Doch trotz all ihrer anscheinend ruhigen Heiterkeit blieben Irmas Wangen blaß, und die schönen Augen blitzten nicht so lebenslustig wie früher. Oft schauten onkel Heinz und seine alte Freundin sich fragend und kopfschüttelnd an, und beständig kämpfte der Professor mit dem Wunsch, auf seine Manier dem Hangen und Bangen ein Ende zu machen und die beiden Liebenden mit Gewalt einander in die Arme zu führen. Es fiel ihm sehr schwer, dem Rat Ilses zu folgen, welche der Ansicht war, daß Übereilung wieder alles verderben könnte, und ihn deshalb bat, sich mit Geduld zu waffnen.
Es war nun völlig Herbst geworden. Auf den Gartenwegen raschelte das welke Laub, das vom Winde in tollem Tanz umhergewirbelt wurde, und noch immer schaute Ilse ihre Enkelin fragend an, und noch immer schüttelte diese niedergeschlagen das blonde Köpfchen. Endlich eines Morgens, als der Regen an die Scheiben klatschte und alles kalt und winterlich aussah, kam Irma zur Großmutter, die in ihrem Zimmer am Schreibtisch saß und mit dem Ordnen von Briefen und Rechnungen beschäftigt war.
„Großmama, ich möchte schreiben, aber ich weiß nicht was,“ sagte sie.
„Ist das so schwer, Kindchen?“ fragte die alte Dame, indem sie ihre freudige Überraschung hinter einer ruhigen Miene zu verbergen suchte.
„Ich habe wohl schon zwanzig Briefe geschrieben und sie immer wieder zerrissen. Ich bringe es nicht fertig.“
„Komm, setze dich hierher und versuche es noch einmal, Liebling. Ein paar Worte genügen.“
Das Mädchen ergriff die Feder. Ilse tat, als bemerke sie nicht, daß schon wieder mehrere Briefbogen in den Papierkorb wanderten.
Endlich sah sie, wie Irmas Hand rasch und erregt über das Papier glitt, und einen Augenblick später stand das Kind neben ihr.
„Lies, was ich geschrieben habe, Großmama, aber es wird nichts helfen.“
Ilse las:
„Hans, ich bin schon seit Wochen aus München zurück. Ich empfinde solch bittere Reue und sehne mich so nach Ihnen; wollen Sie kommen zu Ihrer Irma.“
„Ausgezeichnet,“ rief die Großmama. „Nun rasch den Umschlag geschlossen und den Brief abgeschickt. Morgen kommt er.“
„Nein, nein, er wird nicht kommen. Es steht nichts von ‚um Verzeihung bitten‘ drin.“
„Dummes Kindchen, das kannst du ja mündlich tun. Flink, hier ist eine Marke, schreibe du unterdessen die Adresse.“ Und schon klingelte Ilse nach dem Mädchen, das den Brief auf die Post bringen sollte.
In der Nacht schlief Irma nicht, und am nächsten Tage war sie so aufgeregt, daß die Großmama sich um sie sorgte. Den einen Augenblick war sie zufrieden mit dem, was sie getan hatte, und erging sich mit der alten Dame in allerhand herrlichen Vorstellungen, wie schön sich ihr Leben an Hans Reichers Seite gestalten würde. Dann wieder war sie unglücklich, zweifelte an seinem Kommen und klagte, daß die Großmama sie zu dieser furchtbaren Demütigung gezwungen habe. Wenn Hans auf ihren Ruf taub bliebe, würde sie das nicht überleben. Je mehr der Tag sich seinem Ende näherte, desto stiller und ängstlicher wurde sie. Sie saß da mit ganz blassem Gesichtchen und starrte mit unnatürlich großen Augen vor sich hin; so oft es klingelte, sprang sie erschreckt auf, so daß Ilse herzliches Mitleid mit ihr fühlte.
Es dunkelte schon, die Vorhänge waren zugezogen und das Gas angezündet, da wurde heftig die Glocke gezogen, und bei der Totenstille im Hause vernahm man deutlich eine tiefe, wohllautende Männerstimme. Zitternd umklammerten Irmas eiskalte Hände den Arm der Großmutter.
Das Mädchen kam herein und meldete Herrn Reicher.