Goethe ist in gewissem Sinne leichter zu lesen, und wer liest ihn nicht? Obwohl er eine seiner tiefen und subtilen Einsichten aussprach, als er sagte, seine Schriften seien nicht geschaffen, populär zu werden, und ihr wahrer Gehalt werde immer nur einzelnen aufgehen, die ähnliches in sich durchgemacht hätten, so scheinen dieser Einzelnen heute so viele zu sein, daß die Wahrheit seines Wortes beinahe wieder aufgehoben ist. Aber wer sich eines seiner Werke aufs neue aneignen, wer »Hermann und Dorothea«, den »Wilhelm Meister«, die »Wahlverwandtschaften« genießen will, muß sich mit schon gereinigten Sinnen dem Buche nähern. Er muß viel von sich, von der Atmosphäre seines Lebens, draußen lassen. Er muß die Großstadt vergessen. Er muß zehntausend Fäden seines augenblicklichen Fühlens, Denkens und Wollens durchschneiden. Er muß sich auf seinen »verklärten Leib« besinnen, ich meine: auf sein Ewiges, sein Rein-Menschliches, sein Unbedingtes. Er muß der ewigen Sterne gedenken und sich durch sie heiligen. Dann freilich ist es beinahe gleichgültig, welches von Goethes Werken er aufschlägt: überall umfängt ihn die gleiche gesteigerte und verklärte Wirklichkeit. Ihn umgibt in Wahrheit eine Welt, ein Geist, der eine Welt ist. Die Deutungen und die Gestalten, eine Idee oder die Beschreibung einer Naturerscheinung, ein Vers oder Mignon oder Ottilie, alles ist die gleiche göttliche, strahlende Materie. Hinter jeder Zeile fühlt er den Bezug auf ein Ganzes, auf eine erhabene Ordnung. Die ungeheure Ruhe eines ungeheuren Reichtums legt sich beinahe bedrückend auf seine Seele, um diese Seele dann grenzenlos beglückend emporzuheben. – Aber dieser Arm, der zu den Sternen heben kann, umschlingt nicht jeden. Auch der lebendige Goethe gab sich nur wenigen und diesen nicht zu jeder Stunde. Wer mit unruhiger Hand danach greift, dem verschließt sich ein Gebilde wie die »Wahlverwandtschaften«, wie eine Muschel sich zuklappt. Solchen erscheint Goethe kühl, fremd, sonderbar. Er imponiert mehr, als er einnimmt. Sie verschieben es, ihn zu lesen – auf ruhigere Tage, oder auf eine Reise. Oder er macht, daß sie sich nach ihrer Jugend sehnen, nach einer höheren Empfänglichkeit. Er scheint ihnen künstlich, er, der die Natur selbst war, und kalt, er, dessen Liebesblick noch das starre Urgestein mit Wärme durchdrang. Sie suchen nach einer Vorbereitung, ihn zu genießen. Sie greifen nach einem Erklärer oder nach den wunderbaren Briefen und Gesprächen, in denen er sich selbst kommentiert, und erst auf diesem Umweg kommen sie wieder zu seinen Werken zurück. Nichts ist undenkbarer als ein Leser, der zu den Werken Balzacs auf einem indirekten Wege käme. Die wenigsten seiner zahllosen Leser wissen irgend etwas von seinem Leben. Die Literaten kennen über ihn einige kleine Anekdoten, die niemanden interessieren würden, wenn sie sich nicht auf den Autor der »Comédie humaine« bezögen, und den Briefwechsel mit einer Person, welcher fast nichts enthält als Bulletins über seine unaufhörliche, gigantische, mit nichts in der literarischen Welt zu vergleichende Arbeitsleistung. Es ist der stärkste Beweis für die ungeheure Kraft seiner Werke, daß wir diese endlosen Bulletins mit einer ähnlichen Gespanntheit zu lesen vermögen wie einen Feldzugsbericht Napoleons, in dem es sich um Austerlitz, Jena und Wagram handelt. Seine Leser kennen seine Werke und nicht ihn. Sie sagen »Peau de chagrin« und erinnern sich eines wachen Traumes, eines abenteuerlichen Erlebnisses, nicht der Leistung eines Dichters; sie denken an den alten Gonot und seine Töchter und besinnen sich nicht, wie der Verfasser heißt. Sie sind einmal in diese Welt hineingeraten, und neunzig auf hundert von ihnen werden immer wieder zu ihr zurückkehren, nach fünf, nach zehn, nach zwanzig Jahren. Walter Scott, den einmal die reifen Menschen mit Entzücken lasen, ist die Lektüre der Knaben geworden. Balzac wird immer (oder sehr lange, denn wer darf von »immer« sprechen) die Lektüre aller Lebensstufen bleiben, und der Männer ebensowohl wie der Frauen. Die Kriegsgeschichten und Abenteuer, die »Chouans«, »L'auberge rouge«, »El verdugo«, sind für die Phantasie eines Sechzehnjährigen die Ablösung der Indianergeschichten und des Kapitän Cook; die Erlebnisse der Rubempré und Rastignac sind die Lektüre des jungen Mannes; »Le lys dans la vallée«, »Savarus«, »Modeste Mignon« der jungen Frau; Männer und Frauen, die um Vierzig sind, die Reifen und noch nicht Verarmten, werden an das Reifste sich halten: an »Cousine Bette«, das grandiose Buch, das ich nicht finster nennen kann, obwohl es fast nur Häßliches, Trauriges und Schreckliches enthält, da es von Feuer, Leben und Weisheit glüht, – an »La vieille fille«, das eine über jedes Lob erhabene Plastik der Gestalten mit der profundesten Lebensweisheit vereinigt und dabei klein, rund, behaglich, heiter ist, in jedem Betracht ein unvergleichliches Buch, ein Buch, das stark genug wäre, für sich allein den Ruhm seines Autors durch die Generationen zu tragen. Ich habe einen alten Herrn die »Contes drôlatiques« preisen hören und habe einen andern alten Herrn mit Rührung von der Geschichte des Cäsar Birotteau sprechen hören, diesem stetigen Aufstieg eines braven Mannes, von Jahr zu Jahr, von Bilanz zu Bilanz, von Ehre zu Ehre. Und wenn es Menschen gegeben hat, die aus dem »Wilhelm Meister« die »Bekenntnisse der schönen Seele« herausschnitten und das übrige verbrannten, so hat es sicher auch den Menschen gegeben, der aus der »Comédie humaine« »Seraphitus-Seraphita« herausschnitt und sich daraus ein Erbauungsbuch machte, und vielleicht war ein solcher jener Unbekannte, der in Wien in einem Konzertsaal auf Balzac zudrängte, um die Hand zu küssen, die »Seraphita« geschrieben hatte.