Frau von Linden wohnte in einem schönen Landhause, wo sie sich jedoch sehr einsam fühlte, da ihr Mann und ihre Kinder alle gestorben waren. Ihre Verwandten liebte sie nicht, weil sie sehr eigennützige Leute waren.
Die gute Frau war selbst gar nicht eigennützig, von Morgen bis Abend dachte sie nur, wie sie den Armen und Kranken helfen könnte, und wie sie Gutes thun könnte.
Eines Tages mußte sie in die Stadt gehen, und als ihre Geschäfte zu Ende waren, ging sie in das Münster, um die schönen Statuen und Gemälde zu sehen, und sich ein wenig in dem kühlen, dunkeln, heiligen Raume auszuruhen.
Die große Kirche war um diese Stunde ganz leer und still, und nachdem sie andächtig gebetet, ging Frau von Linden umher und bewunderte die Gemälde und Statuen.
Sie schaute die großen Pfeiler an, schaute in die Wölbung hinauf, blieb lange vor den schönen, heiligen Bildern stehen, und kam endlich zu der letzten Kapelle, wo nur noch ein sehr kleines Licht brannte.
Es war in dieser Kapelle so dunkel, daß Frau von Linden wähnte (dachte), ganz allein zu sein, bis sie ein unterdrücktes Schluchzen hörte.
„Wer ist da?“ rief sie erstaunt.
Das Schluchzen hörte einen Augenblick auf, und eine leise, klägliche Stimme erwiderte schüchtern: „Ich bin es.“
Frau von Linden, die an der Stimme sogleich erkannte, daß es ein Kind war, das so leise geschluchzt hatte, sagte freundlich:
„Komm hierher Kind, und sage mir, warum du so schluchzest.“
Jetzt trat aus dem Dunkel ein kleines Mädchen hervor. Es war ein Kind von ungefähr acht Jahren und obschon etwas ärmlich, doch sehr reinlich gekleidet.
„Nun, Kleine,“ sagte die gute Frau, das Kind bei der Hand nehmend, „erzähle mir jetzt, warum du ganz allein hier bist, und warum du so kläglich weinst. Was fehlt dir wohl?“
„Ach,“ seufzte das Kind, „ich weine, denn Vater und Mutter sind beide tot, und meine Verwandten sind alle so arm und haben so große Familien, daß sie sich meiner nicht annehmen können. Morgen muß ich das Haus verlassen, wo ich mit meinen Eltern so glücklich lebte, denn ich habe kein Geld, um die Miete zu bezahlen.“
„Hast du gar keine Freunde?“ fragte die Dame erstaunt.
„Ja, der gute Priester ist mein Freund, er hat mir heute zu essen gegeben, und dann hat er mich hierher geschickt, um Gott um Hülfe zu bitten. Er hat gesagt, daß Gott das Gebet der verwaisten Kinder immer erhört, und daß Er mir sicher helfen werde.“
Die Dame sagte mit Rührung:
„Der gute Priester hat Recht, mein Kind. Komm, zeige mir, wo er wohnt. Ich möchte ihn gerne sprechen.“
Die Dame nahm das Kind bei der Hand und ging mit ihr zum Priester. Er empfing sie sehr freundlich, sagte ihr, daß das Mädchen das Kind ehrbarer Leute sei, und daß es sehr arm und ganz verlassen sei.
„Nun,“ erwiderte die Dame, „da das Kind ohne Mittel und ohne Freunde ist, so will ich mich ihrer annehmen. Sie soll bei mir in meinem Landhause wohnen. Ich werde sie in die Schule schicken, sie soll alles lernen, was ein Mädchen wissen sollte, damit sie einmal eine gute Frau und Mutter werden, oder damit sie einst ihr Brot verdienen kann.“
Die gute Dame nahm das verwaiste Kind mit, und hielt Wort. Das Mädchen ging fleißig in die Schule, und als sie größer wurde, lernte sie alles, was eine gute Hausfrau wissen muß.
