Die nächsten Tage und Nächte sollten für mich zu einer schweren
Prüfung werden. Unter unwürdigsten Umständen, notdürftig
beherbergt zwischen fragwürdigen Veröffentlichungen, Tabakwaren,
Naschwerk und Getränkedosen, nachts auf einem leidlich, aber nicht
übermäßig sauberen Sessel gekrümmt, musste ich die Ereignisse der
letzten sechsundsechzig Jahre nachholen, ohne dabei ungünstige
Aufmerksamkeit zu erregen. Denn während andere sich wohl
stundenlang, tagelang fruchtlos den Kopf zermartert hätten mit
naturwissenschaftlichen Verständnisfragen, mit der vergeblichen
Lösung des Rätsels über diese ebenso fantastische wie unerklärliche
Zeitreise, war mein methodisch denkender Verstand zuverlässig in der
Lage, sich den Gegebenheiten anzupassen. Statt wehleidigen
Lamentierens nahm er die neuen Fakten hin und erkundete die Lage.
Zumal – um den Ereignissen kurz vorzugreifen – die veränderten
Bedingungen erheblich mehr und bessere Möglichkeiten zu bieten
schienen. So sollte sich etwa herausstellen, dass innerhalb der letzten
sechsundsechzig Jahre die Anzahl sowjetrussischer Soldaten auf
deutschem Reichsgebiet und insbesondere im Großraum Berlin
beträchtlich zurückgegangen war. Man ging nun von einer Zahl
zwischen etwa dreißig und fünfzig Mann aus, worin ich blitzartig für die
Wehrmacht eine außerordentlich verbesserte Erfolgsaussicht
erkennen konnte verglichen mit der letzten Schätzung meines
Generalstabs von etwa 2,5 Millionen gegnerischen Soldaten allein an
der Ostfront.
So spielte ich auch nur für einen kurzen Moment mit dem
Gedanken, Opfer eines Komplotts geworden zu sein, einer
Entführung, im Verlauf derer der feindliche Geheimdienst mir
möglicherweise einen aufwendigen Streich spielte, um mir so gegen
meinen eisernen Willen wertvolle Geheimnisse zu entlocken. Allein die
technischen Erfordernisse, eine völlig neue Welt zu schaffen, in der
ich mich ja auch noch frei bewegen konnte – diese Variante der
Realität war schier noch undenkbarer als die Wirklichkeit, die ich in
jeder Sekunde vorfand, mit Händen greifen, mit Augen sehen konnte.
Nein, in diesem bizarren Hier und Jetzt galt es den Kampf zu führen.
Und der erste Schritt zum Kampfe ist noch stets die Aufklärung.
Man kann sich unschwer vorstellen, dass die Beschaffung
verlässlicher neuester Informationen ohne die nötige Infrastruktur
beträchtliche Probleme bereitete. Die Voraussetzungen dazu waren
denkbar schlecht: In außenpolitischer Hinsicht standen mir weder die
Abwehr noch das Auswärtige Amt zur Verfügung, innenpolitisch war
ein Kontakt zur Geheimen Staatspolizei vorerst nicht leicht
umzusetzen. Auch der Besuch einer Bibliothek schien mir in der
allernächsten Zeit zu riskant. Insofern war ich auf die Inhalte
zahlreicher Publikationen angewiesen, deren Vertrauenswürdigkeit ich
freilich nicht überprüfen konnte, sowie auf Äußerungen und
Gesprächsfetzen von Passanten. Zwar hatte der Zeitungskrämer mir
freundlicherweise den Betrieb eines Radioapparates ermöglicht, der
aufgrund der zwischenzeitlichen Fortschritte der Technik zu unfassbar
geringem Umfange geschrumpft war – allein, es hatten sich die
Gepflogenheiten des Großdeutschen Rundfunks seit 1940
erschütternd geändert. Direkt nach dem Einschalten ertönte ein
infernalischer Lärm, häufig unterbrochen von unfassbarem,
vollkommen unverständlichem Geschwätz. Am Inhalt änderte sich in
der Fortdauer nichts, allein die Häufigkeit des Wechsels zwischen
Getöse und Geschwätz nahm zu. Ich entsinne mich minutenlanger
vergeblicher Versuche, den Lärm des technischen Wunderwerks zu
entschlüsseln, dann schaltete ich entsetzt ab. Ich saß wohl eine
Viertelstunde reglos, beinahe schockstarr, bevor ich beschloss, meine
Rundfunkbemühungen fürs Erste zurückzustellen. Insofern blieb ich
letzten Endes auf die verfügbaren Presseerzeugnisse
zurückgeworfen, deren vorrangigstes Ziel eine wahrhafte
geschichtliche Aufklärung nie gewesen ist und selbstverständlich auch
heute nicht sein konnte.