1
Stefanie Haberland war das dritte Kind, das in diesem Jahr spurlos verschwand. Sie war am 23. April, einem frühsommerlich warmen Sonntag, um 15.00 Uhr zu ihrer Freundin Janine aufgebrochen und nicht dort angekommen.
Bemerkt wurde ihr Fehlen erst um 17.30 Uhr, als Stefanies Eltern bei der Familie Gebhardt anriefen, um ihre Tochter an den Aufbruch zu erinnern, denn um 18.00 Uhr wollten sie zu Abend essen. Um 17.32 begann die Suche, zunächst suchte nur die Familie, die aufgeregten Eltern und der ernstlich besorgte große Bruder Benjamin. Sie klingelten bei allen Nachbarn in der sonntäglich verschlafenen Straße. Niemand hatte Stefanie gesehen. Sie hatte sich auf dem nur 600 Meter weiten Stück zwischen den beiden Häusern offensichtlich in Luft aufgelöst.
Benjamin war elf, und er liebte seine fünfjährige Schwester. Er rannte zum Spielplatz, rannte zur Uferpromenade, schließlich zum verwilderten Park am Stadtbach. Doch Stefanie war an keinem ihrer Lieblingsplätze.
Um 17.53 informierten die Haberlands die Polizei, sie wurden sofort zu Herrn Schöffler durchgestellt, der die Ermittlungen zu den beiden bereits vorher verschwundenen Kinder leitete.
Er saß oft sonntags in seinem Büro, da er alleinstehend war und in seiner Arbeit die Erfüllung fand, die er brauchte. Seine Aufgaben waren naturgemäß in der Regel nicht angenehm, aber er erfüllte sie mit großer Sorgfalt und Genauigkeit. So reagierte er auch jetzt überlegt und umsichtig, schickte sofort einen Polizisten zu den Haberlands, um ein aktuelles Foto und genaue Angaben zu bekommen. Dann rief Schöffler in Magdeburg an.
Rothberg verfügte nur über drei eigene Polizeifahrzeuge, es war eine kleine Stadt, in der gewöhnlich nicht viel los war. In besonderen Fällen, und dies war nun schon der zweite, seit Schöffler nach Rothberg versetzt worden war, kamen die Magdeburger Kollegen zu Hilfe. Auch bei dem Attentat auf das Hotel Mühle hatte er unverzüglich Unterstützung bekommen. Er dachte nicht gerne daran zurück.
Seine Mitarbeiter hatten beobachtet, dass ihr Vorgesetzter einen bitteren Gesichtsausdruck bekommen hatte, seit die junge Frau vor der Polizeiwache irrtümlich erschossen worden war. Er hatte ihren sinnlosen Tod nicht verhindern können, niemand hatte ihm jemals eine Mitschuld zugewiesen, aber die Gewissensqualen waren geblieben. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass Marina Rösch hinausrennen würde, bevor er den Scharfschützen mitteilen konnte, dass der Verdacht gegen sie unbegründet war. Aber er war überzeugt, dass ein guter Polizist mit allem zu rechnen hatte, und dieser kleine Fehler ließ sich nicht mehr korrigieren. Sie war vor seinen Augen gestorben.
In diesem neuen Fall wollte er auf keinen Fall wieder einen Fehler machen.
Am 26. März war Mario Wandert verschwunden, am 19. Februar Sabine Marx. Die Vermissten waren alle fünf Jahre alt.
Um 18.30 Uhr fuhr der Lautsprecherwagen los, um Stefanies Beschreibung bekannt zu machen und die Bevölkerung um Mithilfe zu bitten. Um 19.47 Uhr begannen die Männer der Polizei und des Bundesgrenzschutzes, unterstützt von zahlreichen Freiwilligen, Rothberg und die nähere Umgebung zu durchsuchen. Sie suchten gründlich, nahmen Spürhunde mit, befragten jeden, den sie trafen, zeigten das Foto des Kindes. Es war umsonst. Sie fanden Stefanie nicht.
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Am Montag erschien die Rothberger Zeitung mit einem großen Foto von Stefanie auf der Titelseite, darunter zwei kleinere Bilder von Mario und Sabine. "Wo sind unsere Kinder?" fragte die Schlagzeile in dicken Lettern. "Polizei ratlos!" stand darunter in Rot. Der Artikel forderte die Bevölkerung auf, sachdienliche Hinweise und Beobachtungen zu melden, eine Belohnung von 5.000 Euro war ausgesetzt worden.
Am Dienstag und Mittwoch saß Schöffler fast ohne Pause mit seinen Mitarbeitern vor einem ständig wachsenden Berg von Zuschriften und Telefonnotizen. Es war nichts dabei, was Aussicht auf Erfolg versprochen hätte. Dafür gab es jede Menge Verrückte, die ihre Meinung anonym oder offen zum Besten gaben.
Auch bei der Zeitung gingen, wie unmittelbar nach den beiden ersten Entführungen, Briefe ein, in denen selbsternannte Hellseher und andere Spinner ihr "wichtiges Wissen" anboten.
Die Redaktion war um Seriosität bemüht, keine der abenteuerlichen Theorien wurde veröffentlicht. Zumindest nicht von Rothbergs Tageszeitung. Mehrere Billig-Blätter aus dem Umland dagegen steigerten ihre Auflage mit Titeln wie "Der Sonntags-Würger von Rothberg", "Rothberger Sexmonster holt Kinder" oder "Kinderfresser in Rothberg".
3
Am Mittwoch versammelte sich das ABC an seinem geheimen Treffpunkt. Anja Krüger, zwölf Jahre alt, Benjamin Haberland, Stefanies dreizehnjähriger Bruder, und der zwölfjährige Carsten Winter hatten im letzten Herbst einen Platz gefunden, wo sie ungestört spielen konnten. Die Hotelruine an der Uferpromenade war zwar von einem soliden Bauzaun aus dicken Brettern umgeben, aber an der Rückseite gab es einige lockere Bohlen, durch die sie sich zwängen konnten.
Natürlich war es streng verboten, das Gelände zu betreten, da nicht auszuschließen war, dass die vom Sprengstoff beschädigten Mauern einstürzten. Das Haus sollte abgerissen werden, aber es gab bürokratische Hindernisse, Versicherungsfragen, die Erben des in den Flammen gestorbenen Besitzers stritten mit ehemaligen Besitzen aus DDR-Zeiten um ihre Ansprüche - die Ruine blieb stehen und war der ideale Spielplatz für das ABC. Wer den Namen erfunden hatte, war nicht ganz klar, jedenfalls waren die drei Freunde Anja, Benjamin und Carsten gemeint, wenn in Rothberg vom ABC die Rede war. Sie hatten nichts dagegen.
"Keine Spur von Stefanie", sagte Benjamin mit ziemlich wackeliger Stimme. "Nichts. Absolut nichts."
"Wir müssen was unternehmen. Die Polizei wird sie nie finden. Die haben auch die anderen beiden nicht gefunden." Anja sah ihre Freunde auffordernd an.
"Und was sollen wir machen?"
Sie saßen an die Mauer gelehnt auf dem ehemaligen Parkplatz. Die Sonne wärmte bereits angenehm, von jenseits des Zaunes waren die üblichen Geräusche zu hören. Ein paar Vögel hatten das Hotel als Heimat gewählt und flogen eifrig ein und aus. Unkraut eroberte das Gebäude und das Grundstück.
"Wir lassen uns was einfallen. Heute ist keine Zeit, ich muss sofort nach Hause, sonst gibt's großen Ärger." Carsten hatte recht, sie mussten alle drei schnell weiter. "Treffen wir uns am Samstag?"
"Okay. Samstag um 14.00 Uhr bei mir, dann können wir zu dritt hierher losziehen", schlug Anja vor.
"Einverstanden." stimmte Benjamin zu.
Sie schlüpften durch die enge Lücke und eilten nach Hause.
4
Stefan Wernsdorff saß an seinem Computer und starrte auf den Bildschirm. Er hatte die ersten fünf Kapitel seines neuen Romans vollendet. Diesmal würde es ein Bestseller werden, da war er sicher. Der erste Krimi war in kleiner Auflage gedruckt worden und tauchte gelegentlich noch auf den Wühltischen der Kaufhäuser auf. Ein erfolgreicher Schriftsteller war er keinesfalls. Bisher. Nun würde sich alles ändern. Er schrieb über die verschwundenen Kinder von Rothberg.
