blitzesgeschwindigkeit die Zunge herausgeschnellt und sie wieder hineingezogen hat, zwinkert sie wohlbefriedigt mit den Augen.
Strix will sich über sie stürzen; die Kröte ist ja nun bald derjenige von den „Schnelläufern“, mit dem sie am besten fertig werden kann — da erwacht sie zu der nüchternen Wirklichkeit, indem sie mit dem Kopf gegen den hohlen Baumstamm stößt.
Ja, Strix war alt geworden, uralt — und das war gerade der Segen beim Altwerden, daß man die Fähigkeit erhielt, in sich hineinzusehen und die Bilder hervorzurufen, die man zu Dutzenden und Aberdutzenden von Malen in einem langen Leben gesehen hatte. Man schwelgte in den Erfahrungen, man sah den Wechsel der Natur zu jeder Zeit im Strahlenglanz der Erinnerung vor sich.
Wenn nichts weiter, so konnte man sich ja daran erwärmen!
Aber sehnen tat sich Strix doch — sie sehnte sich, sehnte sich — sie konnte sich nur nicht klar darüber werden, wonach. Es lag wie ein beständiger Druck dadrinnen, wo das, was man Hoffnung und Glauben nennt, Wohnung hat ...
169 Sie sehnte sich nach dem, was nicht mehr war, nach dem Unberührten, Großzügigen in der Natur ihrer Heimat, oder nach den alten, guten, traulichen Zeiten, als Einsamkeit im Walde war, wo sie Aussicht auf die Heide, auf Wild und Fauna hatte und nicht einzig und allein auf Menschen und wieder Menschen.
Sie sehnte sich nach dem in der nordischen Natur, womit ihre eigene Natur so innig verknüpft war: nach dem Trotzigen, dem Unnachgiebigen. Jetzt hatten die Menschen alles auf den Kopf gestellt, und Wege und Eisenbahnen, Anpflanzungen und Kornäcker überall hingebracht, wo früher Wildnis herrschte. Sie hatten die Wälder aus ihrem Naturzustande in beschnittene Gärten verwandelt und all das ursprüngliche Tierleben aus ihnen vertrieben; sie hatten die Natur zahm gemacht, sie pflügten sie um und eggten sie, sie bestellten sie und klecksten ein Haus neben dem andern auf. Als einzige Erscheinung hatte sie, und nur sie, und dann die beiden alten Eichen den Untergang all des Freien überstanden; sie spürte es jetzt in ihren alten Jahren mehr denn je an sich, daß sie heimatlos und verfolgt war, und daß sie es ihr ganzes Leben gewesen war.
Deswegen klagte sie so oft, daß es gleichsam wie ein Unwetterschaudern durch die Umgegend ging, deswegen lag etwas unerklärlich Unheimliches in ihrem einsamen nächtlichen Heulen.