Die kleine Seejungfrau
Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume, und so klar wie das reinste Glas. Aber es ist dort sehr tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht. Viele Kirchtürme müssten aufeinander gestellt werden, um vom Grunde bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk.
Da wachsen die wundersamsten Bäume und Pflanzen, deren Stiele und Blätter so geschmeidig sind, dass sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, als ob sie lebend wären. Alle Fische, klein und groß, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, gerade wie hier oben die Vögel in der Luft. An der allertiefsten Stelle liegt das Schloss des Meerkönigs. Die Mauern sind aus Korallen und die langen spitzen Fenster von allerklarstem Bernstein. Das Dach aber besteht aus Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, je nachdem wie das Wasser strömt. Das sieht prächtig aus.
Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer, aber seine alte Mutter besorgte das Haus. Sie war eine kluge Frau und verdiente großes Lob, besonders weil sie die kleinen Meerprinzessinnen, ihre Enkelinnen, so liebte. Das waren sechs prächtige Kinder, aber die jüngste war die schönste von allen. Ihre Haut war so klar und zart wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber ebenso wie alle anderen hatte sie keine Füße. Ihr Körper endete in einem Fischschwanz.
Den lieben langen Tag durften sie unten im Schlosse spielen, wo lebendige Blumen aus den Wänden wuchsen. Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelblauen Bäumen. Der Boden selbst war der feinste Sand, aber blau wie Schwefelflamme. Über dem Ganzen dort unten lag ein seltsamer blauer Schein.
Jede von den kleinen Prinzessinnen hatte einen kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, ganz wie sie wollte. Eine gab ihrem Blumenbeet die Gestalt eines Walfisches. Einer anderen erschien es hübscher, dass ihr Beet einem Meerweiblein glich, aber die Jüngste machte ihr Beet ganz rund wie die Sonne und hatte nur Blumen darauf, die so rot wie diese leuchteten. Sie war ein seltsames Kind, still und nachdenklich, und während die anderen Schwestern sich mit den merkwürdigsten Sachen herausputzten, wollte sie neben ihren Blumen nur ein schönes Marmorbild haben. Es war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresboden gesunken war. Sie pflanzte neben dem Bilde eine rosenrote Trauerweide, die prächtig wuchs und mit ihren frischen Zweigen bis auf den blauen Sandboden hing. Es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln miteinander spielten, als ob sie sich küssen wollten.
Sie kannte keine größere Freude, als von der Menschenwelt zu hören. Die alte Großmutter musste ihr alles erzählen, was sie von Schiffen, Städten, Menschen und Tieren wusste. Ganz besonders wunderbar und herrlich erschien es ihr, dass oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das taten sie auf dem Meeresboden nicht.
"Wenn ihr euer fünfzehntes Lebensjahr erreicht habt", sagte die Großmutter, "wirst du die Erlaubnis bekommen, aus dem Meere aufzutauchen. Dann kannst du im Mondschein auf den Klippen sitzen und die großen Schiffe vorbeisegeln sehen!"
Keine war so sehnsuchtsvoll wie die Jüngste. Gerade sie, die noch am längsten zu warten hatte! Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah hinauf durch das dunkelblaue Wasser, wo die Fische mit ihren Flossen und Schwänzen ruderten.
Nun war die älteste Prinzessin fünfzehn Jahre alt und durfte zur Meeresoberfläche aufsteigen. Als sie zurückkam, wusste sie hundert Dinge zu erzählen. Das Herrlichste jedoch, sagte sie, wäre im Mondschein auf einer Sandbank zu liegen und zu der großen Stadt dicht bei der Küste hinüberzuschauen. Dort würden die Lichter wie hundert Sterne blinken.
Ein Jahr danach bekam die zweite Schwester Erlaubnis, durch das Wasser aufzusteigen und zu schwimmen, wohin sie wollte. Sie tauchte auf, gerade als die Sonne unterging. Dieser Anblick erschien ihr als das Schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, sagte sie, und die herrlichen Wolken konnte sie nicht genug beschreiben!
Im Jahre darauf kam die dritte Schwester hinauf. Sie war die Dreisteste von allen. Darum schwamm sie einen breiten Fluss hinauf, der in das Meer mündete. Herrlich grüne Hügel mit Weinreben sah sie, und Schlösser und Bauernhöfe schauten zwischen den prächtigen Wäldern hervor.