Während er sich eine Zigarette anzündete, überflog er nochmals den letzten Absatz, den er getippt hatte. Es war soweit, er musste sich entscheiden, wer der Täter in seinem Buch sein sollte. Aber das würde er heute nicht mehr tun, er hatte einen Termin bei seinem Arzt. Er schaltete den PC aus und machte sich auf den Weg. Der Magen schmerzte.
5
Schöffler war entmutigt, aber er gab nicht auf. Er gab nie auf. Er schickte Polizisten, sprach selbst mit Nachbarn der betroffenen Familien, suchte nach Gemeinsamkeiten bei den Opfern. Es gab keine, außer dem Alter und der Tatsache, dass es jeweils Sonntagnachmittag gewesen war, als sie zuletzt gesehen wurden.
Mario Wandert war bei einem Spaziergang am Waldsee seinen Eltern aus den Augen gekommen. Die Eltern hatten vergeblich hinter Bäume und Gesträuch geschaut. Taucher hatten den See abgesucht, der Wald war durchkämmt worden, alles ohne Erfolg. Im See hatte man vom versenkten Trabbi bis zum Gartenstuhl aus der verlassenen Pension Seeblick alles Erdenkliche gefunden, aber keine toten Kinder.
Sabine Marx hatte mit einer Freundin auf dem Spielplatz getobt. Die Freundin war zu Hause angekommen, Sabine nicht. Auch in diesem Fall gab es keine Hinweise, keine einzige Spur. Niemand hatte etwas beobachtet.
Auf Schöfflers Schreibtisch lagen drei anonyme Erpresserbriefe, jeder Schreiber behauptete, die Kinder seien bei ihm und würden gegen Lösegeld ausgetauscht. Die verlangte Summe schwankte zwischen 100.000 Euro und einer viertel Million. Schöffler telefonierte mit der Redaktion der Tageszeitung und bat darum, die drei verlangten Kleinanzeigen zu drucken, um die Zahlungsbereitschaft zu signalisieren. Aber er glaubte keinem der drei Schreiber, dass sie wirklich die Kinder hatten. Allerdings wollte er nichts unversucht lassen.
6
Dr. Berg hatte einen schweren Tag hinter sich. Seine Praxis ging sehr gut, den ganzen Nachmittag hatte er Patienten untersucht, behandelt, ermutigt. Er war Mediziner mit Leib und Seele, verbrachte auch seine Freizeit größtenteils mit Studien und Forschung. Sein letzter Patient an diesem Tag war Stefan Wernsdorff, der noch im Wartezimmer saß.
Er blätterte in der Krankenakte. Wernsdorff war Alkoholiker; solange er nicht die Finger von der Flasche ließ, würde es seinem Magen und seiner Leber nicht besser gehen. Bisher verhallten seine ärztlichen Ratschläge jedoch ergebnislos.
Als Wernsdorff ihm gegenübersaß und wieder einmal seine Schmerzen schilderte, versuchte der Arzt, nicht die Geduld mit seinem Patienten zu verlieren. Er erklärte ihm erneut Mal die Zusammenhänge.
"Herr Wernsdorff, Medikamente helfen Ihnen auf Dauer nicht weiter. Im Gegenteil, die Nebenwirkungen verschlimmern Ihren Gesundheitszustand. Es ist der Alkohol, der Sie krank macht. Wollen Sie nicht doch in eine Entziehungskur einwilligen?"
Nein, das ging nicht. Er hatte jetzt keine Zeit. Der neue Roman wollte unbedingt geschrieben werden, es würde der ganz große Erfolg werden, erklärte Wernsdorff seinem Arzt.
Dr. Berg schien interessiert. "Worüber schreiben Sieeigentlich?"
"Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber es ist eine authentische Geschichte, sozusagen direkt aus dem Leben gegriffen. Das wird der Erfolg, auf den ich schon so lange warte. Und dann, wenn ich fertig bin, werde ich mir die Sache mit der Kur noch mal überlegen."
Stefan Wernsdorff sah seinen Arzt nachdenklich an. Dann fuhr er fort: "Mal was ganz anderes, Herr Doktor. Die kleine Stefanie war doch auch Ihre Patientin. Was meinen Sie, was mit ihr passiert sein könnte?"
Täuschte er sich, oder erschien in den Augen des Doktors ein misstrauisches Funkeln?
"Herr Wernsdorff, ich wünschte, ich wüsste, wo sie steckt. Sie ist so ein lebhaftes, liebenswertes Kind, ich hoffe, dass sie bald wohlbehalten gefunden wird."
"Aber wo mag sie stecken? Man hat doch nun wirklich die Umgebung abgesucht, drei Kinder können nicht einfach spurlos verschwinden."
Dr. Berg seufzte. "Natürlich gibt es bestimmt irgendwo Spuren von ihnen, nur hat man sie noch nicht gefunden." Er musterte sein Gegenüber, jetzt unverhohlen misstrauisch.
"Das wird man bald, glauben Sie nicht?" antwortete der Schriftsteller.
"Ich zweifle daran. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei der Suche etwas übersehen wurde. Man muss wohl warten, ob sich die Täter melden, denn nicht Kommissar Zufall eingreift."
Die Täter meldeten sich am Freitag.
7
Die Redaktion der Rothberger Zeitung erhielt mit der Post eine Videokassette. In neutralem braunen Papier verpackt, ohne Frankierung anonym in irgend einen Briefkasten geworfen.
Der Chefredakteur Gastel legte die Kassette ein, schon nach den ersten Sekunden der Aufnahme rief er Schöffler an und bat ihn, unverzüglich zur Zeitung zu kommen.
14 Minuten später saßen sie in der Redaktion zusammen vor dem Bildschirm. Schöffler, zwei weitere Kriminalpolizisten, Jürgen Gastel und zwei seiner engsten Mitarbeiter, denen er unbedingt vertrauen konnte.
"Okay, lassen Sie sehen, was Sie haben." Schöffler war gespannt. Er hatte am Telefon nichts erfahren, nur, dass es dringend und von größter Wichtigkeit für seinen Fall war.
Die Aufnahme zeigte zunächst Stefanie Haberland, vor einem Bildschirm, mit einem Computerspiel beschäftigt. Es gab keinen Ton, nur das Bild. Dann schwenkte die Kamera, und Mario Wandert kam ins Bild, er saß neben Sabine Marx auf dem Boden, über ein Bilderbuch gebeugt. Dann schaute er auf und lächelte in die Kamera, winkte, stieß Sabine an und zeigte auf die Kamera. Auch Sabine winkte, dann brach die Szene ab.
Eine kurze Unterbrechung mit weißem Flimmern folgte, dann waren alle drei Kinder beim gemeinsamen Essen zu sehen. Die Gesichter waren rot verschmiert von der Tomatensoße.
Nach einer weiteren kurzen Unterbrechung schloss sich die dritte Szene an, die Kinder schlafend in drei nebeneinander stehenden Betten. Die Kamera nahm sie von links nach rechts schwenkend auf, dann kamen zwei weitere, leere Betten ins Bild.
Noch immer kam kein Ton aus dem Lautsprecher, nur ein leises Rauschen. Zum Schluss der Aufnahme kam ein weißes Blatt Papier ins Bild, auf dem in Druckbuchstaben stand: "Es geht ihnen gut. Hören Sie auf, zu suchen. Ich brauche noch zwei."
Als sie sicher waren, dass nichts mehr kam außer Schneetreiben, schaltete Gastel ab und spulte die Kassette zurück.
"Es sind die Vermissten, oder?" fragte er Schöffler.
"Ja, zweifelsfrei."
Es waren die drei. Und sie lebten noch, zumindest zum Zeitpunkt der Aufnahme.
Sie berieten lange, wie weiter vorzugehen war. Die Redaktion war entschlossen, die Sensation in der morgigen Ausgabe zu bringen, das war verständlich und sicher auch vom Entführer so beabsichtigt, sonst hätte er das Band nicht an die Zeitung geschickt. Die Frage war nur, welche Informationen man preisgeben durfte.
Schöffler bestand darauf, die Kassette mitzunehmen, gleichfalls die Verpackung. Er versprach den Zeitungsleuten, dass sie unverzüglich eine Kopie des Bandes bekommen würden, er war dankbar, dass sie ihn sofort informiert hatten, selbstverständlich war das schließlich nicht gewesen. Ihm ging es jetzt nur darum, die Hinweise auszuwerten, ohne den Täter zu warnen - falls man etwas Verwertbares fand.