Die Jahre gingen schnell vorbei, und als das Mädchen zwanzig Jahre alt war, starb ihre Wohlthäterin. Sophie, so hieß das Mädchen, pflegte sie zärtlich bis zu ihrem Tode, und ehe die Dame verschied, sagte sie:
„Sophie, du bist ein treues Mädchen gewesen, und es freut mich, daß du den jungen Gärtner Hans heiraten sollst. Er ist ein guter, fleißiger Mann, und du wirst eine glückliche Frau werden.“
Als die Dame endlich starb, hielt sie ein kleines, hölzernes Kreuz in der Hand, das sonst immer über ihrem Bette gehangen, und das sie sehr gern gehabt hatte.
Nachdem das Begräbnis vorüber war, kamen die Erben alle herbei, und der Advokat nahm das Testament der guten Frau und las es ihnen vor. Die Dame hatte der Waise eine Summe von dreitausend Thalern hinterlassen, und dabei stand auch im Testamente:
„Sophie ist mir eben so lieb, als ob sie meine Tochter wäre. Darum soll sie, nebst der Summe von dreitausend Thalern, die ich ihr hinterlasse, noch etwas als Andenken haben. Sie darf selbst unter allen meinen Habseligkeiten auswählen, was ihr am liebsten ist.“
Die Erben waren sehr entrüstet als sie dieses hörten. Schon die Summe von dreitausend Thalern schien ihnen zu viel. Sie fürchteten, daß die Waise etwas sehr Kostbares wählen würde. Aber, obgleich die Köchin und die anderen Dienstboten ihr rieten, die Diamanten oder die Perlen der verstorbenen Frau zu wählen, sagte die Waise:
„Nein, das will ich nicht thun. Die Dame hat mir schon viel gegeben. Ich möchte die Erben nicht berauben. Der kleinste Gegenstand, den meine Wohlthäterin geliebt, und den ich in ihren Händen gesehen, ist mir viel lieber als Andenken, als etwas so kostbares.“
„Sehen Sie,“ fuhr sie fort, „dieses hölzerne Kreuz möchte ich am allerliebsten haben, denn sie hielt es noch in ihrer Hand, als sie verschied.“
Die Erben waren sehr froh, als die Waise das kleine, hölzerne Kreuz wählte, und da sie alle fürchteten, daß das Mädchen ihre Wahl bereuen würde, holten sie ein Papier herbei und schrieben darauf:
„Als Andenken an meine Wohlthäterin habe ich das hölzerne Kreuz gewählt. Dieses ist mein, und ich werde nie Anspruch auf irgend etwas Anderes machen.“
Dieses Papier mußte Sophie unterzeichnen, und sie that es gern, denn sie war mit dem hölzernen Kreuz ganz zufrieden und verlangte nicht mehr.
Einige Zeit nachher heiratete sie den jungen Gärtner. Es ging ihnen ganz gut, bis er eines Tages von einem Baume herunterfiel. Er war durch diesen Fall schwer verletzt (verwundet), und als er nach einer langen Krankheit wieder aufstehen konnte, fehlte ihm ein Arm und er konnte nicht mehr in dem Garten arbeiten.
Die lange Krankheit hatte Sophiens Ersparnisse verzehrt, und nun sannen sie auf Mittel und Wege, um ihr Brot zu verdienen. Endlich sagte der Mann:
„Siehst du, mein treues Weib (Frau), ich werde nie mehr in dem Garten schaffen (arbeiten) können. Ein kleines Geschäft aber könnte ich noch besorgen. Es ist kein Kaufladen im Dorfe. Wenn wir das Geld, welches dir die selige Frau in ihrem Testament hinterließ dazu brauchen könnten, würde es leicht sein, ein kleines Haus im Dorfe zu mieten, Waaren zu kaufen, und dann könnte ich unser Brot als Kaufmann anstatt als Gärtner verdienen.“
Dieser Vorschlag schien der Frau sehr gut, und sie ging sogleich zu dem Verwalter der verstorbenen Frau, um ihr Geld in Empfang zu nehmen. Der Verwalter aber sagte ihr, daß die selige Frau in ihrem Testamente bestimmt habe, daß das Geld ihr nur übergeben werden sollte, wenn sie fünfundzwanzig Jahre alt geworden.
