Aber das Märchen wollte und wollte nicht kommen. Und unterdessen war es in der Welt immer noch kalt und grau und trostlos. Die Menschen hasteten und jagten und trieben einander und machten lauter dummes Zeug. Es war eine häßliche Welt und häßliche Menschen darin, die sich viel Leides thaten, und die beiden Kinder dachten oft, ob denn das Märchen noch immer nicht kommen wollte und Ordnung schaffen und die Welt wieder gut und schön machen.
Da kam eines Tages der Südwind daher gefahren. Er stieg von den Bergen hernieder, daß die Lawinen donnernd vor ihm niederkrachten; er jagte das Eis auf den Flüssen vor sich her, daß es sich bog und knackte und schrie; er pfiff durch die Tannenwälder, daß die Nadeln den alten Fichten um die Ohren sausten, und knickte die dürren Aeste der Wälder, daß Platz wurde für die jungen, neuen Triebe. Die Wolken trieb er vor sich her – runde, regenschwere Wolken, in wilder Jagd; sie drängten und schoben sich und sprangen einander auf den Rücken, wie die Buben, wenn sie Haschen spielen. Dann stob er in die Stadt mit wildem Jauchzen und Getöse; er blies in die Kamine hinein, wie in ein Sprachrohr, und trieb Schabernack mit des Petrus goldnem Hahn auf der Kirchturmspitze; er deckte die Dächer ab und guckte den Leuten in die Häuser und blies sie an, daß es den dummen Menschen angst und bange wurde. Ja, er fuhr sogar dem König um die Nase, als der just vor seinem Königreiche stand und, die Hände in den Hosentaschen, darüber nachdachte, wie sein Volk ihn wohl wieder einmal beglücken könne; und er warf ihm sein Reichsaushängeschild gerade vor der Nase herunter, so daß der König sich entrüstet umdrehte und in sein Reich hineinging und die Thür zuwarf, daß es krachte.
Aber der Wind lachte nur: »Puh! wenn ich nur wollte, dann brauste ich Dich mit samt Deinem Königreich von der Erde hinweg, wie einen Strohhalm – aber ich will nicht! – Bist mir viel zu klein, du Königlein!« –
Und dann warf er ein paar ehrsamen Bürgern, die des Weges kamen, die blanken Cylinder von den gedankenschweren Häuptern, als wolle er sehen, was in den Köpfen stecke; und wehte ein paar schlanken Jungfräulein die langen Kleider eng um die schönen Glieder und freute sich darüber, der wilde Geselle, wie die kleinen Frauenfüße so tapfer gegen ihn ankämpften.
Mit lustigem Gekicher fuhr er zu den Wolken auf und spielte Fangball mit ihnen; die Wolken fangen an zu weinen und dann fällt ein weicher, warmer, feiner Frühlingsregen auf die Erde nieder, eine zarte, graue Nebeldecke breitet sich über die Welt aus, und unter dieser dampfenden feuchtwarmen Decke da geht der Sturmwind zur Ruhe.
Dort im Wald, in dem Astloch der großen Eiche regt sich etwas, das ist das Märchen; das ist aufgewacht von des Südwinds wildem Gesang und merkt, daß es nun Zeit ist, aufzustehen. Es gähnt noch einmal recht herzhaft und reckt und plustert sich wie ein Vögelein im Nest; dann schiebt es erst das eine rosige Füßchen heraus und dann das andere, dann gähnt es noch einmal, und nun breitet es seine sammetenen Schmetterlingsflügel aus und fliegt zur Erde nieder. Da leuchtet mit einemmal eine große, glänzende Sonne durch den Nebel, und nun kann man erst sehen, was für ein niedliches Märchen es ist. Es ist sehr klein und fein, hat schöne, weiße Gliederchen und große, dunkelblaue Stiefmütterchenaugen und die schönsten goldnen Haare von der Welt, die glänzen in der Sonne wie das rote Gold, das die Schlangenkönigin bewacht; auf dem Köpfchen trägt es eine blaue Glockenblume, die macht ein sanftes Geläute, wo das Märchen geht und steht.