Er würde alle verfügbaren Spezialisten einsetzen, er war ziemlich sicher, dass sie zumindest einiges feststellen konnten, was ihm weiterhelfen würde. Möglicherweise konnten sie sogar Geräusche rekonstruieren, falls die Tonspur erst nachträglich gelöscht worden war. Immer wieder kreisten in Schöfflers Gedanken um die letzten vier Worte. "Ich brauche noch zwei."
8
Stefan Wernsdorff saß seit dem Morgen vor seinem Bildschirm und grübelte. Er hatte eine Idee, aber sie erschien ihm so unglaubwürdig, dass er sie seinen Lesern nicht ohne weitere zumuten mochte. Er konnte sie selbst kaum nachvollziehen. Aber irgend etwas in ihm drängte ihn, genau diesen Weg einzuschlagen. Er schaute auf seine Uhr. Es war fast Zwölf. Er hatte schon eine ganze Flasche Wermut und eine Schachtel Zigaretten geschafft an diesem Vormittag. Bloß noch keine einzige Zeile seinem Text hinzugefügt.Er schaltete das Gerät wieder aus und zog sich an, um seine Vorräte an Alkohol und Zigaretten aufzufüllen. Der Magen ließ sich nur noch mit immer größeren Mengen Schnaps beruhigen. Wahrscheinlich hatte Dr. Berg nicht Unrecht mit der Entziehungskur. Aber der Roman - er musste ihn jetzt schreiben, unbedingt. Und Dr. Berg hatte ihm kein stärkeres Schmerzmittel verschrieben, er hatte gemeint, er wolle seinen Patienten ja nicht mutwillig ins Grab befördern.
Stefan Wernsdorff war jetzt 43 Jahre alt, aber wenn er in den Spiegel schaute, musste er ehrlich zugeben, dass er eher in das Gesicht eines knapp 60jährigen blickte. Der Alkohol hatte seine Spuren auch äußerlich hinterlassen. Er aß kaum noch, Zigaretten, Kaffee und Wermut waren sein tägliches Brot. Er war selten so betrunken, dass er die Kontrolle über sein Tun verlor, nur ab und zu hatte es Blackouts gegeben, gelegentlich war er in seiner Wohnung aufgewacht und hatte nicht gewusst, wie der vorige Tag zu Ende gegangen war. Meist war er jedoch Herr seiner Sinne, solange ein gewisser Alkoholpegel gewahrt blieb.
Er ging zum nächsten Supermarkt, zwei Straßen weiter. An der Kasse fragte ihn die Verkäuferin, ob er schon gehört habe, dass es ein Lebenszeichen von den Kindern gebe.
"Wie bitte? Ein Lebenszeichen?"
"Die Zeitung soll einen Film bekommen haben, wo die Kinder drauf sind. Sagt jedenfalls Frau Meierkamp, und die weiß es von Frau Haberlands Nachbarin. Die Polizei war dort und hat Frau Haberland abgeholt, damit sie den Film anschaut."
Er verstaute seine diversen Flaschen und zwei Stangen Zigaretten in die Baumwollbeutel und schleppte die schwere Last nach Hause. Dort setzte er sich vor seinen Computer und öffnete die erste der neuen Flaschen. Dann tippte er los wie im Fieber.
9
Dr. Berg hatte heute nur bis 16.00 Uhr Sprechstunde, danach fuhr er in seine Villa am Waldrand außerhalb der Stadt, um sich seinen Studien und Forschungen zu widmen. Er war auf dem besten Weg zum großen wissenschaftlichen Durchbruch. Seit mehreren Jahren arbeitete er an einem Verfahren, das Tumorpatienten neue Hoffnung geben sollte.
Zu Hause angekommen duschte er zunächst und zog sich dann sterile Kleidung über, schloss die Metalltüre auf, die den Zugang zu den Kellerräumen mit seinem Labor jedem Unbefugten verwehrte, und stieg die Treppe hinab.
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Benjamin rief Anja und Carsten an, um ihnen zu berichten, dass es ein Lebenszeichen von seiner Schwester gab. Er selbst hatte die Aufnahme nicht gesehen, aber seine Mutter hatte ihm ausführlich geschildert, was sie in der Polizeiwache gebannt auf dem Bildschirm verfolgt hatte.
"Steffi hat ein PC-Game gespielt? Nie, das glaube ich nicht! Steffi bestimmt nicht. Das hat sie ja noch nie gemacht!"
Frau Haberland wiederholte: "Stefanie saß vor einem Bildschirm und hat ein Computerspiel gespielt. Ich habe es doch selbst gesehen! Genau so eines, wie du es hast, das mit den Autos."
Benjamin schüttelte den Kopf. Stefanie hatte sich nie dazu überreden lassen, einmal mit ihm eines der Spiele zu versuchen, seine Schwester war das einzige Kind mit einer totalen Abneigung gegen PC-Spiele, das er kannte. Und ausgerechnet sie sollte auf dem Band mit so etwas beschäftigt gewesen sein?
Er erzählte alles am Telefon zuerst Anja und dann Carsten. Anja war besonders erfreut. "Mensch, Benni, dann haben wir ja endlich 'ne heiße Spur! Klasse! Wir kriegen die Kerle, verlass dich drauf."
Carsten war seiner Meinung, was das Spiel betraf: "Nee, alle möglichen Kinder und Erwachsenen, aber nicht deine Schwester. Die hat doch wie am Spieß geschrieen, als sie bei deinem Geburtstag mitspielen sollte und dann in den Gegenverkehr gerast ist, weißt du noch?"
Benjamin erinnerte sich nur zu gut. Sie hatten einen Wettbewerb begonnen, wer am schnellsten durch den ersten Level kam, und Stefanie hatte wohl den Bildschirm mit dem echten leben verwechselt. Sie war entsetzt über den Unfall, den sie gebaut hatte und weigerte sich fortan, es noch einmal zu versuchen. Wenn sie jetzt auf dem Videoband ausgerechnet damit beschäftigt war, dann hieß das, dass sie etwas mitteilen wollte.
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Schöffler war sehr zufrieden mit seinen Experten. Es war gerade 17 Uhr und vor ihm lag eine vorläufige Liste mit den Erkenntnissen, die sie aus den kurzen Aufnahmen gewonnen hatten.
Die Aufnahmen wurden bei künstlichem Licht gemacht, vermutlich Halogenstrahler von einem zentralen Punkt an der Decke.
Das Zimmer hat mit größter Wahrscheinlichkeit kein Fenster. Andernfalls wurden die Aufnahmen nachts gemacht, oder ein vorhandenes Fenster ist vollständig abgedunkelt. Tageslicht ist nicht feststellbar.
Der Teppichboden ist von teurer Qualität, vermutlich relativ neu (1 - 2 Jahre alt).
Der Bildschirm ist von DELL, 20 Zoll TFT.
Das Betriebssystem ist Microsoft XP Home, das Computerspiel heißt Need for Speed 2.
Die Betten stammen von Ikea, es sind fünf baugleiche Exemplare.
Die Bettwäsche stammt ebenfalls von Ikea.
Das Geschirr wird normalerweise nur über den Großhandel für gewerbliche Kunden vertrieben. Dies können Gaststätten, aber auch Firmen oder Behörden sein. In Rothberg ist es nicht im Einzelhandel.
Die Möbel in der Essecke konnten noch nicht abschließend analysiert werden, sie stammen jedoch zweifelsfrei nicht von Ikea.
Da die Lichtquelle bei allen Aufnahmen identisch ist, müsste es sich um einen einzigen größeren Raum handeln, in dem sie entstanden sind, also Essecke, Spielbereich und Betten sind in einem einzigen Raum.
Die Kinder tragen nicht die gleiche Kleidung, in der sie zuletzt gesehen wurden. Stefanie Haberland trägt einen neu wirkenden roten Jogging-Anzug mit Jurassic-Park Motiv, Mario Wandert trägt ein seinen Eltern unbekanntes weißes T-Shirt und Sabine Marx eine neue Jeans.
Das Bilderbuch ist eine Petzi Geschichte, es wird noch geklärt, welcher Band.
Die Schrift auf den weißen Blättern ist die Times New Roman, gedruckt mit einem Laser- oder sehr guten Tintenstrahldrucker.
Eine Tonspur ist nicht rekonstruierbar, offensichtlich wurde ohne angeschlossenes Mikrophon gefilmt.
Nun, damit konnte er schon etwas anfangen. Und er konnte die Erpresser vergessen, deren Drohungen und Forderungen damit gegenstandslos waren. Dieser Täter forderte nichts, bisher zumindest. Er teilte nur mit, dass es den Kindern gut ging und dass er noch zwei weitere entführen wollte. Wozu, das war einstweilen nicht zu klären.