Als Sophie dieses hörte, war sie sehr traurig, und ging langsam nach Hause, wo sie ihrem Manne alles erzählte. Nach langem Nachdenken sagte er endlich:
„Nun, wir können unterdessen doch nicht verhungern. Vielleicht könnten wir die nötige Summe borgen und sie nächstes Jahr zurückbezahlen, wenn du dein Geld bekommst.“
Der Frau gefiel dieser Plan sehr gut und bald fanden sie einen reichen Nachbarn, der ihnen das Geld gern vorstrecken wollte, und sie versprachen ihm, das Kapital nebst Zinsen im folgenden Jahre zurückzuzahlen.
Jetzt ging alles wieder gut bis sie auf einmal hörten, daß der Sachwalter plötzlich auf und davon gegangen, und daß er alle ihm anvertrauten Gelder mitgenommen hätte. Er war so heimlich fortgegangen, daß man ihn nicht finden konnte, und bald wurde es überall bekannt, daß er ein elender Dieb gewesen und daß er das Geld vieler Leute gestohlen habe.
Bald erreichte die schlimme Nachricht den kleinen Laden, wo Sophie und ihr Mann sich so viele Mühe gegeben, um alles in bester Ordnung zu halten und ihr Brot ehrlicher Weise zu verdienen.
Als diese Nachricht auch dem Manne, der ihnen das Geld geliehen hatte, zu Ohren kam, kam er sogleich in den kleinen Laden und sagte Sophie, wenn sie ihm das Geld, das er ihnen geliehen, nicht sogleich zurückbezahlten, würde er Haus und Waaren in Besitz nehmen, um sich zu entschädigen.
Als er fortgegangen, sahen sich die Eheleute traurig an.
„Liebe Frau, was ist jetzt zu thun?“ rief der Mann in Verzweiflung. „Das geliehene Geld können wir nicht so schnell zurückbezahlen. Der Nachbar will nicht warten, und wir werden mit unseren drei kleinen Kindern aus diesem Hause ziehen müssen. Wir werden alle verhungern, denn ich kann nicht mehr arbeiten. Ich bin nicht stark genug, und mit einem Arme bin ich so gut wie hülflos. Der liebe Gott hat uns sicher vergessen.“
„Ach, lieber Mann, das kann nicht sein! Er vergißt seine Kinder eben so wenig, wie wir die unsrigen. Wir wollen zu Ihm beten. Vielleicht zeigt Er uns einen Ausweg, so daß wir unser Brot ehrlich verdienen können.“
Die Frau ging jetzt in ihr Zimmer, nahm das kleine hölzerne Kreuz, das Andenken an ihre Wohlthäterin, küßte es und dachte:
„Ach, wie leid würde es der guten Frau thun, wenn sie wüßte, wie unglücklich ich jetzt bin?“
Dann ließ sie das kleine Kreuz zu Boden fallen, fiel auf die Kniee und betete inbrünstig. Ihr Herz wurde bald leichter und als sie wieder aufstand, sah sie das Kreuz auf dem Boden liegen, und hob es sorgfältig auf.
Ein Stückchen Holz war im Fallen davon abgebrochen. Als sie es wieder an das Kreuz kleben wollte, sah sie zum erstenmal, daß das Kreuz hohl war, und geöffnet werden konnte.
Als sie es geöffnet, schrie sie in freudiger Überraschung auf, denn im Innern des hölzernen Kreuzes war ein wunderschönes Diamanten-Kreuz versteckt.
Sogleich trug sie dasselbe zu ihrem Manne, der auch sehr darüber erstaunt war. Als sie den Advokaten befragte, ob sie die Edelsteine behalten dürfte, sagte er:
„Gewiß, gute Frau, die Diamanten gehören Ihnen.“
Die Erben waren sehr böse, als sie hörten, daß Sophie Diamanten in ihrem hölzernen Kreuz gefunden, aber sie konnten keine Ansprüche darauf machen, denn sie hatten selbst das Papier geschrieben, worin es bestimmt hieß, daß das Kreuz Sophien gehöre.
Sophie verkaufte nun schnell die schönen Diamanten, und bekam Geld genug, um alle ihre Schulden zu bezahlen. Das Geschäft ging jedes Jahr besser und die Familie litt keinen Mangel mehr.
So lange sie lebte, erzählte Sophie ihren Kindern und Enkeln (Kindeskindern) die Geschichte von dem hölzernen Kreuz, und fügte immer bei: