„Großmama, onkel Heinz ist noch immer nicht da. Wir werden gewiß zu spät an die Bahn kommen.“
„Nein, Irma, du hast Zeit genug, die Fahrt dauert kaum zehn Minuten.“
„Ich hab' solche Sehnsucht nach den Cousinen aus Amerika. Was für einer herrlichen Zeit gehen wir entgegen, nicht wahr, Großmütterchen?“ Und in ausgelassener Fröhlichkeit flog das schlanke, siebzehnjährige Mädchen mit dem schönen, blonden Kraushaar und den dunkelblauen Augen der alten Dame um den Hals.
Mit innigster Liebe schaute die verwitwete Frau Ilse Gontrau ihre Enkelin an. Ihr feines, schmales, von schneeweißem Haar umrahmtes Antlitz trug einen wehmütigen Ausdruck, der jedoch durch ein freundliches Lächeln verklärt wurde.
„Ja, Kind, auch ich bin sehr glücklich, daß Tante Marianne und onkel Fritz aus Amerika zurückkommen und hier Wohnung nehmen wollen; ich sehne mich sehr danach, die Kinder kennen zu lernen.“
„Ist es nicht unbegreiflich, Großmama, daß onkel Fritz die beiden Mädchen und den kleinen Karl allein vorausschickt und die drei gar noch in Paris gewesen sind? So 'ne große Reise und solch junge Mädchen!“
„Das hat auch mich in Erstaunen versetzt, liebe Irma. Aber ich denke, wir werden uns noch über vieles wundern. Amerikanische Mädchen sind so ganz anders erzogen als deutsche.“
„Ah, da kommt onkel Heinz,“ rief Irma, die einen Wagen rollen hörte, und eilig lief sie hinaus.
„Wir wollen gleich gehen, Onkel, es ist schon spät.“
„Nur ruhig,“ versetzte die tiefe Stimme eines alten Mannes, „wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, Jungfer Ungeduld. Ich muß erst einen Augenblick aussteigen, weil mein Fuß nicht so lange in derselben Stellung aushalten kann.“
„Macht die Gicht dir wieder zu schaffen?“
„Ja, natürlich, meine alten Knochen benehmen sich wieder schauderhaft.“
Brummend stieg der Professor aus dem Wagen, humpelte, auf einen Stock gestützt, durch den Flur und trat in das von der Sonne hell erleuchtete Zimmer.
Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, sie hatten seine kraftvolle, breitschultrige Gestalt etwas gebeugt. Das faltige, von schlohweißem Haar und Bart umrahmte Antlitz zeigte oft einen barschen Ausdruck, denn es machte ihm Vergnügen, sich als launischen Brummbären aufzuspielen, aber die von buschigen, schwarzen Brauen beschatteten Augen konnten noch ebenso schalkhaft und humoristisch durch die goldene Brille gucken wie in jungen Jahren.
Von der Gicht gezwungen, die ihn oft wochenlang an den Sessel festbannte, hatte er sich vor längerer Zeit pensionieren lassen. Obwohl er mit Vorliebe behauptete, ganz überflüssig in der Welt zu sein und keinem Menschen etwas nützen zu können, so wußten seine Freunde, wenn sie auch niemals eine derartige Anspielung wagen durften, doch nur zu gut, daß er vielen unentbehrlich war und es in der ganzen Stadt keinen so hilfsbereiten, wohltätigen Mann gab wie den alten Professor Fuchs. —
„Guten Abend, Frau Ilse,“ sagte er, während Irma sich den Hut aufgesetzt hatte und vor Ungeduld zitternd neben ihm stand.
„Sie sind doch noch ausgestiegen? Warum machen Sie sich unnütz müde?“
„Papperlapapp, ich bin kein im Sterben liegendes Jungfräulein. Müde machen! Es ist nicht mehr als recht und billig, daß einer, der den ganzen Tag nichts tut, wenigstens seinen alten Beinen Bewegung macht.“
„Ja,“ entgegnete Frau Ilse zustimmend, denn sie kannte seine kleine Schwäche, bei dem unschuldigsten Widerspruch hitzig aufzufahren; „aber müssen Sie nun nicht gehen?“ fügte sie freundlich hinzu.
„Ach ja, Onkel,“ schmeichelte Irma.
„Na, kleine Kröte, dann komm nur. ‚Kröte‘, das sagte ich auch immer zu deiner Mutter. Und nun wollen wir die Kinder meines andern Lieblings abholen. Wir werden alt, Frau Ilse!“
„Wir sind alt, onkel Heinz, das Leben hat beinahe mit uns abgerechnet.“