26 eingefrorene Kinderleichen fand man im Laufe von 100 Jahren auf den Gipfeln der Anden. Was war ihre Geschichte? Die Mumie des Jungen vom Berg El Plomo gab die ersten Antworten… Autorin: Christiane Neukirch
Der Junge war sieben Jahre alt, als sein neues Leben begann.
Bis dahin hatte er im Tal gelebt; seine Eltern waren arm, wie fast alle Menschen der Provinz im Schatten der Berge. Dann war der Mann gekommen, ein Fremder in einem sonderbaren Gewand, in Begleitung mehrerer Würdenträger. Er hatte lange mit den Eltern des Jungen geredet. Dann hatte der Tross ihn mitgenommen. Die Mutter hatte beim Abschied gesagt: "Nicht traurig sein. Du bist etwas Besonderes!" Die Männer führten ihn nach Cuzco, die Hauptstadt.
Gaben für die Götter
Der Inka persönlich, der mächtige Herrscher des Reiches, veranstaltete ein Fest für ihn, es gab jede Menge Fleisch zu essen und sogar Bier. Dann ging es noch einmal auf eine lange Wanderung: 2000 Kilometer weit, zu Fuß, zum Bergmassiv des El Plomo.
Wusste der Junge da schon, was mit ihm geschehen würde? Wozu er ausersehen war?
Wir schreiben das Jahr 1500. Das Reich der Inka erstreckt sich im Westen Südamerikas fast über die gesamte Länge des Kontinents, gesäumt von den Bergmassiven der Anden. Um die 6000 Meter hoch ragen die Gipfel über allem. Von dort kommen auch die Naturgewalten, denen die Menschen ausgesetzt sind. Für sie ist klar: Die Berge sind Götter, genannt "Apu". Sie entscheiden über Wind und Wetter, Wohl und Wehe der Menschen und - nicht zuletzt - Macht und Einfluss der Herrscher. Die Götter gilt es mit reichen Opfergaben gnädig zu stimmen. Zweimal im Jahr, an den Tagen der Sonnenwende, bedarf es besonders kostbarer Gaben. Und das Kostbarste, was es gibt, sind Kinder.
Wie aber bringt man als Herrscher Eltern dazu, ihre Kinder zu opfern? Eine Möglichkeit: mit Drohungen. Eine andere: mit Versprechen für die Zukunft.
Eine Mischung aus beiden wirkte: die Eltern sollten mit dem Opfer ihre Sünden reinwaschen; ihr gespendeter Nachwuchs erhielt den Status eines Heiligen und die Familie hohes Ansehen. So sagte man ihnen. Trauer durften sie nicht zeigen: denn ihrem Kind wurde ja besondere Ehre zuteil.
Heilige Kinder
Der Junge war unterdessen am El Plomo angekommen. Ein Jahr lang dauerte sein neues Leben. Er bekam feine Speisen und durfte so viel essen wie er konnte, Alkohol gab es auch, und Kokablätter gegen Höhenkrankheit und Kältegefühl. Beides würde auf dem letzten Stück der Reise eine Rolle spielen. Deren Ziel lag nämlich in 5400 Metern Höhe nahe dem Berggipfel. Der Weg war nicht weit, aber beschwerlich. Er führte über schroffe Felsen, überquerte gefährliche Gletscher und endete an einem Höhlengrab. Betäubt von Alkohol und Drogen setzte sich der Junge in das Loch, das für ihn bestimmt war. So schlief er vermutlich ein, ehe er erfror.
450 Jahre lang saß der Junge vom El Plomo in seinem Grab. Dann kamen die Plünderer. Am 1. Februar 1954 fanden sie den toten Körper, noch frisch erhalten durch die Kälte und die trockene Bergluft. Es war die erste von über 20 Kinderleichen, die wissenschaftlich untersucht wurden und so die Spur zu den Opferbräuchen der Inka lieferten. In den 90er Jahren wurden mehr Kinder gefunden. In akribischer Kleinarbeit sammelten die Forscher Hinweise, die ihnen die Mumien lieferten, und setzten daraus das Puzzle ihrer Geschichte zusammen.