Am Auslauf der Förde, wo der Sturm freien Zutritt hatte und wo das Meer schäumte, stand meilenweit ein eigenartiger Streif von Bäumen.
Sie waren zum größten Teil im Laufe der Zeiten von selber gekommen.
Die Vögel hatten sie gesäet und die Tiere hatten sie gepflanzt ... wenn Fuchs und Dachs nach Mäusen stachen, wenn das umherziehende Rehwild nach Dornenbeeren scharrte, hatten die Tiere unbewußt Bäume in die Erde gepflanzt. Sie hatten Eicheln und Bucheckern und Nüsse von der Haselstaude gelegt, sie hatten Ebereschen gepflanzt und das großblumige Geißblatt.
Ganz unten am Rande des Strandes zwischen dem Sand und den Steinen waren die Bäume so winzig klein, daß sie den Namen „Baum“ kaum verdienten. Dann stiegen sie an Höhe, je weiter landeinwärts man kam.
Aber mehr als zweimal Manneshöhe erreichte kein Baum. Selbst einen halben Kilometer weiter hinauf und mit einem halben Kilometer schutzgebenden Schirmes vor sich, erhielt kein Gipfeltrieb Erlaubnis, die einmal festgesetzte Höchstleistung zu überschreiten; der Sturm von der See her war eine Riesenschere, die beständig schnitt und schnitt ...
Gleich einem sanftabfallenden Halbdach über einem offenen 131 Schuppen senkte sich die ganze Kronendecke nach der See hinab und tauchte den Rand des Daches in Gischt und Schaum. Ein eigenartiges Dach über einem eigenartigen, mit Schlackerwetter angefüllten Schuppen — und doch, wenn man aus See kam und sich zwischen dem Baumgewimmel barg, hatte man ein Gefühl von Wohlbefinden und Traulichkeit, als sei man zu Hause angelangt.
Bei ruhigem Wetter war es so still hier im Strandwald — da kehrte der Paradiesesfriede wieder. Aber bei Sturm und Regenschauern lärmte diese ganze, erwachsene Baumwelt häßlich, sie schrie und stöhnte und schuf die unheimlichsten Laute. Da bebte meilenlang das sturmgestutzte Halbdach, das Wetter legte sich darauf wie ein grober Gesell und versuchte, ob es nicht in den Schuppen hinabgelangen könne.
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Hier hinaus kommt an einem frühen Morgen im Herbst der alte Sonderling, die Eule.
Der Weißdorn steht mit Fleischbeeren da und die Schlehe mit blauschwarzen, kugelrunden Früchten, die Ameisen suchen einen Haufen, und die Wildgänse schmettern mit scharfen, gellenden Schreien eine Fanfare in die Luft über ihrem Kopfe. Sie findet ein Haus zwischen einem Haufen großer Steine mitten in der dichtesten Schlehenfestung.
Hier sitzt Strix, während das Laub von den Bäumen fällt, und spürt, wie es um ihr Haus herum wimmelt von Zügen und abermals Zügen stummer, reisender kleiner Vögel: Laubsänger, Rotkehlchen, Drosseln und dem lieben, leckeren Krammetsvogel, und sie hört den gehetzten Hirsch leise knöhrend umhertrollen und mit seinem Geweih an die Außenwerke ihrer 132 Festung schlagen. Uhm, uhm, grunzt er, wenn er umgeben von ein paar Stücken Kahlwild sich seines Daseins freut; häßlich aber ertönt sein Röhren, wenn er, von den Schleiern des Morgennebels verborgen, sich erkühnt, seinen schallenden Brunstruf auszustoßen.
An den rauhen Novemberabenden, wenn die Meerestiefe grau da liegt und die Wellen in langen, weißen Grundstrichen in die Föhrde hineinjagen, wenn der Horizont Regen verkündet, und der aufgehende Mond mit seinem roten Segel kaum Erlaubnis erhält, hervorzuscheinen, verfolgt sie von ihrem Versteck aus den Zug der Tausenden von Wildenten. Gleich schwarzen Klumpen mit langen Hälsen, steigen sie Schof auf Schof über dem Walde auf, um landeinwärts zu eilen und sich in den Mooren und Sümpfen des Hinterlandes zu bergen. Und sie sieht die Möwen sich in großen Schwärmen vom Meer hereinwiegen und sich im Schutz hinter den Steinen des Strandes schwerfällig zur Ruhe setzen. Da schlägt sie an manch einem Abend eine fette Stockente oder eine wurmgespickte Möwe ... derartig hat sich der Freßsack angefüllt, daß ihm die Regenwürmer lang aus dem Halse heraushängen!