Schöffler suchte die Nadel im Heuhaufen, das war ihm klar. Wie viele verdunkelte oder fensterlose Räume mit teurem Teppichboden mochte es in dieser Stadt oder der Umgebung geben? Wie viele Rothberger Ikea-Kunden mochten in Magdeburg oder sonst wo Betten erstanden haben? War das gesuchte Versteck überhaupt in Rothberg? Würden sich das Personal im Kaufhaus oder im Spielzeugladen an Kunden erinnern, die dort in letzter Zeit Need for Speed eingekauft hatten?
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Die Schlagzeile der Zeitung sorgte für eine enorme Auflagensteigerung der Wochenendausgabe. "Unsere Kinder leben!" schrie sie in Rot über drei Bildschirmfotos aus dem Video.
Der Bericht schilderte, wie Schöffler erleichtert feststellte, nur die Tatsache, dass es offensichtlich den drei Entführten gut ging, welche Szenen auf dem Band waren, und wie die Eltern reagiert hatten. Keine Einzelheiten über die Einrichtung, und auch kein Hinweis auf die Drohung, dass es weitere Entführungen geben würde. So gewann die Polizei Zeit, ohne den Täter nervös zu machen.
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Das ABC traf sich wie abgesprochen bei Anja Krüger. Benjamin und Carsten waren von ihren Vätern begleitet worden, Frau Krüger nahm ihnen das Versprechen ab, sich auf keinen Fall zu trennen und spätestens um 17.00 Uhr wieder zurück zu sein. Sie hatten drei Stunden für sich. Es war wieder ein sonniger Tag, und sie packten gut verborgen von dem Bretterzaun ihre Cola und Süßigkeiten aus, nachdem sie sich an ihrem Lieblingsplatz auf der Rückseite der Ruine niedergelassen hatten.
Benjamin erzählte nochmals in allen Einzelheiten, was seine Eltern ihm von dem Videoband berichtet hatten. Er war glücklich, dass seine Schwester offenbar noch lebte.
Anja klang zuversichtlich. Sie hatte eine Idee, wo man anfangen konnte. "Wir müssten herausbekommen, ob jemand in letzter Zeit einen roten Jogginganzug gekauft hat, der deiner Schwester passen würde."
"Meinst du nicht, die Polizei ist auch schon drauf gekommen?" fragte Carsten.
"Doch, sicher, aber wo sollen wir sonst anfangen? Wir könnten es probieren. Lass uns zum Kinderklamottenladen gehen."
Sie fuhren zusammen, zu Tode erschrocken, als sie eine Männerstimme hinter sich hörten: "Da war Kommissar Schöffler vor drei Stunden." Ein unrasiertes, eingefallenes Gesicht blickte sie aus dem rahmenlosen Fenster der Ruine an.
Stefan Wernsdorff lehnte sich weiter hinaus. "Tut mir leid, ich wollte euch nicht erschrecken."
"Wer sind Sie? Was machen Sie hier?" fragte Carsten, der als erster seinen Schock überwunden hatte.
"Das gleiche wie ihr. Ich suche nach einer Lösung."
Der Fremde war ihnen unheimlich. Sein zerzaustes Haar und sein glasiger Blick gaben ihm ein etwas verrücktes Aussehen. Er trat jetzt um die Ecke der eingestürzten Mauer und sie sahen, dass auch der Rest seiner Erscheinung nicht gerade gepflegt wirkte. Ein schmuddeliges gestreiftes Hemd hing halb aus der ausgebeulten schwarzen Hose, in der Hand trug er eine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit, die sicher kein Tee war.
Er setzte sich ganz selbstverständlich zu den Kindern und zündete sich eine Zigarette an.
"Wollt ihr auch eine rauchen?" fragte er.
"Nee. Wie kommen Sie hier rein?" Benjamin sah ihn finster an.
"Ein paar Meter neben eurem Eingang gibt es noch zwei lose Bretter. Man muss nur wissen, wo."
"Waren Sie schon öfter hier?" fragte Anja angriffslustig. Der Mann beunruhigte sie. Wer weiß, welche Geheimnisse er schon ausspioniert haben mochte.
"Natürlich. Ich kenne euch drei recht gut. Du bist Anja, das ist Carsten und der junge Herr, der mich so unhöflich anstarrt, ist Stefanies Bruder Benjamin. Richtig?"
"Und wer sind Sie?" Benjamin starrte weiter, unhöflich oder nicht, das war ihm egal. Der Kerl war in ihr geheimes Versteck eingedrungen und hatte sich vor ihnen verborgen, um zu lauschen. Das war schließlich auch unhöflich.
"Stefan Wernsdorff."
"Haben Sie uns belauscht?"
"Ja, sicher. Schon oft. Ihr seid ja nie auf die Idee gekommen, mal nachzusehen, ob jemand da ist. Ganz schön leichtsinnig in Zeiten wie diesen."
Das stimmte nicht ganz. Bei ihren ersten Treffen hatten sie die Ruine sehr genau erkundet, waren auch in die unheimlichen Kellergewölbe hinabgestiegen. Sie hatten keine Anzeichen dafür gefunden, dass sonst noch jemand herkam. Manches Mal hatten sie bei schlechtem Wetter auch im Haus gespielt, sie waren immer allein gewesen. Dachten sie zumindest bis heute.
Anjas zornige Augen blitzten. "Und was wollen Sie hier?"
"Kommt mal mit, ich will euch was zeigen. Es ist nicht weit, nur ein paar Häuserblocks die Straße hinunter."
Die drei Freunde sahen einander an. Sie würden mit dem alten Mann leicht fertig werden, zu dritt, sie waren jung und kräftig. Anja war genauso stark wie die Jungs und benahm sich überhaupt nicht mädchenhaft. Sie bewies oft genug Mut und war meist die Anführerin mit den verrücktesten Ideen, konnte klettern und war nicht zimperlich, wenn sie sich mal stieß oder die Knie aufschürfte. Auch jetzt schien sie das Risiko zu lieben.
"Hat es was mit den drei Vermissten zu tun?" fragte sie den seltsamen Gast ihrer Runde.
Der nickte. "Ja, ich glaube, ich weiß, wo wir suchen müssen."
Anja sprang auf. "Dann los, wir haben nicht so viel Zeit. Unsere Eltern drehen durch, wenn wir nicht pünktlich zurück sind."
Sie sammelten ihre Getränke und Süßigkeiten wieder ein und folgten Stefan Wernsdorff durch seine viel bequemere Lücke im Zaun. Man musste nur ein Brett nach links und eins nach rechts schieben. Die unteren Nägel fehlten, vermutlich hatte er sie selbst herausgezogen.
Er ging voran und schloss dann die Haustür eines Mietshauses auf. Sie folgten ihm durch das muffig riechende Treppenhaus hinauf in den zweiten Stock und dann in seine Wohnung, aus der ihnen ein noch abgestandener Geruch entgegenschlug.
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Stefanie blickte auf. Sie hatte Angst vor dem Mann. Er war zwar immer nett, gab ihnen Spielzeug, erzählte Geschichten. Er konnte kochen, sorgte für abwechslungsreiches Essen, erlaubte, den Fernseher anzulassen, solange sie mochten. Aber sie war nicht glücklich hier.
Sie hatte Heimweh nach ihren Eltern und ihrem Bruder, genau wie ihre beiden Zimmergefährten immer wieder nach ihren Eltern fragten. Abends weinten sie in ihren Betten, weil sie nicht zu Hause waren. Der Mann hatte ihnen erklärt, ihre Eltern wären auf einer Reise, und so lange müssten sie bei ihm bleiben. Hinaus durften sie nicht, warum, hatte er nicht gesagt. Stefanie hatte sich das Computerspiel gewünscht, um sich ihrem Bruder näher zu fühlen, so konnte sie sich wenigstens einbilden, er säße neben ihr.
Die Tür war immer abgeschlossen.
Sie hatten ein kleines Badezimmer mit Toilette und den großen Raum mit ihren Betten, der Spielecke und dem Esstisch. Das Essen brachte der Mann mit, weit konnte er es nicht getragen haben, es war stets noch heiß. Das Frühstück richtete er ihnen am Abend her, mittags kam er kurz und brachte einen Imbiss, am Abend hatte er mehr Zeit und da gab es auch die warmen Mahlzeiten.
Heute musste Samstag sein, denn er war schon am Mittag mit dem dampfenden Essen und einem Paket gekommen.
Er lächelte die drei Kinder an. "Ich habe auch was Neues mitgebracht."
