Eines Tages, als die alte Frau fest eingeschlafen war, und die Räuber alle fort waren, nahm der kleine Heinrich ein Licht und sagte zu sich selbst: »Ich will auch da in die Finsternis gehen! Ja, ich will gehen. Ich werde die Räuber bald finden!«
Er ging. Der Gang war sehr finster und sehr lang. Endlich kam er an einen Platz, wo zwei Gänge zusammenkamen. Da er nicht wußte, welchen Gang er nehmen sollte, nahm er den rechts, und ging wieder weiter. Aber das Licht war klein und endlich erlosch es.
Der arme kleine Heinrich konnte zuerst nichts sehen. Er war allein, und alles war so finster. Endlich aber sah er ein kleines mattes Licht. Er dachte: »Ach, da sind die Räuber, ich muß ihnen schnell nachlaufen.« Er lief schnell. Das Licht wurde immer größer, aber es war immer sehr matt. Endlich kam Heinrich dahin, wo der Gang ins Freie führte. Das Loch war klein, aber er kroch schnell hinaus und sah die Welt, die wunderschöne Welt zum erstenmal.
»Ach,« sagte er erstaunt. »Hier ist eine wunderschöne Höhle, viel schöner als die unsrige!«
Es war sehr früh Morgens. Das Kind sah Gras und Bäume zum erstenmal, und dann sah es auch den Sonnenaufgang.
»Ach,« sagte der kleine Heinrich erstaunt. »Sehen Sie doch die große Lampe! Und da ist viel Gras! Ich habe nie so viel Gras gemacht. Ich kann es auch nicht so schön machen.«
Endlich sah er ein Lamm, ein kleines, neugeborenes Lamm.
»Da ist ein Lamm!« rief er erstaunt, »aber es ist viel größer als mein Lamm. Ich will mit ihm spielen!«
Aber als er das Lamm nehmen wollte, stand es auf und sagte: »Bää!«
»Ach,« sagte Heinrich erstaunt, »das ist schön! Lamm, du bist nicht wie mein Lamm. Du kannst sprechen und aufstehen! Mein Lamm kann weder sprechen noch aufstehen. Du bist ein schönes Spielzeug.«
Er stand da und der Schäfer, der ihn aus dem Berge hatte kommen sehen, sah ihn erstaunt an. Heinrich sah den Schäfer, sprang zu ihm und rief:
»Ach, Räuber, ist das Ihre Höhle?«
»Ich bin kein Räuber!« sagte der Schäfer. »Dieses ist keine Höhle. Wer bist du? Woher kommst du?«
»Ich bin durch den Gang von unserer finsteren Höhle hier in diese schöne Höhle gekommen. Aber hier ist es viel schöner und lichter als bei uns. Ihre Lampe ist auch viel größer. Haben Sie das Gras allein gemacht? oder haben die anderen Räuber Ihnen geholfen?«
Der Schäfer, der schon oft von Räubern gehört hatte, fürchtete sich sehr, als er das Kind so sprechen hörte. Er sah das Kind wieder an und dachte: »Das Kind kann kein Räuberkind sein. Es muß ein entführtes Kind sein. Vielleicht kommen die Räuber bald es fortzunehmen. Hier kann es nicht bleiben.«
Er nahm das Kind auf einen Arm, das Lamm auf den anderen, und lief schnell fort. Bald kam er vor eine kleine Hütte. Hier wohnte ein Einsiedler. Der Einsiedler wohnte hier allein. Er war sehr gut, er liebte Gott, und alle Menschen liebten ihn, denn er war immer froh ihnen helfen zu können.
Der Schäfer trat schnell in den kleinen Garten vor der Hütte.
Da war der gute Einsiedler. Er saß unter einem Baume. Er hatte sein Gebetbuch in der Hand. Der Schäfer sagte ihm, wie er das Kind aus der Erde hätte kommen sehen, und wie das Kind nur von der Höhle und den Räubern spräche.
Der Einsiedler hörte alles, und als der Schäfer zu Ende war, sagte er ruhig:
»Ja, das Kind kann kein Räuberkind sein. Es ist zu fein geformt. Es muß das Kind reicher Leute sein. Die Räuber müssen es gestohlen haben, als es sehr jung war. Ich will das Kind hier in meinem Hause behalten. Hierher kommen die Räuber sicher nicht, denn sie wissen, daß ich weder Gold noch Silber habe, und daß sie hier nichts zu stehlen finden.«
Der Schäfer dankte dem Einsiedler, ließ das Lamm dem kleinen Heinrich und ging fort.
