Ein Mann ging einmal in den Wald, um Holz zu spalten. Er spaltete lange und kam immer weiter in den Wald hinein. Endlich kam er an einen Platz, wo er einen großen Lärm hörte.
»Was ist das?« sagte der Mann erstaunt. »Ich höre einen großen Lärm. Was kann es sein?«
Er suchte überall und fand bald einen großen Drachen, der unter einem großen Steine lag, und der nicht fortkommen konnte.
»Ach, lieber Mann,« sagte der Drache, »helfen Sie mir, bitte, bitte! Ich bin hier schon hundert lange Jahre!«
Der Mann sagte: »Es ist schade, daß Sie da unter dem Steine bleiben müssen. Ich will Ihnen helfen!«
Der Mann nahm eine lange Stange und nach vieler Mühe konnte er den großen Stein aufheben, und der arme Drache kroch hinaus.
Da war der arme Drache glücklich, wieder frei zu sein, aber da er seit hundert Jahren nichts gefressen hatte, war er sehr hungrig. Er sah überall hin, aber er sah nichts, das er fressen konnte, als seinen Erlöser. Er war dankbar, aber er war so hungrig.
Endlich sagte der hungrige Drache: »Da ich nichts anderes zu fressen finde, so werde ich Sie fressen müssen, obgleich Sie mich erlösten.«
»Ach!« bat der Mann, »das ist doch nicht recht, Drache, ich habe Sie ja erlöst. Ich habe Ihnen viel Gutes gethan. Sie können doch nicht so undankbar sein!«
»Ach!« sagte der Drache, »Undank ist der Welt Lohn!« und der Drache machte den großen Mund auf, um den Mann zu fressen.
Da bat der Mann so inbrünstig um sein Leben, daß der Drache endlich sagte: »Nun, guter Mann, wir wollen zusammen durch den Wald gehen. Wir werden bald jemandem (einem Manne) begegnen, der soll entscheiden (sagen), ob ich Sie fressen kann, da ich doch so hungrig bin und seit hundert Jahren nichts zu essen gehabt, oder ob Sie frei gehen sollen.«
Der Mann und der Drache gingen zusammen durch den Wald. Bald begegneten sie beide einem Hunde.
»Da ist ein Hund, er soll entscheiden!« sagten sie beide. Sie kamen zu dem Hunde und fragten: »Ist es recht, daß der Drache seinen Erlöser frißt, oder soll er vor Hunger sterben?«
»Das weiß ich nicht,« sagte der alte Hund traurig. »Ich habe meinem Herrn ehrlich (gut) gedient, seitdem ich ein sehr kleiner Hund war. Nachts habe ich immer gewacht, so daß niemand (kein Mann) seine Ruhe störe; aber jetzt, da ich alt bin und weder hören noch sehen kann, will er mich töten. Darum lief ich fort! Er ist sehr undankbar, aber Undank ist der Welt Lohn.«
»Ja, das ist der Welt Lohn. Niemand ist dankbar, so brauche ich auch nicht dankbar zu sein,« sagte der Drache zu dem Manne. »Ich habe Recht und ich will Sie sogleich fressen.«
Der Drache sprang nach dem Manne und wollte ihn fressen, aber der Mann bat wieder so inbrünstig, daß er endlich sagte: »Nun, wir wollen weiter gehen. Der Hund war blind (konnte nicht sehen). Vielleicht kann ein blinder Hund nicht gut entscheiden. Wir wollen durch den Wald gehen. Wir begegnen sicher jemandem, der besser entscheiden kann.«
Sie gingen beide weiter und begegneten bald einem alten, lahmen Pferde.