In einer kleinen Bucht traf sie dann eine Schar kleiner Menschenkinder. Ganz nackt liefen sie im Wasser umher und plätscherten. Da wollte sie mit ihnen spielen, aber sie waren erschreckt davon gelaufen.
Die vierte Schwester war nicht so dreist. Sie blieb draußen im wilden Meer und erzählte, dass gerade dieses das Herrlichste gewesen wäre. Man sehe viele Meilen weit umher, sagte sie, und der Himmel stände wie eine große Glasglocke über einem.
Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester. Ihr Geburtstag fiel gerade in den Winter, und darum sah sie, was die anderen das erste Mal nicht gesehen hatten. Das Meer nahm sich ganz grün aus, und ringsum schwammen große Eisberge. Sie sagte, jeder Berg sähe wie eine Perle aus, und doch sei er größer als die Kirchtürme, welche die Menschen bauten.
So war es immer das Gleiche. Das erste Mal, wenn eine der Schwestern über das Wasser kam, war sie entzückt über all das Neue und Schöne. Aber da sie nun als erwachsene Mädchen emporsteigen durften, wann sie wollten, wurde es ihnen gleichgültig, und sie sehnten sich gleich wieder nach Hause zurück.
In mancher Abendstunde fassten sich die fünf Schwestern an den Händen und stiegen in einer Reihe über das Wasser hinauf. Herrliche Stimmen hatten sie, schöner als irgendein Mensch. Und wenn dann ein Sturm heraufzog, und Schiffe in arge Not gerieten, dann schwammen die Schwestern vor den Schiffen her und sangen, wie schön es doch auf dem Meeresgrunde sei. Sie baten die Schiffer, sich vor dem Untergehen nicht zu fürchten, aber diese konnten die Worte nicht verstehen und glaubten, es wäre nur der Sturm. So bekamen sie die Herrlichkeiten da unten auch nicht zu sehen, denn wenn das Schiff sank, ertranken die Menschen und kamen nur als Tote zum Schloss des Meerkönigs.
Wenn die Schwestern dann also am Abend Arm in Arm durch die See stiegen, stand die sechste Schwester ganz alleine da und sah ihnen nach. Es war ihr, als ob sie weinen müsste, aber Seejungfern haben keine Tränen und leiden darum viel schwerer.
"Ach, wäre ich doch schon fünfzehn Jahre!" sagte sie. "Ich weiß, dass ich die Welt da oben und die Menschen, die dort bauen und wohnen, in mein Herz schließen werde!"
Und endlich, endlich war es soweit. "Sieh, nun bist du erwachsen", sagte die Großmutter. "Komm nun und lasse dich von mir schmücken."
"Lebewohl, Großmutter", sagte sie und stieg leicht und klar, gleich einer Blase, im Wasser empor. Die Luft war mild und das Meer zeigte sich im leuchtenden Abendrot. Nicht weit weg lag auch ein großes Schiff mit drei Masten.
Die kleine Seejungfer schwamm bis dicht an das Kajütenfenster, und jedes Mal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelklaren Scheiben sehen. Drinnen standen viele herausgeputzte Menschen, aber der schönste war doch der junge Prinz mit den großen schwarzen Augen. Er war gewiss nicht viel über sechzehn Jahre, und gerade an diesem war sein Geburtstag.
Die Matrosen tanzten auf dem Deck, und als der junge Prinz heraustrat, stiegen über hundert Raketen in die Luft empor. Niemals hatte die kleine Seejungfrau solche Feuerkünste gesehen. Ach, wie schön war doch der junge Prinz!
Es wurde spät, aber die kleine Seejungfer konnte die Augen nicht von dem Schiff und dem schönen Prinzen wenden, selbst als die Lichter gelöscht waren. Nun nahm das Schiff ein stärkere Fahrt auf. Die Segel breiteten sich eines nach dem anderen aus, und die Wogen gingen höher. Ein schreckliches Unwetter kündigte sich an. Die Wogen stiegen auf wie große, schwarze Berge, die alles zermalmen wollten, aber das Schiff tauchte wie ein Schwan auf und nieder und ließ sich wie eine Nussschale vom Wasser tragen.
