Es war einmal ein alter König, der nur einen einzigen Sohn hatte, den er sehr gern hätte heiraten sehen. Aber der junge Mann konnte keine Braut finden, und der Vater gab ihm endlich einen goldenen Schlüssel und sagte:
„Mein Sohn, gehe in das obere Stockwerk des Turmes, sieh dich dort um, und sage mir, welche Prinzessin dir dort am besten gefällt.“
Der Prinz ging in das obere Stockwerk des Turmes, öffnete eine kleine, eiserne Thür mit dem goldenen Schlüssel, und kam in ein Zimmer mit zwölf Fenstern. Auf jedes Fenster war das Bild einer wunderschönen Prinzessin gemalt.
Der Jüngling sah sich erstaunt um, denn die schönen Prinzessinnen erröteten, lächelten, streckten die Hände aus, kurz, schienen lebendig; nur konnten sie nicht sprechen. Sie waren alle so blendend schön, daß der Prinz keine besondere auswählen konnte, und zögernd da stand, bis er sah, daß das eine Fenster mit einem weißen Vorhang bedeckt war.
Er trat schnell zu diesem Fenster, zog den Vorhang zurück, und sah eine sehr schöne Prinzessin, die aber so blaß und elend aussah, als ob sie eben aus dem Grabe gestiegen wäre. Der Prinz sah sie eine Zeitlang schweigend an, erbarmte sich ihrer, und rief laut „Diese, und keine Andere, will ich zur Gemahlin, und sollte es mir mein Leben kosten!“
Die wunderschöne, blasse Prinzessin wurde rosenrot bei diesen Worten, und sogleich verschwanden alle Bilder. Der Prinz ging schnell die Treppen hinunter und erzählte seinem Vater, wie er den Vorhang von dem Bilde gezogen und wie er die schöne, blasse, leidende Prinzessin am liebsten haben möchte. Der König aber rief traurig:
„Ach, mein Sohn, warum hast du gerade diese blasse, leidende Prinzessin gewählt? Du wirst jetzt große Gefahr laufen, denn die Prinzessin wird von einem Zauberer gefangen gehalten, und Alle, die versuchten, sie zu befreien, sind nie zurückgekommen. Aber da du dein Wort gegeben, mußt du jetzt gehen, und ich hoffe, daß du bald wohlbehalten mit deiner Prinzessin, heimkommen wirst!“
Der Jüngling verabschiedete sich von seinem Vater, und ritt munter fort, um seine schöne Braut zu holen. Er kam bald in einen dichten Wald, wo er einem großen Manne begegnete, der ihm laut zurief:
„Halt, Prinz! nehmen Sie mich in Ihren Dienst. Ich möchte mit Ihnen gehen. Sie werden nie bereuen, daß Sie mich mitnahmen!“
„Wer sind Sie?“ fragte der Prinz kurz, „und was können Sie thun?“
„Ich heiße der Lange, und ich kann mich nach Belieben verlängern. Sehen Sie das Nest, da, auf dem Baume? Ich will es Ihnen holen!“
Der Lange streckte sich höher und höher bis sein Kopf die Bäume überragte, nahm das Nest, wurde plötzlich kleiner und kleiner, und reichte es dem Prinzen.
„Das ist sehr schön!“ sagte der Prinz, „aber Vogelnester nützen mir nicht viel. Ich möchte meinen Weg aus diesem Walde finden!“
„Nun, das ist sehr leicht,“ rief der Lange.
Er streckte sich wieder in die Höhe bis er dreimal so hoch als der höchste Baum war, und sah sich neugierig um. In einigen Minuten wurde er wieder klein, nahm den Zügel von des Prinzen Pferd, und führte ihn bald aus dem dichten Walde hinaus. Da war eine weite Ebene, und jenseits derselben konnte man große, graue Felsen sehen.
„Ach!“ sagte der Lange plötzlich, „Da ist mein Kamerad! Sie sollten ihn auch in Ihren Dienst nehmen!“
Der Prinz sah einen kleinen, dicken Mann. Er fragte ihn neugierig, wer er sei, und was er wohl thun könne.
„Ich bin der Breite. Ich kann mich sehr breit ausdehnen! Machen Sie Platz und ich will Ihnen zeigen, wie weit ich mich ausdehnen kann.“
Der Lange nahm das Pferd beim Zügel und führte es schnell wieder in den Wald. Als der Prinz sich umwandte, sah er, daß der Breite sich so ausgedehnt, daß er die ganze Ebene füllte.
„Nun, das ist, wenigstens, etwas sehr Außerordentliches!“ rief der Prinz erstaunt. „Breiter, du kannst mitkommen. Ich nehme dich in meinen Dienst auf!“
Die drei Reisenden gingen weiter, und kamen bald zu einem Manne, der die Augen verbunden hatte.
„Fürst!“ rief der Breite, „hier ist unser dritter Kamerad. Sie sollten ihn auch in Ihren Dienst nehmen!“
„Ach!“ sagte der Fürst mitleidig, „der arme Mann ist ja blind.“
„Nein,“ rief der Mann mit den verbundenen Augen. „Ich bin nicht blind, sondern ich habe so scharfe Augen, daß ich der Scharfäugige heiße. Meine Augen sind so scharf, mein Prinz, daß ich durch die härtesten Steine sehen kann, denn sie spalten sich alle sobald als ich meinen Verband abgenommen und sie fest anschaue!“
„Nun,“ erwiderte der Prinz, „ich möchte gern wissen, was hinter jener Felswand steht, können Sie mir das sagen?“
„Das kann ich!“ rief der Scharfäugige.
Er streifte den Verband ab und sah die Felsen fest an.
Sogleich spalteten sie sich, und der Prinz wurde ein eisernes Schloß gewahr, wo der Zauberer die schöne Prinzessin, die er liebte, gefangen hielt.
Da der Lange, der Breite und der Scharfäugige mit ihm waren, und jedes Hindernis sogleich aus dem Wege schafften, kamen sie bald zu dem eisernen Schlosse, dessen Thüren sich weit öffneten, um ihnen den Eintritt zu erleichtern, aber die sich schlossen sobald sie hinein gegangen waren.
Der Prinz und seine drei Gefährten sahen sich erstaunt um. Niemand war da, um sie zu begrüßen, und nachdem der Prinz sein Pferd in den Stall gebracht, traten sie in das Schloß.
Im Hofe, im Stall und auch im großen Saale sahen sie viele Herren und Diener, aber alle waren versteinert. Endlich kamen sie in den Speisesaal, wo die Diener alle versteinert waren, aber wo eine reichlich gedeckte Tafel ihrer wartete. Sie aßen und tranken, und als sie sich nach einem Platz zum Schlafen umsahen, öffneten sich die Thüren weit und der Zauberer führte eine schöne, blasse Prinzessin herein.
Der Zauberer hatte einen schwarzen Rock, einen langen, weißen Bart, weiße Haare, und statt eines Gürtels, hatte er drei eiserne Ringe um den Leib. Die Prinzessin trug ein weißes Kleid, eine Perlenkrone, einen silbernen Gürtel, und sah blaß und traurig aus.
Der Prinz erkannte die Prinzessin, und wollte ihre schöne weiße Hand küssen, aber der Zauberer rief:
„Halt, mein Prinz! Ich weiß ganz gut, daß Sie diese Prinzessin freien wollen. Nun, Sie sollen sie haben, wenn Sie sie drei ganze Nächte hindurch nicht einmal aus den Augen lassen. Wenn sie verschwindet, sollen Sie, wie alle Ihre Vorgänger, auch versteinert werden.“
Der Zauberer führte die schöne Prinzessin zu einem Stuhle, in mitten des Zimmers, und ließ sie da. Der Prinz saß an ihrer Seite und sprach zu ihr, sie aber erwiderte kein Wort.
Er dachte, daß er wach bleiben und die schöne Prinzessin nicht aus den Augen lassen würde, aber er schlief dennoch ein.
Der Lange, der sich dreimal um den Stuhl der Prinzessin gewickelt hatte, schlief auch ein; so wie auch der Breite und der Scharfäugige.