»Pferd!« rief der Drache, »Pferd, kommen Sie hierher und entscheiden Sie, ob ich meinen Erlöser fressen soll, oder ob ich vor Hunger sterben soll?«
Das lahme Pferd antwortete: »Nun, ich kann nicht entscheiden. Ich habe meinem Herrn ehrlich Jahre lang gedient. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, und jetzt, da ich alt und lahm bin, sagt der Herr, daß ich nichts mehr wert sei und daß ich sterben soll. Er ist sehr undankbar, aber Undank ist der Welt Lohn!«
»Ja, alle Leute sind undankbar, und darum kann ich auch undankbar sein. Das ist der Welt Lohn!« sagte der Drache, und wieder wollte er den Mann fressen. Aber der Mann bat so inbrünstig um sein Leben, daß der Drache endlich sagte:
»Nun, vielleicht kann ein lahmes Pferd nicht viel besser entscheiden als ein blinder Hund. Wir wollen weiter gehen und einen anderen Richter suchen.«
Sie gingen beide durch den Wald und begegneten bald einem schlauen Fuchse.
»Aller guten Dinge sind drei!« sagte der Mann. »Wir wollen den Fuchs fragen. Er wird uns sagen können, ob Sie nicht dankbar sein sollten.«
Der schlaue Fuchs hörte alles, was sie beide sagten, dann sagte er langsam:
»Ja, ich verstehe. Ich verstehe, aber ich muß noch mit dem Manne allein sprechen.«
Er nahm den Mann bei Seite und sagte ihm leise:
»Nun, guter Mann, was geben Sie mir, wenn ich Sie von dem Drachen erlöse?«
»Ach, lieber Fuchs!« sagte der Mann. »Sie können jeden Donnerstag kommen, und das Beste in meinem Hühnerhof haben.«
»Gut,« sagte der Fuchs. »Das ist mir recht, ich will Sie erlösen.«
Der schlaue Fuchs ging wieder zu dem Drachen und sagte langsam: »Ich kann nicht gut entscheiden, bis ich weiß, wie es kommt, daß Sie, ein so großes Tier, hundert Jahre unter einem Steine bleiben mußten. Wie sind Sie unter den Stein gekommen?«
»Nun,« antwortete der Drache, »das kann ich in einem Augenblick klar machen. Ich war auf dem Berge eingeschlafen. Da kam eine Steinlawine, und der große Stein ist auf mich gefallen, so daß ich hundert Jahre still bleiben mußte und nicht frei werden konnte.«
»Das kann ich noch nicht gut verstehen. Ich muß den Platz sehen, wo Sie so lange unter dem Steine lagen,« sagte der schlaue Fuchs.
»Nun dann, kommen Sie!« sagte der Drache, und er ging, von dem Fuchse und dem Manne gefolgt, zu dem Platze, wo er so lange gefangen war.
»Ach!« sagte der Fuchs, »es ist unmöglich (kann nicht sein), daß Sie, ein großes Tier, da unter dem Steine waren!«
»Ach ja! da war ich hundert Jahre. Sehen Sie, lieber Fuchs, ich lag so!« und der Drache legte sich wieder in das Loch (Höhle). Der Mann und der schlaue Fuchs ließen den Stein wieder fallen, und der Drache war wieder fest gefangen.
Der Drache jammerte bitterlich, aber der Fuchs sagte:
»Jammern Sie nicht so sehr, lieber Drache, Sie sind gefangen und Sie haben Hunger, aber Undank ist der Welt Lohn.«
Und der schlaue Fuchs ging mit dem Manne fort. Der Mann dankte dem Fuchse tausendmal und ging glücklich nach Hause.
Am Donnerstag kam der schlaue Fuchs. Er ging in den Hühnerhof und fraß so viele Hühner (Hahn und Henne), daß er nicht mehr laufen (gehen) konnte. Dann legte er sich im Hühnerhof nieder und sagte: »Der Mann ist mein Freund, hier kann ich gut schlafen.«
Aber am Morgen früh kam das Hühnermädchen. Sie sah den schlafenden Fuchs. Sie nahm einen Stock, der Mann nahm auch einen Stock, und beide schlugen den armen Fuchs so sehr, daß sie ihn fast töteten.
Der Fuchs sprang endlich aus dem Hühnerhof und sagte traurig: