Aber wie sollte man das Drama mit drei- bis viertausend handelnden Personen, wie eine Gesellschaft es darstellt, interessant machen? Wie sollte man zugleich dem Dichter, dem Philosophen und der Masse gefallen, die die Poesie und die Philosophie unter packenden Bildern verlangt? Waren mir die Bedeutung und die Poesie einer solchen Geschichte des menschlichen Herzens klar, so sah ich kein Mittel, sie auszuführen; denn bis auf unsere Zeit hatten die berühmtesten Erzähler ihr ganzes Talent darauf verwandt, eine oder zwei typische Gestalten zu schaffen, eine Seite des Lebens darzustellen. Mit diesem Gedanken las ich die Werke Walter Scotts. Walter Scott, dieser moderne »Finder« (Troubadour), verlieh einer Dichtungsgattung, die man zu Unrecht zweitrangig nennt, etwas Riesenhaftes. Ist es nicht in Wahrheit schwieriger, mit der Wirklichkeit durch Schöpfungen zu wetteifern, wie es Daphnis und Chloe, Roland, Amadis, Panurg, Don Quixote, Manon Lescaut, Clarisse, Lovelace, Robinson Crusoe, Gil Blas, Ossian, Julie d'Etanges, Mein onkel Tobias, Werther, René, Corinna, Adolphe, Paul und Virginie, Jeane Dean, Claverhouse, Ivanhoe, Manfred und Mignon sind, als Tatsachen aufzureihen, die bei fast allen Nationen die gleichen bleiben, nach dem Geist verschollener Gesetze zu forschen, Theorien aufzustellen, die die Völker in die Irre führen, oder wie gewisse metaphysiker zu erklären, was ist? Zunächst leben all jene handelnden Personen, deren Dasein dauernder, verbürgter wird als das der Generationen, in deren Mitte man sie geboren werden läßt, nur unter der Bedingung, daß sie ein großes Gemälde der Gegenwart sind. Sie sind dem innersten Wesen ihres Jahrhunderts abgelauscht, und also regt sich unter ihrer Hülle das ganze menschliche Herz; es versteckt sich in ihnen oft eine ganze Philosophie. Walter Scott erhob also den Roman zu dem philosophischen Wert der Geschichte; jene Literaturgattung, die von Jahrhundert zu Jahrhundert unsterbliche Diamanten einfügt in die Krone der Dichtung jener Länder, in denen die schönen Künste gepflegt werden. Er führte den Geist der alten Zeiten ein; er vereinigte in ihr das Drama, den Dialog, das Porträt, die Landschaft und die Schilderung; er wies dem Wunderbaren und dem Wahren seine Stellung an, jenen Elementen der Epik, und bei ihm berührte sich die Poesie mit der Vertraulichkeit der niedrigsten Sprache. Aber da er weniger ein System ersonnen, als vielmehr im Feuer der Arbeit oder durch die Logik der Arbeit seine Manier gefunden hatte, so war ihm nie der Gedanke gekommen, seine Dichtungen miteinander zu verknüpfen, so daß durch die Nebeneinanderordnung eine vollständige Geschichte entstand, deren jedes Kapitel ein Roman war und jeder Roman eine Zeitgeschichte. Als ich diesen Mangel der Bindung erkannte, der übrigens die Größe des Schotten nicht schmälert, sah ich zugleich das System, das der Ausführung meines Werkes günstig war, und die Möglichkeit, es auszuführen. Wenn ich auch sozusagen geblendet war durch die überraschende Fruchtbarkeit Walter Scotts, der sich stets gleich und stets originell bleibt, so verzweifelte ich doch nicht, denn ich fand die Wurzel dieses Talentes in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Menschennatur. Der Zufall ist der größte Romandichter der Welt: um fruchtbar zu werden, braucht man nur zu studieren. Die französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär. Wenn ich die Inventur der Laster und Tugenden aufnahm, wenn ich die hauptsächlichsten Daten der Leidenschaften sammelte, wenn ich die Charaktere schilderte, wenn ich die wichtigsten Ereignisse des sozialen Lebens auswählte, wenn ich durch die Vereinigung der Züge vieler gleichartiger Charaktere Typen schuf, so konnte es mir vielleicht gelingen, die von so vielen Historikern übersehene Geschichte zu schreiben: die der Sitten. Mit viel Geduld und großem Mut konnte ich über das Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts jenes Buch zustande bringen, nach dem wir alle uns sehnen, das uns Rom, Athen, Tyrus, Memphis, Persien und Indien unglücklicherweise über ihre Zivilisationen nicht hinterlassen haben, und das nach dem Beispiel des Abbé Barthélemy der mutige und geduldige Monteil für das Mittelalter zu schreiben unternahm, jedoch in wenig anlockender Form.