Aus dem großen Karton kamen unzählige Legosteine zum Vorschein. Alle Farben, alle Formen. Dazu ein Buch mit Anleitungen, wie aus den Steinen Tiere, Häuser und Fahrzeuge werden konnten.
"Nach dem Essen dürft ihr damit spielen. Aber jetzt kommt erst an den Tisch."
Es schmeckte wie immer gut. Dazu gab es Saft, Stefanie fand, dass er heute etwas bitter schmeckte. Aber die gut gewürzte Lasagne machte Durst, und sie trank ihren Becher leer.
Nach wenigen Minuten wurde sie sehr müde. Die Augen fielen ihr immer wieder zu, schließlich schlief sie am Tisch ein. Der Mann nahm sie auf den Arm und ging mit ihr zur Türe.
"Spielt jetzt, so lange ihr wollt. Ich bringe Steffi nachher zurück. Ich will nur sehen, warum sie so müde ist."
Dann schloss er die beiden ein und trug Stefanie über einen kahlen Flur in einen hell erleuchteten, gekachelten Raum, in dessen Mitte ein Behandlungstisch stand. Er legte sie vorsichtig darauf, zog ihr den Jogging-Anzug aus und desinfizierte sich die Hände, bevor er zu seinen Instrumenten griff.
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Anja, Benjamin und Carsten hatten die Zeit völlig vergessen. Sie saßen vor Stefan Wernsdorffs Computer und lasen die Geschichte der Kinder von Rothberg. Was er im bisher letzten Abschnitt geschrieben hatte, war so absurd, dass sie es schon wieder für möglich hielten.
"Ich habe keinen Beweis, Kinder, aber ich habe Hinweise gesammelt. Ich habe ihn beobachtet, weil ich ihn in meinem nächsten Buch auftreten lassen wollte, seit vier Monaten habe ich ihm nachgespürt. Es passt alles zu den Entführungen, so unwahrscheinlich es auch klingt."
"Aber warum sollte er die Kinder entführt haben? Wozu denn nur? Will er Geld?"
Carsten überflog nochmals den letzten Absatz auf dem Bildschirm. "Darüber haben Sie noch nichts geschrieben, oder?"
"Nein, das weiß ich selbst noch nicht. Ich habe mir das alles nur zusammengereimt, es muss ja nicht stimmen. Es ist ein Romanentwurf, kein Tatsachenbericht. Vermutlich ist er einfach verrückt."
"Haben Sie ein Auto?" fragte Anja. Sie wollte am liebsten sofort aufbrechen, um festzustellen, ob die Geschichte stimmte.
"Nein, nur ein Fahrrad."
"Wir müssen die Polizei anrufen. Wenn das stimmt, was Sie geschrieben haben, kann meine Schwester heute Abend schon zu Hause sein." Benjamin sah seine Freunde an.
"Mein lieber Benjamin", sagte Wernsdorff, "du glaubst doch nicht, dass die Polizei auf so eine abenteuerliche Phantasie hin das Haus eines angesehenen Bürgers durchsucht? Ohne Beweise, nur weil ein ständig besoffener Schriftsteller sich in seinem verdrehten Hirn etwas zusammengereimt hat?"
Anja stimmte dem Mann zu. "Sie würden ihn höflich befragen, dann ist er gewarnt und tut den Kleinen wer weiß was an, lässt sie einfach verschwinden. Wir brauchen erst einen Beweis."
"Aber warum haben Sie uns das lesen lassen, wenn Sie nichts unternehmen wollen?" fragte Carsten.
"Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, dass ich einfach prüfen wollte, ob jemand außer mir diese verrückte Idee nachvollziehen kann. Kein Erwachsener, sondern ein gesunder Verstand in eurem Alter. Aber ich habe einen Vorschlag."
Sie sahen ihn erwartungsvoll an.
"Ich begleite euch drei jetzt nach Hause, wenn ihr euch mit mir sehen lassen wollt. Es ist 19.00 Uhr und Eure Eltern werden euch totprügeln, wenn ihr keine vernünftige Erklärung dafür habt, warum ihr nicht pünktlich wieder aufgetaucht seid."
Die drei erschraken. Der Mann hatte recht. Vielleicht suchte schon die halbe Stadt nach ihnen. Sie mussten sofort aufbrechen.
"Ich erkläre euren Eltern, dass ich euch aufgehalten habe, meinetwegen, weil ich euch ein Eis spendiert habe oder sonst was. Aber Ärger kriegt ihr bestimmt."
"Scheiße. Meine Mutter dreht bestimmt schon durch." sagte Benjamin.
"Einen Moment noch. Haltet den Mund, über das, was ihr hier gelesen habt. Ich gehe heute nacht hin zu seinem Haus, und versuche, etwas Konkretes zu finden. Falls ihr keinen Hausarrest bekommt, erzähle ich euch morgen Nachmittag in der Ruine, ob ich Erfolg hatte. Einverstanden?"
Sie nickten. Inzwischen vertrauten sie dem seltsamen Schriftsteller. Er war ein Säufer und ihre Kleider stanken nach seinen Zigaretten, aber sie spürten, dass sie einen treuen Freund und Verbündeten gefunden hatten, der sie ernst nahm.
Sie verließen die Wohnung und traten auf die Straße, um sich auf den Weg zu Anjas Haus zu machen. Dort war die Hölle los. Das Fernsehen war da, zwei Polizeifahrzeuge sperrten die Zufahrt zur Straße. Ein Polizist kam auf sie zu. "Anja Krüger?"
"Ja." flüsterte sie ängstlich.
"Benjamin Haberland und Carsten Winter?"
Die beiden nickten.
Der Polizist drückte eine Taste an seinem Funkgerät und meldete, dass die drei Kinder in der Rosenstraße angekommen seien. Er ließ Stefan Wernsdorff keinen Moment aus den Augen. Zwei weitere Beamte standen sprungbereit in der Nähe.
"Und wer sind Sie?"
"Stefan Wernsdorff. Ich habe die drei zu einem Eis eingeladen und dabei haben sie - haben wir leider die Zeit vergessen."
"Kennt ihr den Mann?"
"Ja, es stimmt, wir haben Eis gegessen und geredet. Er - er ist ein alter Bekannter von uns. Schriftsteller."
"Ihr drei geht jetzt ins Haus, Sie bleiben hier."
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Stefan Wernsdorff wurde zur Wache mitgenommen, seine Wohnung gründlich durchsucht. Die Polizisten packten seinen Drucker und seinen PC ein, dazu eine Box mit CD-ROMs. Sie fanden keine Spur, die auf die verschwundenen Kinder hingedeutet hätte, aber der Computer interessierte sie brennend. Man würde auf der Festplatte und den CDs nach einem bestimmten Text suchen. Ich brauche noch zwei.
Carsten und Benjamin wurden mit einem Streifenwagen nach Hause gebracht. Es war aufregend, in dem Polizeifahrzeug durch die Stadt zu fahren, so recht genießen konnten sie es jedoch nicht, weil ihnen vermutlich noch ein Donnerwetter drohte.
Es war jedoch nur ein kleines. Benjamins Eltern waren froh, ihren Sohn wohlbehalten wiederzusehen. Herr Haberland sah seinen Sohn an und meinte ernst: "Du bist ein großer Junge, wenigstens anrufen hättest du können."
"Ja, tut mir wirklich leid." Benjamin meinte es ehrlich.
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Schöffler saß mit zwei Technikern vor Wernsdorffs PC und las das Dokument "kinder.doc". Er war gefesselt, die Erzählung war phantastisch, er hatte dem versoffenen Mann so etwas gar nicht zugetraut.
"Der spinnt doch hochgradig." murmelte er, als er beim bisher letzten Kapitel ankam. "Spannend, gut erzählt, aber was er schreibt, ist total daneben."
Sie hatten keine Hinweise gefunden, ob die kurzen Mitteilungen am Ende des Videos mit diesem Gerät geschrieben worden waren. Die fragliche Schrift war zwar installiert, aber das war bei so gut wie jedem PC der Fall, der eine Textverarbeitung auf der Festplatte hatte. Sie hatten gelöschte Dateien rekonstruiert, aber der gesuchte Text aus dem Video war nicht dabei. Es war ihnen von vorne herein klar, dass der Täter den Text vermutlich nur gedruckt und nicht gespeichert hatte. Dumm war er nicht, sonst hätten sie ihn längst erwischt.
Der Tintenstrahldrucker lieferte ein sauberes Schriftbild, doch es war nicht zu beweisen, dass Wernsdorff etwas mit der Entführung zu tun hatte.