Das Schiff knackte und krachte. Die dicken Planken bogen sich, der Mast brach, und das Schiff legte sich auf die Seite. Nun sah die kleine Seejungfer, dass die Seeleute in Gefahr waren. Sie musste sich selbst vor den Balken und Schiffstrümmern in Acht nehmen, die auf dem Wasser trieben. Und wenn es dann blitzte, wurde es so hell, dass sie alle auf dem Schiffe erkennen konnte. Jeder tummelte sich, so gut er konnte. Die kleine Seejungfrau hielt besonders Ausschau nach dem jungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff in das tiefe Meer verschwand. Sie erinnerte sich auch, dass Menschen nicht unter dem Wasser leben können. Nein, sterben durfte er nicht! Sie tauchte tief unter Wasser, und gelangte so unbeschadet zu dem jungen Prinzen, der in der stürmischen See kaum noch schwimmen konnte. Die kleine Seejungfrau hielt seinen Kopf über Wasser und ließ sich so von den Wogen mit ihm treiben, wohin sie wollten.
Am Morgen war das Unwetter vorüber. Vom Schiff war nicht ein einziger Span geblieben. Nun sah die kleine Seejungfrau das feste Land vor sich. Hohe blaue Berge tauchten am Horizont auf, auf deren Gipfel weißer Schnee schimmerte. Unten an der Küste zeigten sich herrlich grüne Wälder, und vorne an der Küste lag eine Kirche oder ein Kloster. Sie schwamm mit dem schönen Prinzen bis dicht zu den Klippen, wo der feine, weiße Sand angespült war. Dort legte sie ihn in den Sand, und sorgte dafür, dass der Sonnenschein ihn erwärmte.
Nun läuteten die Glocken in dem großen weißen Gebäude, und es kamen viele junge Mädchen durch den Garten. Da schwamm die kleine Seejungfer etwas weiter hinaus und versteckte sich hinter einem großen Felsen. Dann passte sie auf, wer zu dem armen Prinzen kommen würde.
Es dauerte nicht lange, bis ein junges Mädchen kam. Sie schien sehr erschrocken, und holte mehrere Leute. Die Seejungfer sah, dass der Prinz wieder zu sich kam und der vermeintlichen Retterin zulächelte. Wie sollte er auch ahnen, dass es in Wahrheit die kleine Seejungfrau gewesen war. Dann wurde der Prinz in das große Gebäude geführt und die kleine Seejungfrau kehrte betrübt zum Schloss ihres Vaters zurück.
Schon immer war sie still und gedankenvoll gewesen, aber nun wurde sie es noch weit mehr. Die Schwestern fragten sie, was sie das erste Mal dort oben gesehen habe, aber sie wollte es nicht erzählen. Manchen Abend und Morgen stieg sie zu der Stelle auf, wo sie den Prinzen verlassen hatte. Sie sah Früchte des Gartens reifen und sie sah den Schnee auf den hohen Bergen schmelzen, aber den Prinzen sah sie nicht.
Es war ihr einziger Trost, in ihrem kleinen Meeresgarten zu sitzen und ihre Arme um das schöne Marmorbild zu schlingen, das dem Prinzen glich, aber ihre Blumen pflegte sie nicht wie zuvor. Sie wuchsen wie in einer Wildnis. Doch zuletzt konnte sie es nicht mehr länger verschweigen und sagte es ihren Schwestern.
Unter den Seejungfern gab es eine, die genau wusste, wer der Prinz war und wo sein Königreich lag. "Komm, Schwesterchen", sagten die anderen Prinzessinnen, und stiegen mit ihr Arm in Arm in einer langen Reihe vor dem Schloss des Prinzen aus dem Meere empor.
Nun wusste sie endlich, wo er wohnte, und so brachte sie manchen Abend und manche Nacht dort auf dem Wasser zu. Manchmal sah sie den Prinzen mit Musik und wehenden Flaggen in seinem prächtigen Boot fortsegeln. Sie lugte zwischen dem grünen Schilf hervor, und wenn der Wind mit ihrem langen silberweißen Schleier spielte, dachte jeder, der es sah, es sei ein Schwan, der seine Flügel bewegte.
Mehr und mehr kam sie dazu, die Menschen zu lieben, und sie wünschte sich, selbst so zu werden. Die Menschenwelt erschien ihr weit größer als die ihre. Sie konnten zu Schiff über die Meere fliegen, auf die hohen Berge weit über den Wolken steigen, und ihre Länder erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter, als sie blicken konnte. Da war so vieles, was sie gerne wissen wollte, aber die Schwestern konnten ihr auf viele Fragen keine Antwort geben, Deshalb fragte sie die alte Großmutter.
