Er legte den Telefonhörer sanft zurück auf die Gabel und folgte mit den Blicken seiner Hand, die langsam und bedächtig, fast zeitlupenartig, nach seinem schwarzen Füllfederhalter griff, um dann mit präzisen, entschlossenen Bewegungen seine Unterschrift unter das Blatt Papier zu setzen. Die Feder krächzte wie Fingernägel, die über eine glatte Oberfläche fuhren. Er erhob sich zitternd vom Schreibtischstuhl und griff nach seiner Waffe, dann blickte er noch lange starr auf das Foto neben der Schreibtischlampe, unterdrückte seine Tränen und drehte sich schließlich abrupt zur Tür. Hinter ihm fiel die Tür knarrend ins Schloss. Er zuckte zusammen. Das Geräusch war laut. Zu laut in der Stille des Hauses. Er ging weiter den Flur entlang in Richtung seiner Bibliothek. Der Flur war düster, passte also genau zu seiner Stimmung.
Habe ich auch an alles gedacht? Das Testament und der Abschiedsbrief liegen bereit. Was mein Sohn sich wohl von seinem Erbe kaufen wird? Vermissen wird er mich sicherlich nicht. Wir haben uns nie nahe gestanden. Warum eigentlich nicht? Die Frage hängt schwer in der Luft.
Er hatte das Zimmer erreicht und trat ein, blickte über die großen Regale voller Bücher. Hier saß er immer, wenn es ihm nicht gut ging oder er Ruhe brauchte. Wie vor sechs Monaten als seine liebe Frau bei einem Unfall starb. Ein betrunkener Autofahrer war zu schnell gefahren und hatte sie nicht gesehen. Sie starb noch an der Unfallstelle. Zu der Zeit saß er oft hier und dachte über sein Leben nach und wie schnell es vorbei sein konnte. Ein leichtes Frösteln durchfuhr ihn, dabei waren alle Türen und Fenster fest verschlossen.
Kann ich das überhaupt? Ob ich in der Lage bin, so was zu tun? Ich weiß es nicht. Seine Gedanken schweiften zu dem eben geführten Telefonat. Was er sich wohl gedacht hat, als ich anrief? Ob er mir überhaupt geglaubt hat oder ob er dachte, ich scherze? Macht er sich Sorgen um mich? Vielleicht denkt er ja auch ich bin ein alter Narr, der es schon noch verkraftet, dass seine Frau tot ist. Aber er hat ja keine Ahnung. Er hat so wenig Ahnung von mir wie ich von ihm. Das Quietschen einer Tür riss ihn aus seinen Gedanken und er fuhr erschrocken zusammen. Bestimmt ist es nur ein Nachbar. Also, mein Sohn weiß nichts von mir und ich nichts… . Was war das? Ein Geräusch. Aber welches? Lauschen. Angespannt. Nichts. Da ist es wieder. Schritte. Es sind Schritte. Sie kommen, sind nicht weit entfernt. Kommen hoch hierhin zu mir, zu meiner Wohnung. Sie sind da. Kein Geräusch. Stille. Dann ein zögerliches Klopfen und eine Stimme: "Vater bist du da? Antworte mir."
Nicht antworten, bloß nicht weich werden, ich mache jetzt keinen Rückzieher mehr.
Er setzte sich in seinen Lieblingssessel, achtete nicht auf das Klopfen und Rufen. Er dachte nur an seine Frau, die er vor fünfundvierzig Jahren geheiratet hatte und daran, wie nah er ihr bereits war. Und bald, bald würde er ganz bei ihr sein. Er schaute noch ein letztes Mal auf die Stadt, durch sein Fenster in seiner Wohnung, im zweiten Stock. Er sah glückliche Leute. Pärchen aber auch Alleinstehende. Es machte ihn traurig. Er hörte noch ein letztes Mal die Stimme seines Sohnes, die hysterisch schrie: "Tu das nicht. Mach die Tür auf ..." Er nahm die Waffe in den Mund und drückte ab. Seine Gedanken waren bei seiner toten Frau.