Und hier sitzt sie in den Wintertagen bei Schneegestöber und hört das Meer unter sich tosen und lärmen. Sie fühlt sich sonderbar ergriffen von dem Laut. Es liegt, so scheint es ihr, ein eigenartiges Waldessausen darin, und hohle, tiefe Töne, wie von ihrer eigenen Stimme.
Die dänischen Wälder sind arm an Uhus geworden; Strix’ eigene Art ist dahin, ebenso die Großen ihrer Rasse: Hühnerhabicht, Wanderfalke und Weihe hört sie kaum je mehr — sie weiß nur noch von Meeresbrausen und Waldessausen wie von einem Wesen ihrer Art. —
133 Sie muß es sich so recht traulich machen, die wunderliche, menschenscheue Eule, wenn sie hier aus der Tiefe ihres steingewölbten Hauses heraus altklug mit Meer und Wald plaudert.
Das Meer, das Meer ...
Es kamen Tage, wo das Meer in Aufruhr stand, wo das sturmgepeitschte Wasser von ihm aufstob wie Schneetreiben von einem Felde und Staub von einer Landstraße. Da trieb es die verschiedenartigsten Wracks an Land: Boote und Treppen, Pfähle und Kisten, alles bunt durcheinander, mehr oder weniger zersplittert. Da schwemmte es auch seinen frischen, seegrünen Tang an ... das Meer erntete, mähte selbst den Ertrag seines Bodens und trug ihn, Fuder auf Fuder, längs der Küsten und Ufer heim. Hier lag es am Strande in Haufen und Schobern und bildete neue Welten mit Einfahrten, Förden und Buchten.
Weit draußen am Horizont, unter einem düstern Chaos von Wolken und Regen richtete sich eine Welle nach der andern empor, man sah eine graugrüne Mauer, die in einem Nu mit schäumendem Weiß überpinselt wurde. Dann trat eine Verwandlung ein: die Mauer wurde zu einem Bergrücken, wild und zerrissen schoben sich weißlich-gelbe Felszinnen turmhoch empor, und es stob von ihnen wie Schneewehen ... bis der Wasserberg plötzlich zusammenstürzte und unter lärmendem Gepolter und siedenden Wirbeln in die Tiefe versank.
Und neue Mauern richteten sich empor, und neue Bergrücken schossen auf ... sie tummelten sich feurig, die mächtigen Wogen. Dann veranstalteten sie einen Wettlauf an Land und hauchten mit einem Gekrach ihr Leben zwischen den Steinen aus. — — —
134 An solchen sturmerfüllten Tagen ... wenn die Abende kamen und die Ragnaroksage auf die Erde wiederkehrte, wenn die Finsternis jede Kreatur bedrückte, so daß sie zitterte ... dann tanzte Strix, während der Horizont flammte, mit Buckel und krummen Flügeln oben auf dem Kamm des Abhanges. Ihre wehenden Federbüsche sträubten sich, die Pupillen wurden groß und der Blick scharf und ätzend.
Aber in den Nächten, die auf solche Tage folgten, fuhr die Wildheit in sie. Sie tötete rücksichtslos, sie wußte nicht warum, sie tötete nur, tötete ... Die Enten, die im Tang lagen und ihren Leib versteckten, fest überzeugt, daß sie sie nicht sehen konnte, nahm sie zu Zweien auf einmal, eine in jeden Fang; sie machte Jagd auf die kleinen Goldammern, die sie sonst gar nicht anrührte, sie quälte ihre gefangenen Ratten, wie eine Katze, und zog jedem Stachelschwein die Haut bei lebendigem Leibe ab.
Und ununterbrochen füllte sie den Strandwald mit ihrem durchdringenden Geheul —: Ho—o! Hu—u! Ha—Ha—Ha!