Schöffler ließ Wernsdorff holen und befragte ihn nochmals eindringlich. Er sprach ihn auf den unfertigen Text an, auf die Einzelheiten.
"Ich bin Schriftsteller, Herr Kommissar. Nicht erfolgreich, bis jetzt zumindest, aber ich bilde mir doch ein, über Phantasie zu verfügen. Das ist alles."
"Das letzte Kapitel, wie kommen Sie denn bloß auf so etwas. Mögen Sie den Mann nicht?"
"Phantasie. Sonst nichts."
Er durfte um 22.00 Uhr nach Hause gehen, das Gerät blieb einstweilen bei der Polizei. Man verlangte von ihm, die Stadt nicht zu verlassen und deutete an, dass er unter Beobachtung stehe.
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Stefan Wernsdorff verließ um 23.00 Uhr seine Wohnung und ging in die Kneipe an der Ecke. Er nickte dem Wirt zu und verschwand sofort wieder durch die hintere Tür neben den Toiletten. Die zwei Beamten, die ihn beobachten sollten, warteten vor der Kneipe.
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Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Er hatte keinen Assistenten, keine Schwester, die sie abgetupft hätten. Er war auch nicht für diesen speziellen Eingriff ausgebildet, hatte sein Wissen aus Fachbüchern zusammengetragen und sich eigentlich zugetraut, allein damit fertig zu werden. Seine Patientin war an die Überwachungsgeräte angeschlossen, die Anzeigen gaben beruhigend normale Werte wieder. Aber er konnte die Blutung nicht unter Kontrolle bringen. Irgendetwas war schiefgegangen, und er konnte niemanden um Hilfe bitten. Er fluchte vor sich hin und versuchte, das verletzte Blutgefäß zu finden.
20
Benjamin konnte nicht einschlafen. In seinen Gedanken kreiste die Vorstellung, er wisse, wo seine Schwester war, und helfe ihr trotzdem nicht. Er starrte an die Decke, die im blassen Mondlicht grau aussah. "Steffi, wo bist du?" flüsterte er. Hatte der verrückte Schriftsteller recht? Hätte er doch seinen Eltern erzählen müssen, welche Idee der Mann gehabt hatte? Es war doch eine Chance, nur eine klitzekleine zwar, aber warum nicht den Versuch wagen?
Er stand auf und schlich zum Schlafzimmer seiner Eltern, vorbei an Stefanies Zimmer. Die Tür stand offen und er sah das leere, saubere Bett, die Spielsachen, Steffis Teddy auf der Bettdecke. Er wollte seine Schwester wiederhaben.
Seine Eltern schliefen. Nein, er würde sie nicht wecken, er war alt genug, um selbst etwas zu unternehmen.
Benjamin ging in sein Zimmer zurück und zog sich hastig an. Es war 23.25 Uhr. Er riss ein Blatt aus einem Schulheft, schrieb in kurzen Worten auf, wohin er wollte und legte ihn auf sein Bett. Er hoffte, dass er zurück sein würde, bevor ihn jemand las, aber falls ihm etwas passieren sollte, würde Hilfe kommen. Dann schloss er leise die Haustüre hinter sich und schwang sich auf sein Fahrrad.
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Um 23.37 Uhr ging der eine der beiden Beobachter in die Kneipe, um zu sehen, was Wernsdorff dort trieb. Er sah ihn nicht. Der müde Wirt, der gerade die letzte Runde Bier an seine wenigen Gäste ausgeteilt hatte, erklärte dem Beamten, dass Stefan Wernsdorff wohl sofort durch den Hinterausgang verschwunden war. Er sei auf die Toilette gegangen, aber er war nicht wieder aufgetaucht.
Schöffler tobte am Telefon, als die Beobachter berichteten. So viel Dummheit konnte er beim besten Willen nicht ertragen. Seine beiden Leute hatten sich von einem Besoffenen mit dem billigsten Trick der Welt abhängen lassen.
Er beorderte sie vor Stefan Wernsdorffs Wohnung, sie sollten sich melden, sobald er dort auftauchen würde.
Der Kommissar wischte sich die Stirn mit seinem gebügelten Taschentuch. Er war todmüde, seit dem frühen Morgen im Dienst, und auch die letzten Nächte hatten nicht viel Schlaf gebracht. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Protokolle und Akten, die er sortieren musste. Er goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein und griff zum nächsten Ordner.
22
In Anjas Zimmer brannte Licht, sonst war das Haus der Familie Krüger dunkel. Benjamin klopfte mit den Fingerspitzen an das Fenster. Anja schob den Vorhang beiseite und blickte erstaunt heraus. Leise öffnete sie den Fensterflügel. "Was ist los?" flüsterte sie.
"Ich fahre jetzt hin, ich kann nicht schlafen. Vielleicht ist Steffi doch dort."
"Schlafen kann ich auch nicht. Komm kurz rein, dann fahre ich mit."
Er schwang sich hoch und kletterte in Anjas Zimmer.
"Psst, leise!" flüsterte sie.
Er drehte sich verschämt zur Wand und studierte das Poster von US5, als Anja ihren Schlafanzug auszog und nach ihren Kleidern griff. Sie kicherte leise und meinte: "Brauchst aber nicht rot werden, Benni."
Als sie in Jeans und Pullover bereit war, kletterten sie aus dem Fenster und zogen den Flügel von außen zu, so gut es ging. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen, und sie radelten los. Carsten konnten sie nicht abholen, er wohnte im vierten Stockwerk eines Mietshauses, keine Chance, an ihn ranzukommen.
23
Stefan Wernsdorff schlich um die Villa. Er zog und schob sachte an den Fenstern und Türen, sie waren alle zu. Durch die Jalousien schimmerte an der Vorderseite des Hauses Licht, aber es war kein Ton zu hören. Konnte er es wagen, die rückwärtige Terrassentüre aufzuhebeln? Das würde Lärm machen, den man in der Stille der Nacht weit hören konnte. Außerdem war er ziemlich sicher, dass die Villa mit einer Alarmanlage gesichert war, die möglicherweise scharfgeschaltet sein konnte.
Das Auto stand in der Garage, also war der Mann zu Hause. Schlief er? War er mit irgendetwas beschäftigt?
Zwei Mülltonnen standen neben dem Garagentor. Er klappte die erste auf. Verpackungen von Tiefkühlkost, Küchenabfälle, nichts Ungewöhnliches. Die zweite Mülltonne war fast leer. Er blickte in die dunkle Tiefe und griff hinein. Zerknüllte Blätter mit Kinderzeichnungen, gekritzelten Männchen, Tieren.
Das war das, was er gesucht hatte. In dieser Villa wohnten keine Kinder. Er atmete tief ein und strich die Blätter glatt. Er versuchte, in dem schwachen Licht etwas genauer zu erkennen, was die Bilder zeigten. Auf einem waren zwei große Figuren und eine kleinere zu erkennen, die offenbar in einem Fahrzeug saßen. Außerhalb des Fahrzeuges eine vierte, noch kleinere Figur. Aber konnte der Mann wirklich so dumm sein, das in seine eigene Mülltonne zu werfen?
Er hörte ein Geräusch von der Straße und duckte sich hinter einen Fliederbusch im Vorgarten. Er traute seinen Augen nicht, aber es waren tatsächlich Anja und Benjamin, die behutsam ihre Fahrräder an den Zaun lehnten und über das niedrige Gartentor stiegen.
Leise machte er "Pssst".
Anja schrie auf und hielt sich dann die Hand vor den Mund. Benjamin zuckte zusammen und wollte zurück über das Tor. Stefan Wernsdorff stand auf und sie erkannten ihn.
"Sie haben mich zu Tode erschreckt, mir ist fast das Herz stehen geblieben", beschwerte sich Anja flüsternd. Er legte den Finger auf den Mund und winkte den beiden, ihm zu folgen.
Bei den Mülltonnen zeigte er ihnen stumm die Zeichnungen. Benjamins Augen wurden riesengroß, er atmete heftig. Er zeigte auf das Blatt mit dem Auto und flüsterte: "Das hat Steffi gemalt, sie malt immer Leute mit sieben Fingern."
In diesem Moment ging ein Strahler über der Garage an und sie standen geblendet im hellen Lichtkegel.
24
Dr. Berg stand in einem blutbefleckten grünen Kittel im Halbschatten, er war um das Haus herumgekommen, ohne dass sie etwas bemerkt hatten. In der rechten Hand hielt er einen Revolver.
"Was haben Sie hier zu suchen?"
