Nach der Hinrichtung tut das Regime alles, um sein Werk vergessen zu machen, aber seine Anhänger verstecken seine Texte auf Dachböden und in Schränken, sie bewahren Fotoreihen der Etüden auf, die ihren Weg bis in den Westen finden und lehren andere Schauspieler heimlich die Biomechanik. In den 1980er-Jahren entsteht das erste Video, in dem die Etüden vollständig gezeigt werden - eine Offenbarung für Meyerhold-Anhänger aus aller Welt und ein Wendepunkt in der Rezeption des russischen Theaterpioniers: 1991 eröffnet schließlich das Meyerhold-Zentrum in Moskau, und in Deutschland steht die Biomechanik mittlerweile an einigen Schauspielschulen auf dem Lehrplan.
Zunächst fasziniert Wsewolod Meyerhold mit seinen neuartigen Theaterproduktionen im revolutionären Russland. Doch dann fällt er mit seiner Bewegungslehre der "Biomechanik" in Ungnade. Am 20. Juni 1939 wird er verhaftet.
Der Mann auf den Polizeifotos hat Geheimratsecken, sein Hemdkragen ist verrutscht, und er trägt ein helles Jackett. Seine Augen blicken nachdenklich aber auch ein wenig ungläubig in die Kamera. Es ist der 20. Juni 1939, als der russische Regisseur und Schauspieler Wsewolod Meyerhold verhaftet wird - bis vor wenigen Jahren war er noch der gefeierte Theaterpionier des Sowjet-Reichs gewesen.
Bewegung fast in Zeitlupe
Seine ersten Anfänge macht Meyerhold als Schauspieler - 1898 wird er in das Ensemble des neugegründeten Moskauer Künstlertheaters aufgenommen. Er ist der Musterschüler des berühmten Stanislawski - spielt fast alles, von Tschechows "Die Möwe" bis zu Sophokles‘ "Antigone". Realismus - das ist das Credo Stanislawskis zu dieser Zeit. Der Regisseur lässt am Künstlertheater die gesamte Bühne bis ins Detail hinein dekorieren. Alles soll für die Schauspieler möglichst echt sein. Revolutionär.
Ab 1902 hat Meyerhold genug von Moskau, und er beginnt, selbst als Regisseur zu arbeiten. Jetzt beginnt der Abschnitt in seinem Leben, der ihn zu einem der bedeutendsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts machen wird - zu einem "Zauberer der Bühne", wie der Filmregisseur Sergej Eisenstein später schwärmt. Meyerhold verlangt von seinen Schauspielern ein neuartiges Spiel - in Zeitlupe, fast wie Fresken bewegen sie sich über die Bühne, der wenige Text wird fast ausdruckslos gesprochen. Meyerhold entwickelt eine Reihe von Körperübungen - ähnlich musikalischen Etüden, die im weitesten Sinne an so etwas wie Tai Chi erinnern. Es sind festgelegte Bewegungsabläufe, die seine Schüler immer und immer wieder üben, sie perfektionieren bis zum letzten Fingerzucken. "Biomechanik" tauft Meyerhold sein System. Nur der Schauspieler, der seinen Körper und seine Stimme völlig unter Kontrolle hat, der kann wirklich spielen auf der Bühne, da ist er sich sicher. Sein Theater will keine Realität abbilden, sondern symbolhaft den Alltag zeigen, übertrieben und abgewandelt und so das Publikum zum Nachdenken anregen.
Auf Dachböden und in Schränken versteckt
Nach der Revolution 1918 ist Meyerhold ein Liebling der Sowjet-Regierung. Doch so schnell sein Stern im neuen Russland steigt - so schnell fällt er auch wieder. Meyerholds Produktionen in Moskau gefallen Stalin nicht, die Bolschewiken werfen ihm vor, seine Stücke hätten keine politische Relevanz, sie seien zu abstrakt. 1938 wird sein Theater geschlossen. Er wird verhaftet, gefoltert und gezwungen, absurde Geständnisse zu unterschreiben, die er später widerruft. Seine Frau Sinaida Raich, ebenfalls Schauspielerin, wird unter ungeklärten Umständen in der gemeinsamen Moskauer Wohnung erstochen aufgefunden. Das Urteil im Februar 1940 lautet: Meyerhold sei ein Spion und Trotzkist. Einen Tag später wird er erschossen.
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