Als der Morgen heranbrach, wachten sie alle auf, und sahen, daß die Prinzessin verschwunden war. Der Prinz jammerte laut, aber der Scharfäugige nahm seinen Verband ab, ging ans Fenster und rief:
„Jammern Sie nicht, mein Prinz. Ich sehe die Prinzessin. Hundert Meilen von hier ist ein Wald. In diesem Walde ist eine Eiche; an der Eiche ist eine Eichel und darin ist die Prinzessin! Wir wollen sie holen.“
Der Lange nahm den Scharfäugigen auf seine Schultern und machte sich so lang, daß er bei jedem Schritt zehn Meilen zurücklegen konnte. In einigen Minuten brachten sie die Eichel dem Prinzen.
„Werfen Sie sie auf den Boden, mein Prinz!“ rief der Lange, und sobald der Prinz dieses gethan, stand die schöne Prinzessin vor ihm. In demselben Augenblick öffneten sich die Thüren weit und der Zauberer trat herein. Als er die Prinzessin gewahr wurde, war er so böse, daß einer der eisernen Ringe um seinen Leib zersprang. Er führte die Prinzessin aus dem Saale, und der Prinz und seine drei Diener waren den ganzen Tag allein. Sie hatten genug zu essen und zu trinken, aber sie konnten weder Zauberer noch Prinzessin finden, und sahen nichts als versteinerte Männer.
Am Abend aber führte der Zauberer die Prinzessin wieder in den Saal, und der Prinz und seine Gefährten wachten wieder.
Aber da sie sehr müde waren, schliefen sie endlich alle ein, und als der Prinz aufwachte, war die Prinzessin wieder verschwunden. Er weckte seine Diener auf. Der Scharfäugige nahm seinen Verband ab und rief laut:
„Zwei hundert Meilen von hier ist ein Berg. Auf dem Berge ist ein Felsen. In dem Felsen ist ein Edelstein, und das ist die Prinzessin! Wir wollen sie holen.“
Der Lange nahm den Scharfäugigen auf seinen Rücken und trug ihn schnell zu dem Berg. Der Scharfäugige zerspaltete den Felsen mit seinen scharfen Augen, und brachte dem Prinzen den Edelstein. Der warf ihn auf den Boden und die schöne Prinzessin stand mitten im Saale als die Thüren sich öffneten und der Zauberer hereintrat.
Als er die schöne Prinzessin da stehen sah, war er so böse, daß ein zweiter eiserner Ring zersprang! Er führte die Prinzessin wieder hinaus und ließ den Prinzen und seine Diener wieder den ganzen Tag allein. Am Abend führte er die schöne Prinzessin zum dritten Mal herein und sagte:
„Wenn ich die Prinzessin morgen nicht hier finde, so werden Sie alle versteinert werden!“ und ließ sie allein.
Obwohl alle sich vornahmen, nicht zu schlafen, schliefen alle doch ein, und als der Prinz aufwachte, war die schöne Prinzessin wieder verschwunden. Der Scharfäugige streifte seinen Verband ab und rief laut.
„Drei hundert Meilen von hier ist das schwarze Meer. Auf dem Grund dieses Meeres ist eine Schale. In der Schale ist ein goldener Ring. Das ist die Prinzessin. Wir müssen alle drei dahin gehen, um sie zu holen!“
Der Lange trug den Breiten und den Scharfäugigen schnell dahin, streckte seinen Arm so weit als möglich aus, aber konnte dennoch den Boden des Meeres nicht erreichen. Dann dehnte sich der Breite so viel als möglich aus, und trank so viel Wasser, daß der Lange die Schale endlich erreichen konnte. Er nahm den Ring und ging schnell zurück, denn es war bald Zeit zum Sonnenaufgang. Er ließ den Breiten fallen und das Wasser, das er getrunken, bildete einen See in einem Thal.
Der Lange ging aber schnell weiter und kam in das Schloß, als die Thüren sich öffneten. In demselben Augenblick warf er den goldenen Ring auf den Boden, und als der Zauberer herein trat, sah er die schöne Prinzessin.