"Wenn die Menschen nicht ertrinken", fragte die kleine Seejungfer, "können sie dann ewig leben? Sterben sie nicht, genau wie wir?" "Ja", sagte die Alte, "sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir gehen müssen, so werden wir in Schaum auf dem Wasser verwandelt und haben nicht einmal ein Grab hier unten zwischen unseren Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele, und wir erhalten auch nie wieder Leben.
Die Menschen dagegen haben eine Seele, die ewig lebt. Sie lebt, auch wenn der Körper zu Erde zerfallen ist. Sie steigt auf in der klaren Luft und zu all den schimmernden Sternen empor!"
"Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?", fragte die kleine Seejungfrau betrübt. "Ich würde alle meine hundert Jahre, die ich zu leben habe, dafür hingeben, einen Tag ein Mensch zu sein, um Teil zu haben an der himmlischen Welt! Kann ich denn gar nichts tun, um die unsterbliche Seele zu gewinnen?"
"Nein", sagte die Alte. "Nur wenn ein Mensch dich so lieb gewinnt, dass du für ihn mehr wirst, als Vater und Mutter, wenn er mit allen seinen Gedanken und seiner Liebe an dir hinge, und wenn er den Priester deine rechte Hand in seine legen ließe, dann würde seine Seele in deinen Körper überfließen, und du hättest Teil an dem Glücke der Menschen. Er gäbe dir eine Seele und behielte doch die eigene. Aber das kann niemals geschehen! Was hier im Meere gerade als schön gilt, nämlich dein Fischschwanz, das finden sie oben auf der Erde hässlich. Sie verstehen es eben nicht besser. Man muss dort zwei plumpe Säulen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!" Da seufzte die kleine Seejungfrau und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.
Aber bald dachte sie doch wieder an die menschliche Welt. Sie konnte den schönen Prinzen einfach nicht vergessen, und auch nicht ihren Kummer darüber, dass ihr die unsterbliche Seele fehlte. Deshalb schlich sie sich aus dem Schloss ihres Vaters, und saß betrübt in ihrem kleinen Meeresgarten. "Alles will ich wagen", dachte sie, "um ihn und meine unsterbliche Seele zu erlangen! Ich will zur Meerhexe gehen, vor der ich mich immer so gefürchtet habe. Vielleicht kann sie mir Rat geben und helfen!"
Nun ging die kleine Seejungfer aus ihrem Garten hinaus zu dem brausenden Malstrom, hinter dem die Hexe wohnte. Diesen Weg war sie nie zuvor gegangen. Da wuchsen keine Blumen und kein Seegras. Nur der nackte graue Sandboden streckte sich gegen den Malstrom, der brausend alles in die Tiefe riss. Mitten durch die zermalmenden Wirbel musste sie gehen, um in das Reich der Meerhexe zu gelangen. Dann gab es eine ganze Strecke keinen anderen Weg, als über den heißsprudelnden Schlamm, den die Hexe ihr Torfmoor nannte. Und dahinter lag ihr Haus, mitten in einem seltsamen Walde. Die kleine Seejungfrau blieb mit klopfendem Herzen draußen stehen, fast wäre sie wieder gegangen. Aber sie dachte an den Prinzen und an die Menschenseele, und das machte ihr frischen Mut. Sie gelangte an einen großen Platz im Walde, der mit Schleim bedeckt war. Große, fette Wasserschlangen wälzten sich herum, die ihre hässlichen, weißgelben Bäuche zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus aus den weißen Gebeinen der ertrunkenen Menschen errichtet. Da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte von ihrem Munde essen, gerade so, wie Menschen einen kleinen Kanarienvogel Zucker picken lassen. Die hässlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre kleinen Küken und ließ an ihrer Wange schmusen.
"Ich weiß schon, was du willst!", sagte die Meerhexe, "das ist zwar dumm von dir, aber du sollst trotzdem deinen Willen haben, denn er wird dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gerne deinen Fischschwanz los sein und dafür zwei Stümpfe wie die Menschen haben, damit der junge Prinz sich in dich verliebt und du eine unsterbliche Seele bekommen kannst!"