Im Strandwalde erlebt Strix ihre mageren Jahre.
Die Gegend ist zu rauh, um irgendwelchen Überschuß an Wild zu bergen.
Sie nimmt nicht zu an Wohlbeleibtheit und muß namentlich im Winter alles in Betracht ziehen und auf Mäuse und Bussarde und eingefrorene Seevögel niederschlagen. Nur im Sommer, in der Brutzeit, füllt sie sich mächtig; die Möwenkolonien am Strande entlang müssen ihr erklecklichen Tribut zahlen; sie schnappt die Gössel der Wildgans und die Jungen des großen Sägetauchers weg, und manch ein rundlicher Dachswelpe, manch ein feister Jungfuchs geht in ihrem sackähnlichen Magen zu den seligen Jagdgefilden ein.
135 Sie lebt glücklich auf ihre Weise, in ihrer Einsamkeit, und genießt ihre Ruhe. Kein aufreizender Axthieb, kein polterndes Wagengerassel peinigt ihre Nerven ... nur das Rollen der Wellen und das Zirpen der Heuschrecke klingt um ihr dickichtumkränztes, sturmzerzaustes Haus.
Und dann eines Abends, als sie ausfliegt, scheint ihr aus weiter Ferne, oben von dem östlichen Ende einer Anpflanzung, ein ziegelgedecktes Dach in die Augen.
Es schießt aus einigen Tannenwipfeln auf wie ein feuerroter Fliegenpilz über grünem Moos ... die untergehende Sonne macht es erglühen und Funken sprühen.
Es ist ein Menschennest, das dort aufgeschossen ist — eine Villa!
Die Bahn ist eine Tatsache geworden. Aus der großen Provinzstadt am Ende der Förde geht sie durch den Westerwald bis hier hinaus an die Küste. Die Spekulation hat auch dies Ende des Landes erfaßt; man hat ein Auge auf den Strandwald geworfen, auf die Abhänge, die Aussicht und den guten Badestrand; eine große Genossenschaft hat den ganzen „Dreck“ gekauft und zerstückelt ihn jetzt in lange Streifen; jeder Streif erhält sein Stück Wald, sein Stück Strand, sein Stück Wasser ...
Die Einsamkeit verschwindet schneller als die Buchenblätter gebrauchen, um zu grünen und gelb zu werden; kleine überfüllte Dampfboote fangen an zu pfeifen und herumzuplätschern, kleine Hunde bellen, Wagen mit Müttern und Kindern kommen dahergehumpelt — und fast jeden zweiten Abend, wenn Strix aufwacht, ist ein neues, pilzähnliches Menschennest aufgeschossen.
136 Sie weicht und weicht, fliegt ein oder gar zwei lange Nachtflüge am Strande entlang, aber dann kann sie plötzlich nicht weiter kommen, sie ist hart an der Landspitze — am Meer.
Da draußen liegt der kleine Leuchtturm ...
An einem dunklen und späten Herbstabend ... die See tost, und die Bäume in dem letzten Streifen Strandwald klatschen die kahlen Zweige gegeneinander ... ist ein Fischerjunge aus dem kleinen Dorf draußen an der Landspitze, auf der der Leuchtturm liegt, auf dem Heimwege begriffen.
Der Junge folgt dem Pfade auf dem Abhang oben am Waldessaum entlang und sieht ängstlich in die Finsternis hinein, die dick zwischen den Stämmen liegt.
Da hört er auf einmal ein wunderliches Hallo an sich vorübersausen und weiter durch den Strandwald jagen ...
Es durchschauert ihn eisig. Mit offenem Munde und pochendem Herzen bleibt er stehen.
Einen Augenblick später ist das Hallo wieder da!
Er glaubt, Pferdegetrappel und ein gewaltiges Bellen und Kläffen von Hunden zu vernehmen — und er schlägt die Hände kreuzweise vor die Brust. Ob dies wohl das ist, was Großvater Pibe „König Waldemars wilde Jagd“ nennt?
Die Haare sträuben sich ihm auf dem Kopf, er will davonrennen, da fällt ihm ein, daß das ja das Schlimmste ist, was er tun kann. Er muß nur gehen, gehen — und er eilt dahin, mit hastigen Schritten.
Am nächsten Tage sprach das ganze Dorf von dem Erlebnis des Jungen!
Auf der Bank unter dem kleinen Leuchtturm, wo die alten 137 Seebären bei Sonnenuntergang zusammen kamen und ein Garn spannen, hörte der Leuchtturmwärter eines Abends, daß von Spuk geredet wurde.
— Wo ist der Spuk? — fragte „Vogel“.
Ja, es war hier ganz in der Nähe des Strandwaldes. Kristian Lars’ Sohn, erzählte einer der Fischer, hatte es gehört, und nun vorgestern hatte auch er es gehört. Es war ein eklicher Kram; es heulte und miaute und bellte und kläffte und röchelte wie ein sterbender Mensch. Der alte Niels Pibe, der ja nun nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte, behauptete, es wäre „König Waldemars wilde Jagd“; er sagte, solche nächtliche Jagd habe er, als er ein Junge gewesen war, fast in allen Fördenwäldern gehört, nur viel schlimmer. Da jagte der König mit großem Gefolge und vielen Hunden; jetzt habe sich die Teufelsmusik wohl vermindert.
— Daran sind gewiß die vielen Kirchen Schuld —, fügte der Erzähler gottesfürchtig hinzu.
Der Leuchtturmwärter spitzte die Ohren.
Aus seiner Kindheit draußen im Waldwärterhause dicht vor den Hochwäldern war er gar wohl bekannt mit der Musik des großen Uhus ... sollte es möglich sein, dachte er, lebte wirklich noch eine von den großen Bubos, und zwar so nahe an seinem Gebiet! Das mußte ein Zugvogel sein, einer aus dem nördlichen Skandinavien, der auf seiner Winterreise hierher verschlagen war ...
Und Vogelhansens alte Leidenschaft stieg mit einem Brausen in ihm auf ...
Im nächsten Augenblick gaukelte er sich vor, daß, wenn da ein Vogel sei, auch zweie da sein müßten ... es erging dem 138 großen Uhu wohl so, wie man sich von der Bekassine erzählte, daß sie nie allein liegt. Dann konnte er am Ende wieder ein Gelege Eier bekommen oder eine Brut Junge fangen; alles Einheimische von der Art stand jetzt fabelhaft hoch im Preise!
Es erging ihm fast so wie der Frau mit dem Milchtopf, aber dann besann er sich — nun, er mußte ja erst einmal sehen!
Eine Eule mußte auf alle Fälle da sein — und wenn die nur da war, hatte er auch sichere Hoffnung auf einen guten Gewinst. Der große Uhu war immer zu verkaufen, wenn man ihn nur, tot oder lebend, in Händen hatte.
Der kleine Leuchtturmwärter hatte sich freilich Zeit seines Lebens Jäger genannt, aber es war nicht mehr vom Jäger in ihm als auf dem Rücken einer Hand Platz hat. Er war „Schießer“ schlecht und recht, er schoß nur für den Kochtopf und für die Tasche — und am liebsten für die letztere! Denn das, was da hinein kam, konnte verkauft und in geliebtes Geld umgesetzt werden!
Er war ein Aasjäger, wie er sein Leben lang ein Nesträuber gewesen war; aber den Trost hatte er, daß leidenschaftliche Sammler und andre brave Männer, die Schulen und Museen mit Vertretern der Fauna des Landes versorgten, sein Treiben in Briefen oft eine „sehr gemeinnützige Tat“ genannt hatten.
Nun war er bejahrt und nicht mehr imstande, in eine Buche hinauf zu klettern; aber das konnte auch einerlei sein, es gab nichts mehr, was sich des Hinaufkletterns verlohnte. Schon seit Jahr und Tag hatten ihn die Verhältnisse gezwungen, damit aufzuhören.
139 Um so eifriger brauchte er nun die Flinte! Die Flinte war der lange Arm, womit er noch etwas an sich raffen und einem steifen Rücken und einem stocklahmen Bein abhelfen konnte.
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Und die Flinte wurde an diesem Abend von ihrem Platze über dem Herde heruntergenommen, wo sie sonst immer bereit lag, um gegen die vorüberstreichenden Möwen verwendet zu werden — er hatte die alleinige Lieferung von Möwen für eine Modewarenhandlung — und mit großem, grobem Schrot klar gemacht.
Tag für Tag schlich er in seiner Freizeit im Strandwalde herum. Er durchwanderte ihn die Kreuz und die Quer, ja, er ging ganz bis an den Badeort hinunter und frech durch alle Gärten der jetzt mit geschlossenen Läden daliegenden Sommervillen. Aber er konnte nichts von dem großen Uhu entdecken außer einer vereinzelten braunen Feder.
Diese Feder genügte ihm jedoch; nun wußte er, daß der Vogel wirklich vorhanden war.
Strix saß in einem Fuchsbau tief unter der Erde, da war es ja kein Wunder, daß der Leuchtturmwärter jedesmal vergebens ging.
Er ruhte jedoch nicht: er blieb seiner Natur und seinem Wahlspruch getreu: — niemals etwas aufgeben, ehe du nicht die Beute im Kasten hast!
Es dämmert eines Abends ...
Die Farben entweichen von der Erde und steigen zum Himmel empor; der wird im Westen rotglühend und schwefelgelb.
Die Steine am Strande entlang, alle die weißen, alle die 140 grauen, die roten Taschenkrebsschalen, wie die blauen Muscheln, verschwinden für das Auge und werden zu einem dicken, wolligen Streif.
Und der Streifen zerbröckelt gleichsam, wird zu Sand, zu schwarzer Erde — die Dämmerung nimmt auch ihn.
Nur der kleine Leuchtturm draußen auf der Landzunge bleibt übrig.
Über die See weht ein wahrer Orkan aus Westnordwest ...
Düstre schwarze Wolfen, wild zerfetzt an den Rändern, jagen über den Horizont. Sie kämpfen mit funkensprühenden Feuerschlangen, die sich um ihren Rücken geschlungen haben, so daß rings umher in der Luft blutige Risse klaffen.
Das Meer tost und schäumt ... sein Brausen ist in den Strandwald gefahren, der siedet und brodelt, er kocht vom äußersten Rande bis ins innerste Dickicht. In seiner dicht verfilzten Kronenwölbung gehen tiefe, mächtige Windwellen, die vom Wipfelast bis ganz hinab zur Wurzel reichen.
Der Sturm treibt selbst mit den innersten Bäumen Kurzweil; er knechtet sie, die verwachsenen, kaum zwei Mann hohen Baumkrüppel, so daß die wilden Schüsse des Unterwaldes sich vor Wonne schütteln, wenn sie hören, wie schwer die großen Baume kämpfen müssen.
Man krümmt den Rücken da oben an Land! Steht demütig da und dienert, wo es sonst gilt, den besten Platz an der Sonne zu erhaschen; man schmeißt Äste, Zweige und die letzten lieben Blätter ab — und ist froh, wenn man nur damit davon kommt.
Der ganze Waldboden ist bedeckt von abgerissenen Reisern und Tannennadeln; er sieht aus wie ein Weg, der zu einer Beerdigung mit Grün bestreut ist. Da ist nicht gespart, nicht 141 gegeizt, Vogelbeeren, Schlehen und Hagebutten liegen da — und gleich willig und verschwenderisch streut der Sturm noch immer drauflos.
Der kleine Leuchtturmwärter ist auf dem Jagdpfade; er schleicht in der Dunkelheit herum, die Flinte bereit. Ist die Eule am Tage nicht zu sprechen, wohlan — dann muß er versuchen, ob er sie nicht des Nachts treffen kann.
Dichter und dichter drückt sich die Finsternis um ihn, sie guckt hervor aus Gestrüpp- und Baumstammzwischenräumen, sie faucht ihm ihre schwarzen Tupfen ins Gesicht und macht seine weiße Hand, die das Flintenrohr umfaßt, dick und schwarz.
Heulen, Jammern und Seufzen erfüllt den Strandwald. Töne, bald so herzzerreißend, daß man glauben sollte, ein Mensch sei in Not, und Töne, bald so überirdisch, als kämen sie vom Himmel, strömen ununterbrochen seinem aufmerksamen Ohre entgegen.
Aber nicht nach ihnen lauscht er ... die Laute kennt er von seinen vielen Wachen oben im Leuchtturm. Er wartet auf das Halloh und fragt sich mit einem Fluch, wo es nur abgeblieben sein kann.
Ha, ha, ha, daran sind die vielen Kirchen schuld! höhnt er im Stillen, als er wieder eine Viertelstunde vergeblich umhergeschlichen ist ... nein, die großen Horneulen haben sich an Zahl vermindert, ihrer sind weniger und weniger geworden — das ist die Sache! Der Sturm ist wohl derselbe, der er immer gewesen ist, und auch das Klipp-Klapp der klappernden Zweigspitzen, aber „die Hunde“ scheuchen wohl seltener als früher Wild auf.
142 Da streift die wilde Jagd plötzlich an ihm vorüber ...
Und es ist Fahrt im Treiben und Kläffen in der Meute, es dröhnt, es rasselt, es bellt, faucht und klagt um ihn herum; er muß sich auf seinen Stock stützen — er entsinnt sich nicht, den hochseligen König jemals so wild jagen gehört zu haben!
Strix hat nämlich einen leckern Bissen gefangen; es ist ein Hase, den sie in den Fängen hält, während sie vorüberfliegt. Sie hat indessen keine Ruhe, ihn zu verzehren, denn eine Schar kleiner Eulen, die ihr Glück entdeckt haben, verfolgt sie und mischt ihre hohlen, schnarrenden Hornlaute in ihr düsteres, durchdringendes Fauchen. Sie neiden ihr den Fang und lästern laut darüber.
Die Sturmstöße kommen und gehen durch den Wald und zerren und ziehen an den Wipfeln. Plötzlich und überraschend, mit der Geschwindigkeit eines Habichts, schlagen sie nieder, wirbeln das Laub auf und schleudern es dem Leuchtturmwärter ins Gesicht. Er muß den Rockkragen aufklappen und den Knoten des Halstuches fester binden. Er zittert am ganzen Leibe vor Eifer und Spannung und starrt sich fast die Augen aus dem Kopf ... wo schrie es doch?... wo heulte es eben?
Auf den Zehenspitzen schleicht er umher, bewegt sich so lautlos wie sein lahmer Fuß es gestattet. Er bleibt oft stehen und lauscht mit offenem Munde, die Handfläche hinterm Ohre ... war das nicht das Fauchen eines Uhus?... ja, jetzt hat er es ... es kommt aus der Anpflanzung ... da drinnen zwischen den Fichten, da heult es!
Der Leuchtturmwärter hat Glück: auf einem schmalen Pfad stößt er auf die sonderbare Versammlung. Er sieht etwas 143 Schwarzes, das sich im Dunkeln bewegt, legt die Flinte an die Wange und zielt in der Finsternis, so gut er vermag ... Strix’ Leben hängt an einem Faden!
Sie sitzt über ihrem Opfer und klemmt es fest gegen den Erdboden, rollt Feuer aus den Augen und knappt mit dem Schnabel. Die kleinen, fliegenden Katzen umschwirren sie wie Elstern.
Der Leuchtturmwärter zittert förmlich, die Beine wollen ihm versagen; er kann die Flinte nicht ruhig halten, er muß auf die Knie nieder.
Da ertönt endlich der Schuß ...
Aber in der Erregung und in der Dunkelheit schießt der Leuchtturmwärter zu hoch; zwei behende kleine Eulen fallen wie zwei Bündel Kleider zur Erde.
Strix macht sich aus dem Staube und nimmt obendrein ihren Hasenbraten mit.
Aber in dem Augenblick, wo sie, von dem Sausen des Sturmes getragen, über die Fichtenwipfel dahinsegelt, ruckt es in ihr. Sie ist in den Wind vom Leuchtturmwärter gekommen, und der beeilt sich und stürmt vorwärts, um seine Beute zu sichern — sie aber öffnet die Fänge und gibt freiwillig ihren leckern Braten preis ... Kladatsch, klingt es, Kladatsch, Kladatsch, so schnell, daß die Kladatsche fast übereinander stolpern.
Und dann ist sie im Sturmgebraus verschwunden.