Sie gaben keine Antwort. Der Arzt sah die Zeichnungen und deutete stumm mit seiner Waffe auf die Haustüre. Sie gingen voran, zögernd, aber es blieb keine andere Wahl.
25
Schöffler räumte seinen Schreibtisch auf. Er würde morgen früh weitermachen, es war jetzt ein Uhr. Stefan Wernsdorff war nicht wieder aufgetaucht, vermutlich saß er irgendwo und ließ sich volllaufen. Er löschte das Licht und schloss die Tür, nickte dem Diensthabenden am Eingang müde zu und ging zu seinem Auto.
Auf halbem Weg zu seiner Wohnung entschloss er sich, doch noch den Umweg zu der Villa zu machen, so erschöpft er auch sein mochte. Er wusste nicht recht, was er dort sollte, aber die Geschichte ging ihm nicht aus dem Kopf. Natürlich war es völliger Blödsinn, und er nahm nicht an, dass Stefan Wernsdorff verrückt genug war, mitten in der Nacht bei Dr. Berg aufzutauchen und irgendetwas anzustellen. Doch es würde ihn beruhigen, wenn er wusste, dass dort alles ruhig war.
26
"Wo ist meine Schwester?" fragte Benjamin.
Der Arzt klang erschöpft und fast traurig: "Benjamin, das verstehst du nicht. Und ich habe jetzt auch keine Zeit für große Erklärungen. Ich will Kindern helfen, die am Krebs sterben, und ich weiß jetzt, wie."
Er führte die drei in den Keller, und wies in einen leeren Raum, ohne Fenster, keine Möbel, an der Decke eine nackte Glühbirne. "Da rein mit euch, ich habe keine Zeit, bin mitten in der Arbeit."
Die Tür wurde hinter ihnen abgeschlossen.
"Mein Gott, Sie hatten recht!" sagte Anja.
Stefan Wernsdorff nickte. "Leider. Aber was machen wir jetzt?"
Die Tür war stabil und es hatte auch keinen Sinn, sie aufzubrechen, selbst wenn sie es vermocht hätten. Irgendwo draußen war Dr. Berg und er hatte eine Waffe.
"Wird er uns umbringen?" Benjamin zitterte am ganzen Leib. Er wusste, dass Stefanie und die anderen beiden Kinder hier waren, doch er hatte sich fangen lassen, anstatt sie zu befreien. Er war genauso hilflos wie sie. Ein schöner Held, dem die Knie bebten.
"Er ist verrückt. Er ist zu allem fähig. Wir müssen sehen, dass wir uns selbst helfen." Wernsdorff sah die Kinder an. "Habt ihr nicht irgendetwas, ein Taschenmesser, was auch immer als Waffe taugt?"
Sie hatten nichts, Benjamin trug nur seinen Schlüsselbund bei sich, Anjas Taschen waren leer.
27
Am Zaun lehnten zwei Fahrräder. Der Größe nach waren es keine Erwachsenen, die damit gekommen waren. Schöffler parkte ein Stück entfernt und ging langsam am Grundstück des Arztes entlang. Die Fahrräder waren nicht abgeschlossen.
In Schöfflers Kopf rasten die Überlegungen. Drei Kinder waren am Nachmittag mit Stefan Wernsdorff zusammen gewesen, dass sie möglicherweise dabei seine absurde Geschichte kennen gelernt hatten, kam ihm erst jetzt in den Sinn. Die Kinder konnten sie geglaubt haben.
Aus dem Haus war kein Laut zu hören. Über der Garage brannte Licht. Er stieg über das niedrige Tor und ging um die Villa. Nichts, nur Stille. Was wäre, wenn Wernsdorff recht hatte? Dann gab es keine Zeit zu verlieren. Dann waren da drinnen jetzt fünf Kinder gefangen.
Schöffler kehrte zu seinem Wagen zurück und wählte die Nummer des Reviers.
"Sie müssen sofort die Haberlands, Wernsdorffs und Winters kontaktieren. Ich muss wissen, ob deren Kinder zu Hause sind."
"Jetzt? Mitten in der Nacht?"
"Es ist mir egal, wie spät es ist. Ich warte hier im Wagen, und ich verlange sofort eine Nachricht. Wecken Sie vorsorglich die Kollegen, die Rufbereitschaft haben. Es kann sein, dass ich sie brauche."
Die beiden jungen Polizisten, die Nachtdienst hatten, folgten kopfschüttelnd der Anordnung. Man konnte doch nicht mitten in der Nacht Leute wecken, um nach ihren Sprösslingen zu fragen. Wohl jede Mutter und jeder Vater in der Stadt war zur Zeit so besorgt, dass ein Verschwinden längst bemerkt worden wäre. Aber gut, es war eine dienstliche Anweisung, also würden sie sich dem Zorn der Eltern aussetzen müssen.
28
Er hatte endlich die Blutung gestoppt. Aber seiner kleinen Patientin ging es nicht gut. Sie hatte bereits zu viel Blut verloren, und er hatte keine ausreichenden Konserven mehr. Er würde ihr wohl nicht helfen können, Schuld war die Unterbrechung durch die ungebetenen Eindringlinge. Immerhin hatte er die Gewebeproben, die er brauchte, in seinem Kühlfach.
Er war mit Leib und Seele Arzt, und einen Patienten gab er nicht auf, solange noch Hoffnung bestand, auch wenn es aussichtslos schien. "Komm, Mädchen, du schaffst es", murmelte er, als er seinen letzten Beutel mit der richtigen Blutgruppe mit der Infusion verband.
29
"Guten Morgen. Es tut uns leid, dass wir Sie wecken mussten, aber ist Ihr Sohn zu Hause?"
Herr Haberland blinzelte verschlafen. Was wollte der Anrufer? Benjamin?
"Natürlich, er ist in seinem Zimmer und schläft. Was soll das?"
"Würden Sie bitte nachsehen? Bitte, es ist dringend."
"Einen Moment."
Er schlurfte den Gang hinunter.
Benjamins Bett war leer, ein Zettel lag darauf. Nun war er hellwach.
30
Schöffler ließ sich berichten, was auf dem Zettel stand. Ich fahre zur Villa von Dr. Berg, ich glaube, dass Stefanie dort ist. Wenn Anja wach ist, hole ich sie ab. Benjamin.
Er zögerte keinen Augenblick. "Sie rufen über Funk sofort Verstärkung und kommen augenblicklich her. Kein Martinshorn. Das Krankenhaus soll einen Notarztwagen schicken, aber bitte ebenfalls leise. Ich warte vor dem Haus."
31
Er konnte nicht seine Forschung aufgeben, so dicht vor dem Durchbruch. Eigentlich hätte er Stefanie sofort ins Krankenhaus bringen müssen, hier hatte er keine Möglichkeiten, sie noch zu retten. Aber wenn er sie dort ablieferte, würde seine Arbeit zunichte gemacht und er konnte den vielen Tausenden Kindern, für die er das alles getan hatte, nicht mehr helfen. Sollte er sie unbemerkt in der Nähe des Krankenhauses ablegen und anonym melden, wo sie lag? Nein, sie kannte ihn, das Ergebnis wäre das gleiche gewesen, als wenn er sie selbst in die Notaufnahme gebracht hätte. Er durfte erst als Entführer offenbar werden, wenn die Forschungen abgeschlossen waren.
Dr. Berg stand unschlüssig vor dem kleinen Körper, die Instrumente am Kopfende der Liege sprachen deutlich genug über Stefanies Zustand.
Ein Kind opfern, um vielen zu helfen, was war daran so falsch?
32
Der erste Streifenwagen tauchte auf und Schöffler ging voran zur Haustüre. Die beiden Polizisten zogen ihre Dienstwaffen, aber Schöffler schüttelte energisch den Kopf. "Niemand wird hier schießen, ist das klar? Wir sind nicht im wilden Westen." Er erinnerte sich nur zu gut an Marina Rösch und ihren Tod vor seinem Revier.
Er drückte auf den Klingelknopf, melodisch hallte ein Gong durch die Stille.
Nach zehn Sekunden klingelte er ein zweites Mal, wartete kurz und befahl dann: "Aufbrechen."
"Die ist zu massiv. Nicht ohne Werkzeug."
"Dann holen Sie Werkzeug, verdammt noch mal!"
Ein weiteres Polizeifahrzeug bog in die Straße ein und vier Polizisten kamen angerannt.
"Eine Axt." rief Schöffler ihnen entgegen.
Einer der Beamten eilte zurück und kam mit dem verlangten Werkzeug den Gartenweg hinunter, als am Ende der Straße das Blaulicht des Notarztwagens aufflackerte.