Die Hexe lachte so laut und scheußlich auf, dass die Kröte und die Schlangen zur Erde fielen und sich dort wälzten. "Du kommst gerade zur rechten Zeit", sprach die Hexe weiter. "Morgen, wenn die Sonne aufgeht, könnte ich dir nicht mehr helfen, bevor wieder ein Jahr um wäre. Ich will dir einen Trunk bereiten. Mit dem sollst du, bevor die Sonne aufgeht, ans Land schwimmen, dich ans Ufer setzen und ihn trinken. Dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zusammen zu dem, was die Menschen hübsche Beine nennen. Aber es tut weh, es wird sein als ob ein scharfes Schwert durch dich hindurch ginge. Alle werden dich für das liebreizendste Menschenkind halten, das sie je gesehen haben! Du behältst auch deinen schwebenden Gang und keine Tänzerin wird so schweben können, wie du! Aber jeder Schritt wird sein, als ob du auf ein scharfes Messer treten müsstest. Willst du dies alles erleiden, so werde ich dir helfen!"
"Ja!", sagte die kleine Seejungfer mit bebender Stimme und dachte an den Prinzen und die unsterbliche Seele. "Bedenke aber", sagte die Hexe, "hast du erst die menschliche Gestalt bekommen, so kannst du nie wieder eine Seejungfrau werden! Niemals wieder kannst du durch das Wasser zu deinen Schwestern niedersteigen und zum Schloss deines Vaters. Und wenn du die Liebe des Prinzen nicht erringst, sodass er Vater und Mutter vergisst und mit all seinen Gedanken nur an dir hängt, und wenn der Priester eure Hände nicht ineinander legt, so bekommst du keine unsterbliche Seele! Wenn der Prinz sich mit einer anderen vermählt, muss dein Herz am folgenden Morgen brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.""
"Ich will es!", sagte die kleine Seejungfrau und war bleich wie der Tod.
"Aber du musst mich auch bezahlen!", sagte die Hexe. "Es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die herrlichste Stimme von allen, hier unten auf dem Meeresgrunde. Damit wirst du den Prinzen bezaubern, hast du dir wohl gedacht, aber die Stimme musst du mir geben. Das Beste, was du hast, will ich für meinen kostbaren Trank! Ich muss ja mein eigenes Blut für dich geben, damit der Trank scharf wird, wie ein zweischneidiges Schwert!"
"Aber wenn du mir meine Stimme nimmst," fragte die kleine Seejungfrau, "was behalte ich dann übrig?" "Deine schöne Gestalt", sagte die Hexe, "deinen schwebenden Gang und deine sprechenden Augen. Damit kannst du schon ein Menschenherz betören! Na, hast du den Mut schon verloren? Streck deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie ab. Das ist die Bezahlung, und du bekommst den kräftigen Trank dafür!"
"Es geschehe!", sagte die kleine Seejungfrau, und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. "Reinlichkeit ist ein gutes Ding!" rief sie, und scheuerte den Kessel mit Schlangen ab, die sie zu einem Knoten gebunden hatte. Jeden Augenblick tat die Hexe neue Sachen in den Kessel, und als es recht kochte, nahm der Dampf die seltsamsten Gestalten an. Nun ritzte die Hexe sich selbst in den Arm und ließ ihr schwarzes Blut in den Kessel tropfen. Da war der Trank fertig, und er sah wie das klarste Wasser aus.
"Da hast du ihn!", sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfrau die Zunge ab. Nun war sie stumm und konnte weder singen noch sprechen.
Die Seejungfrau kehrte darauf zum Schloss ihres Vaters zurück. Alle schliefen, doch sie wagte nicht hinzugehen. Jetzt , wo sie stumm geworden war, wollte sie ihr Elternhaus auf immer verlassen. Es war, als ob ihr Herz vor Kummer zerspringen wollte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie das Schloss des Prinzen erblickte und die prächtige Marmortreppe emporstieg. Der Mond schien wundersam klar. Die kleine Seejungfrau trank den brennend scharfen Trank und es war ihr, als ob ein zweischneidiges Schwert durch ihre feinen Glieder ging. Sie wurde darüber ohnmächtig und lag wie tot da. Als die Sonne aufgegangen war, erwachte sie und fühlte einen schneidenden Schmerz. Aber gerade vor ihr stand der schöne, junge Prinz. Er heftete seine kohlschwarzen Augen auf sie, sodass sie die ihren niederschlug. Nun sah sie, dass ihr Fischschwanz fort war. Dafür hatte sie die niedlichsten kleinen, weißen Füßchen, die ein Mädchen nur haben kann. Aber sie war ganz nackt, darum hüllte sie sich in ihr langes, dichtes Haar. Der Prinz fragte, wer sie wäre, aber sie sah ihn nur traurig mit ihren dunkelblauen Augen an. Sie konnte ja nicht sprechen. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloss. Jeder Schritt, den sie tat, war, wie es die Hexe ihr vorausgesagt hatte.