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Das ist Tag und Jahr her — und vergessen; vergessen war das Ganze. Nicht einmal Erinnerungen an ihre jubelerfüllten Tage waren zurückgeblieben. Nur der Kampf um die Nahrung und der Kampf um das Leben haben sie jetzt seit Jahren in 144 Anspruch genommen; sie ist ein einsamer Vogel und hat sich daran gewöhnt, als sei sie es ihr Leben lang gewesen.
Jetzt plötzlich taucht es alles wieder auf ...
Nicht leibhaftig und in Gestalten geformt, so wie das Menschengehirn es vermag ... nein, nur in fernen unbestimmten Ahnungen. Ihr Gesicht kann täuschen und ihr Gesicht kann vergessen, ihr Gehör nie — und diese, eines Menschen eigentümliche Art zu gehen, hat sich ihr nun einmal unter Umständen, wo ihre Nerven bis aufs äußerste angespannt waren, unauslöschlich eingeprägt.
Ist er es, der lahme Hahn mit dem stinkenden Atem, der ihre Jungen geraubt und sie in einen Bauer gesetzt hat?...
Sie ahnt es und fühlt dasselbe unwiderstehliche Kribbeln in ihren Fängen, wie wenn eine plötzliche Lust, etwas Lebendem die Haut abzuziehen, sie anwandelt. Der Kampfesmut aus alten Zeiten fährt in sie, der Haß, die Wildheit, die Bosheit flammen auf.
Aus der Fichtenanpflanzung heraus hinkt der ein wenig niedergeschlagene kleine Leuchtturmwärter, seine beiden kleinen Eulen in der Hand. Seine erste Eingebung ist, sie wegzuwerfen; aber dann fällt ihm ein, daß er sie dem „Ausstopfer“ in der nächsten Stadt ja anschnacken kann.
Da hat er wieder das wilde Halloh um die Ohren!
Diese neue Möglichkeit erfüllt augenblicklich seine ganzen Gedanken. Schnell steckt er eine frische Patrone in die Flinte — und eilt davon, dem Geräusch nach.
Aber nun läßt Strix erst allen Ernstes ihre Stimme ertönen.
Ein heimliches Schaudern, ein stilles Grauen durchbebt den lahmen Hahn ... ein so teuflisches Heulen, wie er es jetzt hört, meint er noch nie zuvor vernommen zu haben. —
145 Huu — Huu ... bis ins Unendliche ruft die Eule, so wie damals, als sie den Hasen in den Todestunnel hineinlockte. Der Leuchtturmwärter rennt dem Laut nach; er glaubt die ganze Zeit, daß er die große Eule im Dunkeln gerade vor sich hat; aber er rennt und rennt und ist ihr immer gleich nahe.
Sein Kla-datsch, Kla-datsch von dem lahmen Bein hämmert aufreizend und anfeuernd in Strix’ Ohren; sie hat eine brennende Lust, auf ihn niederzuschlagen, in seinem Fleisch zu zerren. Aber die Furcht vor den Menschen ist noch immer zu groß. Sie muß sich damit begnügen, ihn zu foppen und sich ihrer Überlegenheit in der Finsternis zu freuen ... da geht er ja unter ihr, taub und blind, und stapft schwerfällig auf seinen Klumpfüßen — und sie ändert ihren Platz wieder und wieder und saust von allen Seiten über ihm, während sie ihm ihr Geheul in die Ohren gellt. Nur wenn er still steht, schweigt sie, und dann spürt sie das alte, beklemmende Gefühl im Halse.
Huu — Huu ... quiwitt, quiwitt! Hin und her durch den Strandwald geht es, dann über die Abhänge hinaus und auf und ab an den langen Dünenwänden, unter denen das Meer siedet und schäumt.
