Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich heisse Sie ganz herzlich willkommen zur neusten Ausgabe der Sendung "Typisch Helene". Heute ist der 30. September, und ich will jetzt nicht darüber jammern [1], dass die Zeit schon wieder so schnell vergangen ist. Ich habe nämlich das Gefühl, das sage ich immer wieder. Aber eigentlich stimmt das ja schon, oder nicht? Ich habe heute auf der Redaktion nämlich das erste Paket mit Weihnachtskarten bekommen. Das ist doch der beste Beweis dafür, dass auch andere Leute finden, dass die Zeit schnell vergeht. Ich habe die Karten natürlich sofort weggeworfen. Denn ich bin noch immer auf Sommer eingestellt. Weinachten muss jetzt noch ein bisschen warten. Aber wir warten natürlich nicht länger, sondern legen jetzt gleich los: Ich berichte Ihnen von den Krawallen [2] in Zürich, vom Kick beim Kampf, und von meinem Reit-Abenteuer im Kanton Jura.
Vielleicht haben Sie es in den Medien gesehen oder gehört, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: In Zürich hat es in den vergangenen Wochen Krawalle gegeben. Viele Zeitungen haben sogar von Unruhen und Gewalteskalationen geschrieben, und je nach dem hatte man sogar das Gefühl, im Krieg zu sein. So ist es mir auf jeden Fall ergangen: Ich befand mich [3] plötzlich mitten im Krieg. Ja, Sie haben richtig gehört: Mitten im Krieg. Und das kam so: Am Samstag den 17. September bin ich in Luzern gewesen und habe am Abend den letzten Zug nach Zürich genommen. Im Zug bin ich wie immer sofort eingeschlafen und bin erst wieder erwacht, als der Zug langsamer wurde und in Zürich in den Bahnhof eingefahren ist. Ich hatte meinen schweren Laptop dabei, war todmüde und hatte nur einen Wunsch: das letzte Tram zu erwischen und sofort nach hause zu fahren. Ich stieg also schnell aus dem Zug aus, ging quer durch den Bahnhof und eilte [4] auf den Ausgang zu. Mir ist zwar schon aufgefallen, dass es in der Bahnhofshalle ungewöhnlich viele Polizisten gab, viel mehr als sonst um diese Zeit, es war ja immerhin schon halb ein Uhr. Aber wie gesagt, ich war müde und hatte nur das Tram im Kopf, ich merkte sogar kaum, dass es regnete. Aber als ich dann an der Tramhaltestelle war, realisierte ich, dass in dieser Nacht gar keine Trams mehr kommen würden. "Alle Trams werden wegen eines Polizeieinsatzes gewendet oder umgeleitet [5]", hiess es auf den Schildern, und ich dachte "Scheisse!" Bitte entschuldigen Sie meine Worte, aber ich konnte eine Zeitlang wirklich nichts anderes denken, als "Scheisse!" Denn ich war nass und meine Laptoptasche wurde immer schwerer.
Plötzlich knallte es. Kleine Raketen flogen durch die Luft und dicker Rauch breitete sich aus. Wieder knallte es, junge Männer rannten durch den Rauch, sie waren schwarz vermummt [6], sie schrien, einige warfen Steine, einige schleuderten Holzbretter Richtung Central und Bahnhofstrasse. In der Bahnhofstrasse stand ein riesiges Gefährt, eine Mischung aus Katamaran und Panzer, seine Scheinwerfer [7] leuchteten stark, und als die jungen Männer näher rückten, begann das Gefährt dicke Wasserstrahlen zu werfen, es sah aus wie eine Riesendusche. Das Gefährt war ein sogenannter Wasserwerfer, ein Gerät, das die Polizei bei Krawallen einsetzt, um Randalierer zu vertreiben. Ich war fassungslos [8]. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich fragte einen jungen Mann, der neben mir stand, was denn hier bloss passiert. Er sagte irgendetwas von einer illegalen Party, drehte sich um - und rannte davon. Und dann - dann spürte ich es auch: Ein merkwürdiges Brennen in den Augen. Ein Beissen. Es war Tränengas! Ich hatte genug und rannte davon. Auf meinem Fluchtweg raste ein Mann im Business-Anzug auf mich zu, er war blass und wirkte furchtbar gestresst. Hinter ihm stritten drei junge Männer miteinander und begannen, aufeinander ein zu schlagen, noch weiter hinten standen Polizisten und wedelten wild mit den Händen [9]. Ich sollte verschwinden, hiess das. Und das tat ich auch. Ehrlich gesagt, ich bin mir in diesen Minuten vorgekommen wie im falschen Film. Ich inmitten von Tränengas und Wasserwerfern - und dabei wollte ich ja nur eines: Endlich schlafen gehen.
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Ja, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich habe mir nach diesen Erlebnissen lange den Kopf darüber zerbrochen [10], was wohl der Grund für diese Gewalt gewesen sein könnte. Der Taxifahrer, der mich dann schliesslich nach hause brachte, meinte, dass die Krawalle ein Zeichen der Wut seien. Die jungen Leute hätten genug vom teuren Leben in der Stadt Zürich und davon, dass sich so viele Menschen auf einen so engen Raum drängten. Das hätte ich ja noch verstehen können, obwohl ich finde, dass es gerade in einer Demokratie wie der Schweiz genügend Möglichkeiten gibt, seine Meinung zu sagen. Man kann eine Petition lancieren, eine Demonstration organisieren, oder irgendetwas, aber es genügt, wenn Feuerwerksraketen am 1. August, am Schweizer Nationalfeiertag, gezündet werden. Später habe ich aber erfahren, dass die jungen Männer keine politische Motivation für die Krawalle hatten. Sie hatten bloss den "Kick" gesucht, hatten sich mit der Polizei eine Schlacht liefern [11] wollen. Sie hatten gekämpft, weil sie es aufregend finden, zu kämpfen. Das hat mich sehr enttäuscht. Und dafür habe ich auch kein Verständnis. Ich meine, es hätte an diesem Abend Tote und Verletzte geben können. "Ja, das war total unnötig. Aber weisst du, Jungs sind halt manchmal einfach so", versuchte mir mein guter alter Freund Emilio die Sache zu erklären. "Die müssen ab und zu mal so richtig die Sau rauslassen [12]. Das habe ich früher auch getan." - "Ach, das glaube ich nicht", sagte ich. "Wenn die Jungs die Sau rauslassen wollen, können sie doch Boxen gehen, oder über die Berge rennen oder durch den Schlamm robben [13]. Aber einfach so sinnlos dreinschlagen? Das geht doch einfach nicht." - "Ja, du hast ja Recht, aber Jungs wollen kämpfen, sie wollen ihre Kräfte messen." - "Das sollen sie ja auch. Aber doch nicht so. Haben die denn am Samstag Abend gar nichts anderes zu tun, als sich mit der Polizei Schlachten zu liefern?" - "Denen ist vielleicht einfach langweilig." - "Sieht so aus." - "Eine kleine Schlacht mit der Polizei ist da natürlich schon sehr aufregend." - "Aber dumm." - "Stimmt, sehr dumm, sogar." - "Diese Jungs könnten ihre Energie doch für etwas Gutes einsetzen. Sie könnten zum Beispiel Wälder reinigen." - "Oder Seen putzen." - "Genau! Oder neue Wanderwege bauen." - "Oder den Bauern helfen, Kühe zu melken." - "Oder den Rasen in Fussballstadien mähen." - "Oder in Restaurants Kartoffeln schälen." - "Oder helfen, Strassen zu pflastern." - "Noch besser: Die Strassen putzen. Und zwar mit einer Zahnbürste!" - "Bitte?" - "Ja, mit einer Zahnbürste. Das mussten wir früher zur Strafe in der Rekrutenschule tun." - "Ach, ja?" - "Als ich mal zu spät vom Ausgang zurückgekommen bin, musste ich die Strasse vor der Kaserne mit einer Zahnbürste putzen. Mann, das war vielleicht hart!" - "Kann ich mir denken. Wie lange hast du denn dafür gebraucht?" - "Eine Woche. Zwei Stunden jeden Abend." - "Uff. Und danach?" - " Danach bin ich immer pünktlich gewesen."
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Und jetzt zum Schluss, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, entführe ich Sie noch in den Kanton Jura. Wie Sie vielleicht wissen, ist der Jura der jüngste Kanton der Schweiz. Die Jurassier haben sich 1979 vom Kanton Bern getrennt und sind seither eigenständig. Der Jura ist besonders bekannt für seine riesigen Tannenwälder und seine wunderschönen Weiden, auf denen sich ganze Pferdeherden tummeln [14]. Es sieht dort fast ein bisschen so aus, wie im Wilden Westen.
Vor kurzem war ich im Jura auf einer Reportage. Ich hatte die Aufgabe, über das Westernreiten zu berichten. Ich habe mich bereit erklärt, diese Reportage zu machen, weil ich als Teenager sehr viel geritten bin. Aber das ist ja leider ziemlich lange her, und das spürte ich dann auch. Denn als ich neben dem Pferd stand, war ich sehr nervös. Und ich wurde noch nervöser, als man mir sagte, dass das Pferd Paprika hiess. "Keine Sorge, Paprika ist das ruhigste Pferd im Stall", sagte der Reitlehrer. "Sie bockt [15] nicht, beisst nicht und rast auch nicht davon." Wir ritten also los. Es war mein erstes Mal in einem Westernsattel, und ich fühlte mich unsicher. Der Sattel [16] war gross wie eine Badewanne, und meine Füsse rutschten immer aus den Steigbügeln [17] heraus. Ich wurde noch unsicherer, als ich merkte, dass Paprika verärgert auf ein Pferd reagierte, das fremd in der Gruppe war. Sie legte die Ohren zurück und zeigte die Zähne. Ich versuchte, sie von diesem Pferd fern zu halten, mit dem Resultat, dass sie dafür den anderen Pferden umso schneller hinterher trabte [18]. Ich schwitzte, denn ich ahnte, dass ich Paprika nichts zu sagen hatte. Sie hörte nicht auf mich, sondern tat, was sie wollte. Sie wusste nämlich genau, dass ich unsicher war und nützte dies schamlos aus. Den ultimativen Beweis dafür erhielt ich beim Galopp: Kaum hatte der Reitlehrer den Befehl zum Galoppieren gegeben, raste Paprika los, überholte alle Pferde in der Gruppe und wurde immer schneller. Ich klammerte mich an ihrer Mähne [19] fest, versuchte verzweifelt die Balance zu halten und zog an den Zügeln [20]. Doch das nützte nichts. Paprika tat, als wäre ich gar nicht da. Sie wurde erst langsamer, als sie realisierte, dass die anderen Pferde weit hinter ihr waren. "Aha, ich denke, Paprika ist besonders scharf heute", sagte der Reitlehrer. "Sie gibt richtig Gas, gell?" Ich nickte keuchend und setzte mich wieder im Sattel zurecht. Ich hoffte, dass wir nur noch im Schritt weiter reiten würden, aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Schuld daran war mein Fotograf, der am Ende der Galoppstrecke auf uns wartete. "Wow, das war ja super!", rief er. "Was für ein Tempo! Könnt ihr noch ein paar Mal hin und her galoppieren? Genauso wie vorher? Ich brauche noch Actionbilder." Nein! Ich schwitze noch mehr, meine Hände bluteten, weil ich die Zügel so fest gehalten hatte. Aber es half nichts. Wir galoppierten die Strecke noch dreimal. Und mir zittern die Beine bis heute.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, nach diesem Drama wars schon wieder für heute. Wir hören uns wieder am 14. Oktober auf www.podclub.ch. Dann geht es unter anderem um die richtige Wurst beim Wandern in den Bergen. Sie werden sehen, das wird lecker [21]! Ich freue mich, auf Sie. Bis dann. Auf Wiederhören!
[1] jammern: sich beklagen über
[2] der Krawall: Unruhen
[3] sich befinden: an einem Ort sein
[4] eilen: schnell gehen, pressieren
[5] umleiten: den Weg verändern
[6] vermummen: verhüllen
[7] die Scheinwerfer: starke Lampen
[8] fassungslos: sehr erstaunt
[9] mit den Händen wedeln: gestikulieren
[10] sich den Kopf zerbrechen über: intensiv nachdenken über etwas
[11] sich eine Schlacht liefern mit: kämpfen mit
[12] die Sau rauslassen: sehr übermütig sein
[13] robben: kriechen
[14] sich tummeln: gemütlich herumspazieren
[15] bocken: wenn das Pferd versucht, den Reiter abzuwerfen
[16] der Sattel: Sitz auf dem Pferd
[17] der Steigbügel: Stütze für die Füsse des Reiters
[18] traben: mittleres Schrittempo eines Pferdes
[19] die Mähne: Haare der Pferde
[20] die Zügel: Leinen, mit denen man ein Pferd "steuert"
[21] lecker: gut, fein