Mit köstlichen Kleidern aus Seide und Musselin wurde sie nun bekleidet. Sie war die Schönste im Schlosse, doch sie blieb stumm und konnte weder singen noch sprechen. Nun tanzten die Sklavinnen lieblich schwebende Tänze zu der herrlichsten Musik. Da hob die kleine Seejungfrau ihre schönen, weißen Arme, erhob sich auf die Zehenspitzen und schwebte über den Boden hin. Sie tanzte, wie noch keine getanzt hatte. Bei jeder Bewegung offenbarte sich ihre anmutige Schönheit, und ihre Augen sprachen tiefer zum Herzen, als der Gesang der Sklavinnen.
Alle waren entzückt, besonders aber der Prinz. Er nannte sie sein kleines Findelkind, und sie tanzte immer weiter, obwohl sie jedes Mal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, einen tiefen Schmerz verspürte. Es war, als ob sie auf scharfe Messer träte.
Der Prinz sagte schon bald, dass sie immer bei ihm bleiben solle, und sie bekam die Erlaubnis, vor seiner Tür auf einem Samtkissen zu schlafen. Und er ließ ihr eine Knabentracht nähen, damit sie ihm auch zu Pferde folgen konnte. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die Zweige an ihre Schultern schlugen und kleine Vögel unter den frischen Blättern sangen. Sie kletterte mit dem Prinzen auf hohe Berge, obgleich ihre feinen Füße bluteten, dass selbst die anderen es sahen. Sie lachte aber darüber und folgte dem Prinzen, bis sie die Wolken unter sich dahinsegeln sahen, die gleich einem Vogelschwarm in fremde Länder zogen.
Im Schloss des Prinzen ging die Seejungfrau heimlich in der Nacht die breite Marmortreppe hinab. Es kühlte ihre brennenden Füße, im kalten Meereswasser zu stehen. Eines Nachts aber kamen ihre Schwestern Arm in Arm aus der Tiefe. Sie sangen so traurig, als sie über das Wasser dahinschwammen. Da winkte die kleine Seejungfrau ihnen zu, und die Schwestern eilten herbei und erzählten, wie traurig doch alle seien. Von nun an kamen die Schwestern jede Nacht.
Tag für Tag wurde die kleine Seejungfrau dem Prinzen lieber. Er hatte sie lieb, wie man ein gutes und liebes Kind gern hat. Es kam ihm aber nicht in den Sinn, sie zu seiner Königin zu machen. "Hast du mich nicht am liebsten von allen?", schienen die Augen der kleinen Seejungfrau zu fragen, wenn er sie in seine Arme nahm und sie auf die schöne Stirn küsste.
"Du bist mir die Liebste", sagte der Prinz, "denn du hast das beste Herz von allen. Du bist mir am meisten ergeben, und du gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah, aber gewiss nie wieder finden werde. Ich war auf einem Schiff, das unterging. Die Wogen trieben mich bei einem heiligen Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen die Tempeldienste verrichteten. Die Jüngste fand mich am Meeresufer und rettete mir das Leben. Ich sah sie nur zwei Mal. Sie ist die Einzige auf dieser Welt, die ich lieben könnte. Aber du gleichst ihr und verdrängst ihr Bild fast aus meiner Seele. Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, und darum hat dich wohl ein Glücksengel zu mir gesandt. Nie wollen wir uns trennen!" - "Ach, er weiß nicht, dass ich sein Leben gerettet habe!", dachte die kleine Seejungfrau. Und sie seufzte tief, denn weinen konnte sie nicht. "Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt, dann kommt sie nie in die Welt hinaus. Sie werden einander also nicht mehr begegnen. Ich dagegen bin bei ihm und sehe ihn jeden Tag. Ich will ihn pflegen, ihn lieben, ihm mein Leben opfern!"
Aber nun sollte der Prinz sich mit der schönen Tochter des Nachbarkönigs verheiraten, erzählte man. Deshalb wurde auch ein prächtiges Schiff ausgerüstet. Ein großes Gefolge sollte ihn begleiten, doch die kleine Seejungfrau schüttelte das Haupt und lächelte. Sie kannte die Gedanken des Prinzen weit besser, als alle anderen. "Ich soll reisen!", hatte er ihr gesagt. "Ich soll die schöne Prinzessin ansehen, wie meine Eltern es verlangen. Aber zwingen wollen sie mich nicht, sie als meine Braut heimzuführen. Ich kann sie ja auch nicht lieben! Sie gleicht nicht dem schönen Mädchen im Tempel, der du so ähnlich bist. Sollte ich einmal eine Braut wählen, so würdest eher du es werden, du, mein stummes Findelkind mit den sprechenden Augen!" Und er küsste ihren roten Mund, spielte mit ihren langen Haaren und legte sein Haupt an ihr Herz.
"Du hast doch keine Furcht vor dem Meere, mein stummes Kind!", fragte der Prinz, als sie auf dem prächtigen Schiffe standen. Und er erzählte ihr von Sturm und Windstille, von seltsamen Fischen in der Tiefe, und was ein Taucher dort gesehen hatte. Sie lächelte bei seiner Erzählung, sie wusste es ja besser als irgend ein Mensch hier oben auf der Erde.
In der mondklaren Nacht, als alle außer dem Steuermann schliefen, saß die kleine Seejungfrau an der Brüstung des Schiffes und starrte durch das klare Wasser hinab. Sie glaubte das Schloss ihres Vaters zu sehen. Da kamen ihre Schwestern über das Wasser empor, und sie schauten traurig zu ihrer Schwester und rangen ihre weißen Hände.
Am nächsten Morgen fuhr das Schiff in den Hafen des Nachbarkönigs ein. Alle Kirchenglocken erklangen, und von den hohen Türmen wurden die Posaunen geblasen, während Soldaten mit wehenden Fahnen und blinkenden Bajonetten salutierten. Jeder Tag brachte ein neues Fest. Bälle und Gesellschaften folgten einander, aber die Prinzessin war nicht da. Sie war weit entfernt von hier in einem heiligen Tempel erzogen worden, sagte man. Dort habe man sie alle königlichen Tugenden gelehrt. Es war schon eine Woche vergangen, da traf die Prinzessin ein.
Die kleine Seejungfrau war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie musste anerkennen, nie eine lieblichere Erscheinung gesehen zu haben. Die Haut der Prinzessin war fein und zart, und hinter den langen schwarzen Wimpern lächelten dunkelblaue, treue Augen.
"Du bist es!", rief der Prinz, "Du, die mich rettete, als ich wie tot an der Küste lag!" Und er schloss die errötende Braut in seine Arme. "Oh, ich bin allzu glücklich", sagte er zu der kleinen Seejungfrau. "Das Allerhöchste, auf was ich nie zu hoffen wagte, ist mir in Erfüllung gegangen. Sicher wirst du dich über mein Glück freuen, denn du meinst es ja am besten mit mir!" Und die kleine Seejungfrau küsste seine Hand, und sie fühlte fast ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen sollte ihr den Tod bringen und sie zu Meeresschaum verwandeln.
Alle Kirchenglocken läuteten. Herolde ritten durch die Straßen und verkündeten die Verlobung. Auf allen Altären brannten duftende Öle in kostbaren Silberlampen. Die Priester schwangen die Räucherfässer, und die Braut und der Bräutigam reichten einander die Hand und nahmen den Segen des Bischofs entgegen. Die kleine Seejungfrau stand in Gold und Seide gekleidet und hielt die Schleppe der Braut, aber ihre Ohren hörten nichts von der festlichen Musik. Ihre Augen sahen nicht die heilige Zeremonie. Sie dachte an ihre Todesnacht und an alles, was sie in dieser Welt verlor. Noch am selben Abend gingen Braut und Bräutigam an Bord des Schiffes. Dort sollte das Brautpaar in der kühlen, stillen Nacht schlafen.