Heinrich spielte mit dem Lamme und der Einsiedler sagte langsam:
»Armes Kind, Sie sehen sehr blaß und unwohl aus, aber da Sie vielleicht schon lange in dem Berge wohnten, ist es sehr natürlich. Mein Kind, haben Sie weder Vater noch Mutter?«
»Ach ja,« sagte das Kind, »ich habe eine schöne Mutter. Sehen Sie, hier ist meine Mutter!« und das Kind gab dem Einsiedler das schöne Bild, das es mitgebracht hatte.
Der Einsiedler sah die wunderschöne Frau und sagte erstaunt: »Das ist eine wunderschöne Frau! Sie muß eine Königin oder eine Gräfin sein. Ja, sie ist die Mutter des Kindes. Das kann ich sehen. Das Kind hat dieselben Augen und denselben Mund! Nun, da wir das Bild haben, werden wir die Eltern des Kindes vielleicht finden können. Sie müssen sehr traurig sein, das schöne Kind verloren zu haben!«
Das Kind spielte lange mit dem Lamme. Endlich sah es die schönen Blumen in dem Garten des Einsiedlers, und sagte erstaunt: »Ach, wie haben Sie alle die schönen Blumen da gemacht? Sie haben mehr und schöneres Papier als ich!«
Der Einsiedler sagte: »Ich habe die Blumen nicht gemacht. Der liebe Gott hat sie alle gemacht!«
»Ist er der Führer der Räuber?« fragte das Kind.
»Ach, nein,« sagte der Einsiedler. »Haben Sie nie von Gott gehört, mein Kind?«
»Nein, er ist nicht in unserer Höhle,« antwortete das Kind. Als der Einsiedler das hörte, dachte er: »Hier muß das Kind bleiben den ganzen Sommer, bis es wieder frisch und wohl ist, und bis es gelernt hat, Gott zu ehren, und gut zu sprechen, denn es spricht nicht gut. Das Sprechen hat es sicher von den Räubern gelernt, denn es sagt oft sehr schlechte Worte.«
Der Einsiedler führte Heinrich in die Hütte. Da war alles sehr schön, aber sehr klein. Der Einsiedler setzte Honig und Brot, Früchte und Wein auf den Tisch, und das Kind sagte:
»Wie viele gute Dinge Sie hier zu essen haben. Sie haben sicher heute eine gute Beute heimgebracht.«
»Ich bin kein Räuber,« sagte der Einsiedler. »Diese Früchte und dieser Wein kommen aus meinem Garten. Das Brot kommt von meinem Korn, der Honig von meinen Bienen, Gott hat mir alles gegeben!«
Als sie mit dem Essen zu Ende waren, nahm der Einsiedler eine Kanne voll Wasser. Er wollte seine Blumen begießen, aber das Kind sagte:
»Ach, guter Mann, thun Sie das nicht! Sie werden die schönen Blumen verderben. Ich habe eine Blume einmal in das Wasser fallen lassen und sie war nie wieder schön.«
»Ja,« sagte der Einsiedler. »Papierblumen sind nicht wie diese Blumen. Diese Blumen hat der liebe Gott gemacht. Sie wachsen aus der Erde, und sie müssen immer viel Wasser zu trinken haben. Darum muß ich sie jeden Tag begießen!«
Das Kind ging mit dem Einsiedler überall hin und sah viele schöne Dinge, und hörte vieles, das es nicht verstehen konnte. Endlich sank die Sonne am Horizonte nieder. Das Kind sah es und schrie laut:
»Ach, sehen Sie, die schöne Lampe ist in ein Loch gefallen! die schöne Lampe ist in ein tiefes Loch gefallen!«
»Nein,« sagte der Einsiedler. »Das ist nur der Sonnenuntergang. Morgen kommt die Sonne wieder. Aber jetzt mußt du zu Bette gehen, liebes Kind, du mußt müde sein!«
Das Kind sah das Bett, wunderte sich, legte sich darauf und schlief bald fest ein, aber der Einsiedler betete noch lange um Gottes Hülfe.