Der lahme Hahn ist nahe daran, vor Durst zu vergehen, es schwitzt ihn, und das Halstuch hat er schon längst in die Tasche gesteckt; er fühlt sich immer mehr gereizt durch die Fopperei des Vogels und ist doch gleichzeitig mehr denn je darauf erpicht, ihn zu kriegen. Hier an den offenen Dünenhängen, wo hinaus er die Eule nun endlich getrieben hat, scheinen seine Aussichten ihm verbessert ... hier kann sie ihn nicht so leicht durch ihr Geheul täuschen, hier kann er den großen Vogel ja sehen, wenn er von Zeit zu Zeit einmal 146 aus dem Schlehengestrüpp aufschießt, befreit von den Schlagschatten und der Erddunkelheit. Er will sie haben; er kann es an ihrem Heulen hören, daß es eine alte, mächtige Eule ist; sie muß viel wert sein, und es gibt ja nicht mehr von der Art .... Huu — Huu ... und beständig erschallen vor ihm die verwirrenden Töne. —
Ein paarmal schon hat er sich an dem Dünenhang hinauf und wieder hinab gearbeitet und dagesessen und ihr im Schutz eines kleinen dichten, sturmgepeitschten Dornenstrauches aufgelauert; jetzt hört er sie wieder, sie ist hoch oben über seinem Kopf, gerade unter dem Rande des Abhanges.
Der Sturm pfeift in den wilden Klettenstengeln und entführt seiner großen Hakennase Tropfen auf Tropfen, er singt hohl und orgeltönend in den Flintenrohren und klemmt einen eigenen vorwurfsvollen, gellenden Ton aus den kleinen Steinen heraus, die in der Tiefe unter seinen Füßen rasseln.
Auf allen Vieren, das Gewehr fest unter die Achselhöhle geklemmt, kommt er heraufgeklettert ...
Ganz zufällig flattert Strix im selben Augenblick von einem Schlehdorngestrüpp auf und schwingt sich über den Abhang hinaus, wodurch sie sich einen Augenblick vor ihm in der Luft zeigt, gerade als er vor einem Absatz an der Dünenwand steht. Er richtet sich schnell auf, geht blindlings drauf los und vergißt, sich in acht zu nehmen; jetzt will er einen Schnappschuß versuchen, will versuchen, den Satan nach dem Gehör zu schießen; aber in der Eile tritt er fehl und hält einen großen Schlagschatten am Ende des Absatzes für festen Boden, er strauchelt, will mit der Flinte vor sich fassen, die Schüsse gehen ab, der rechte, als das Rohr gerade über dem Boden 147 ist, der linke, als das Rohr schon in der Erde ist. Der Lauf zerspringt ihm zwischen den Händen und reißt ihm die rechte Hand ab, er kann sich nicht festhalten, er gleitet und stürzt in die Tiefe.
Strix sieht ihn fallen, aber sie versteht seinen Fall nicht!
Sie glaubt, daß er hinter ihr drein ist — bis sie von einem neuen Sturmstoß wieder gegen den Abhang geworfen wird und ihn erblickt, wie er ausgestreckt am Strande liegt, den bleichen Hahnenschnabel steif in die Luft. Sie umkreist ihn, wirft sich in langen Bogen vor sein Antlitz nieder und faßt im Vorübersausen nach seinen wehenden Haarsträhnen — und dabei heult sie und schleudert ihm ihr krächzendes, übermütiges Hohngelächter ins Gesicht, während der Sturm im Riedgras seufzt und pfeift.
Endlich setzt sie sich auf einen Vorsprung des Dünenhanges; dort sitzt sie lange stumm und starrt grübelnd und unverwandt auf ihren toten Feind hinab. Es ist das erste Mal, daß sie einen Menschen so still sieht ... der Mensch — die ewige Unruhe, die sie zeitlebens gestört hat — nun liegt er dort tief unter ihr und ist so still geworden.
Da schreit sie häßlich, da heult sie unheimlich ... es schallt im Walde — es hallt wieder von den Dünenhängen —:
— Qui — witt, quiwitt — komm mit! komm mit! ... ha, ha, haaa!
— Es heult in der Nacht.
Seit jener Nacht waren Strix’ Tage am Strande gezählt.
Es verlautete gar bald, daß Leuchtturmwärter Hansen auf nächtlicher Jagd auf einen großen Uhu umgekommen sei. Die 148 Strandzeitung schlug Lärm und der Bericht ging durch das ganze Land — und obwohl es keineswegs stimmte und auch nicht weiter verlockend war, und obwohl es ganz außerhalb der Jagd- und Badesaison war, benutzte doch ein gewiegter Hotelpächter die Gelegenheit, mächtige Reklame für sein neues, großes Badehotel mit dazu gehörigem „Jagdwald“ zu machen.