Die Segel bauschten sich im Winde, und das Schiff glitt leicht und ohne große Bewegung über die klare See. Als es dunkelte, wurden bunte Lampen entzündet, und die Seeleute tanzten lustige Tänze auf dem Deck. Die kleine Seejungfrau musste an den ersten Abend denken, als sie aus dem Meere auftauchte und dieselbe Pracht und Freude gesehen hatte. Und sie wirbelte mit im Tanze. Es war die letzte Nacht, in der sie diese Luft atmen und das tiefe Meer und den blauen Sternenhimmel erblickten sollte. Ewige Nacht ohne Gedanken und Träume würde sie umfangen. Der Prinz aber küsste seine schöne Braut und zog sich Arm in Arm mit ihr zurück.
Es wurde ruhig und still auf dem Schiffe. Nur der Steuermann stand am Ruder. Die kleine Seejungfrau legte ihre weißen Arme auf die Schiffsbrüstung und sah nach Osten der Morgenröte entgegen. Der erste Sonnenstrahl, wusste sie, würde sie töten. Da sah sie ihre Schwestern aus dem Meere aufsteigen. Sie waren bleich wie sie selbst! Ihre langen schönen Haare wehten nicht mehr im Winde, denn sie waren abgeschnitten.
"Wir haben sie der Hexe gegeben, damit sie dir Hilfe bringt und du nicht sterben musst. Sie hat uns ein Messer gegeben. Hier ist es! Siehst du, wie scharf es ist? Bevor die Sonne aufgeht, musst du es dem Prinzen ins Herz stoßen. Und wenn sein warmes Blut über deine Füße rinnt, wachsen sie zu einem Fischschwanz zusammen und du wirst wieder eine richtige Seejungfrau sein. Dann kannst zu uns ins Wasser steigen und noch dreihundert Jahre leben, ehe du zu totem, kaltem Meeresschaum wirst. Beeile dich! Er muss sterben, bevor die Sonne aufgeht." Und sie stießen einen tiefen Seufzer aus und versanken in den Wogen.
Die kleine Seejungfrau zog den purpurnen Teppich vor dem Zelte fort und sah die schöne Braut. Ihr Haupt war zur Ruhe an der Brust des Prinzen gebettet. Da beugte sie sich nieder, küsste den Prinzen auf seine schöne Stirn und sah zum Himmel auf, wo die Morgenröte mehr und mehr aufleuchtete. Sie nahm das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traume den Namen seiner Braut flüsterte. Nur sie alleine lebte in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Hand der Seejungfrau. Dann aber schleuderte die kleine Seejungfrau das Messer weit hinaus in die Wogen. Dort, wo es eintauchte, glänzte es rot, als ob Blutstropfen aus dem Wasser quollen. Noch einmal sah sie mit brechenden Augen auf den Prinzen hinab, dann stürzte sie sich vom Schiff ins Meer und fühlte, wie ihre Glieder sich in Schaum auflösten.
Nun stieg die Sonne aus dem Meere empor. Ihre Strahlen fielen so mild und warm auf den todeskalten Meeresschaum, doch die kleine Seejungfrau fühlte nicht den Tod. Über ihr schwebten Hunderte von herrlichen, durchsichtigen Geschöpfen. Ihre Stimmen waren wie Musik, aber so geisterhaft, dass kein menschliches Ohr sie vernehmen konnte. Ohne Flügel schwebten sie durch ihre eigene Leichtigkeit in der Luft dahin. Die kleine Seejungfrau sah, dass sie einen Körper hatte, wie diese Wesen, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob. "Zu wem komme ich?", fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der anderen Wesen, so geisterhaft zart, dass keine irdische Musik es wiederzugeben vermag. "Zu den Töchtern der Luft!", antworteten die anderen.
"Die Töchter der Luft haben keine unsterbliche Seele, aber sie können sich durch gute Taten selbst eine schaffen. Wir fliegen zu den warmen Ländern, wo die schwüle Pestluft die Menschen tötet. Dort fächeln wir Kühlung. Wir verbreiten den Duft der Blumen durch die Lüfte und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang danach gestrebt haben, Gute zu tun, erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil an der ewigen Glückseligkeit der Menschen. Du, kleine Seejungfrau, hast von ganzem Herzen dasselbe erstrebt wie wir. Du hast gelitten und geduldet, und hast dich in die Welt der Luftgeister erhoben. Jetzt kannst durch dir selbst durch gute Werke eine unsterbliche Seele schaffen."
Die kleine Seejungfer hob ihre durchsichtigen Arme empor zu Gottes Sonne, und zum ersten Male fühlte sie Tränen in ihre Augen steigen.