33
Benjamin, Anja und Stefan Wernsdorff hörten den Krach. Oben wurde die Tür aufgebrochen und eilige Schritte wurden laut. Sie begannen zu rufen.
Dr. Berg griff nach seiner Waffe. Es war aus, jemand brach ins Haus ein, sie würden kommen. Was hatte er nur falsch gemacht? Er wollte doch nur helfen, den kranken Kindern dieser Welt Gesundheit schenken. Schuld war dieser verdammte Schriftsteller.
Mario und Sabine wachten auf und fingen an, zu weinen. Ein kräftiger Schlag sprengte die Tür ihres Gefängnisses und sie sahen mit großen Augen die Polizisten an, die mit gezogenen Waffen hereinstürzten. Ihr Weinen wurde lauter, und die Männer standen hilflos vor den Betten.
Dr. Berg hatte die Waffe im Anschlag, als Schöffler durch die Türe trat. Mit einem Blick erfasste er die Lage und herrschte den Arzt an: "Was ist mit ihr?"
"Sie hat viel Blut verloren."
"Der Notarzt hierher!" schrie Schöffler. Er achtete nicht auf die Waffe in der Hand des Arztes sondern stieß ihn beiseite, um sich vor das Kind zu stellen. Zwei Sanitäter und der Notarzt kamen hereingestürmt.
"Verdammt, Berg, reden Sie! Was haben Sie mit dem Kind gemacht? Was muss der Notarzt tun?"
"Sie kann nicht transportiert werden. Hoher Blutverlust, in der Bauchhöhle."
"Blutgruppe?" fragte der Notarzt.
Berg antwortete: "B positiv."
Schöffler starrte ihn an. Sagte der Mann die Wahrheit? Immerhin war er Mediziner, sie hatten wohl keine andere Möglichkeit, als ihm zu glauben, wenn sie Stefanie Haberland retten wollten.
34
Ein Hubschrauber landete vor der Villa, die inzwischen trotz der nächtlichen Stunde von Schaulustigen umringt war, die sich nur mühsam zurückdrängen ließen. Ein weiterer Krankenwagen kam an, und Sabine und Mario wurden ins Rothberger Krankenhaus gefahren, um sie auf eventuelle Verletzungen zu untersuchen.
Der Pilot ließ seine Turbinen laufen, während zwei Sanitäter mit der Trage ins Haus rannten. Er würde die Kinderklinik Heubnerweg in Berlin anfliegen, wo sich die Spezialisten schon auf die Notoperation der kleinen Stefanie Haberland vorbereiteten. Normalerweise gab es keine Nachtflüge nach Berlin, aber was war hier schon normal? Er beherrschte seinen Militärhubschrauber mit dem roten Kreuz auf den Seiten gut genug für jeden Nachtflug der Welt, und er würde die kleine Patientin sicher abliefern, wenn sie nicht während des Fluges starb. Falls sie überhaupt lebend in seinen Hubschrauber gelangte.
Schöffler saß im Wohnzimmer der Villa mit Anja, Benjamin und Stefan Wernsdorff zusammen.
"Was meint ihr eigentlich, wozu es die Polizei gibt?"
Der Schriftsteller hatte sich aus der Bar mit Wein versorgt und trank in großen Zügen. Er setzte die Flasche ab und gab zurück: "Was meinen Sie eigentlich, was uns die Polizei erzählt hätte?"
"Sie hätten uns doch kein Wort geglaubt, oder?" bekräftigte Anja.
Er gab es nicht gern zu, aber der Mann sagte die Wahrheit. "Na ja, das stimmt schon. Dr. Berg ist immerhin ein angesehener Mediziner, ein ehrbarer Bürger, aber ich hätte ihn auf jeden Fall in den nächsten Tagen aufgesucht, obwohl ich ihrer Geschichte nicht folgen konnte."
"Und Steffi wäre tot." sagte Benjamin.
Er schämte sich seiner Tränen nicht, obwohl er ein großer Junge war. Diese Nacht war selbst für einen großen Jungen etwas viel gewesen. Seine Eltern waren auf dem Weg hierher, die Mutter würde mit nach Berlin fliegen, der Vater ihn und Anja mitnehmen.
35
Im Keller kämpften die beiden Ärzte noch immer um Stefanies Leben, der Notarzt, unterstützt von Dr. Berg. Die Waffe hatte er fallen lassen, als er die Chance sah, das Kind doch noch zu retten. Er wusste, was zu tun war.
Zwei Polizisten standen dabei und ließen ihn nicht aus den Augen, aber das nahm er kaum wahr. Stefanie war jetzt soweit stabilisiert, dass man sie ausfliegen konnte. Und er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um zu helfen. Er drückte die Sauerstoffmaske auf das bleiche Gesicht und beobachtete mit großer Erleichterung jeden Atemzug.
36
"Wo haben Sie die Kinder eigentlich kennen gelernt?"
Stefan Wernsdorff lächelte den Kommissar an. "Das bleibt unser Geheimnis, Herr Schöffler. Stimmts, AB?"
Anja nickte. "C wird ebenfalls schweigen, das ist sicher. Die Polizei muss ja nicht alles wissen."
Auch Schöffler lächelte jetzt. Die Erleichterung hatte gesiegt, er konnte sich endlich entspannen, obwohl das kleine Mädchen noch nicht gerettet war. Er bewunderte im Stillen den Mut der Kinder und des Schriftstellers mit den rotunterlaufenen Augen, obwohl er ihr eigenmächtiges Verhalten keineswegs billigen konnte. Immerhin hatten sie Recht, Stefanie wäre am nächsten Tag mit Sicherheit tot gewesen.
"Gut, dann soll es ein Geheimnis bleiben. Aber machen Sie um Himmels willen nicht noch einmal solchen Unsinn. Wenn ich nicht hier vorbeigefahren wäre, und die Fahrräder bemerkt hätte, dann wäre keine Hilfe gekommen."
"Wenn der Hund nicht geschissen hätte, hätte er den Hasen erwischt." gab Wernsdorff zurück. "Pardon, so einen Ausdruck sagt man wohl nicht, wenn eine junge Dame anwesend ist."
Anja lachte. "Da kenne ich aber noch bessere Ausdrücke als du!"
Wernsdorff verbeugte ich tief. "Oh, sie hat mich zum ersten Mal geduzt. Danke, Anja, ich bin Stefan."
Er hatte Freunde gefunden, Kinder zwar, aber vielleicht waren das sowieso die besseren Freunde als Erwachsene. Sie verstellten sich nicht, waren natürlich und offen. Echte Freunde.
37
Stefanie Haberland überlebte und kehrte nach zwei Wochen zu ihrer Familie zurück. Mario und Sabine waren unverletzt, von einigen harmlosen Einstichen abgesehen, die offensichtlich von Blutentnahmen stammten. Dr. Berg verbrachte die nächsten Jahre in einer Anstalt, während Experten seine Aufzeichnungen und Forschungsergebnisse studierten. Er hatte detailliert niedergeschrieben, welche Versuchsreihe er mit den fünf gesunden Kindern vorgehabt hatte, warum sie so jung sein mussten, und welche Erkenntnisse er sich aus der Analyse der Gewebeproben versprach. Transplantationen von gesundem Gewebe in krebskranke Körper, von krebsbefallenen Organteilen in gesunde Kinder, um Abwehrkräfte des Organismus herauszufordern, es war unglaublich. Fünf kleine Kinder als Versuchskaninchen für eine wahnwitzige Theorie. Er war eindeutig nicht zurechnungsfähig und mit seinen Forschungen völlig auf dem Holzweg gewesen. So konnte man den Krebs nicht besiegen.
Stefan Wernsdorff vollendete sein Manuskript und verkaufte es an eine große Illustrierte, nach dem Vorabdruck in mehreren Folgen erschien es als Buch und wurde ein Bestseller. Das ABC wurde in der Erzählung gebührend gewürdigt, und in der Schule waren Anja, Benjamin und Carsten eine Zeitlang Stars. Nach und nach kehrte wieder die Normalität zurück. Die ausgelobte Belohnung wollte Wernsdorff nicht haben, schließlich landete das Geld auf dem Konto der Deutschen Krebshilfe.
Die Hotelruine blieb unverändert stehen, niemand bemerkte die losen Bretter im Zaun.
Stefan Wernsdorff begann im Herbst eine Entziehungskur, er hatte sich entschieden, zumindest zu versuchen, dem Alkohol eine lange Nase zu zeigen. Er arbeitete bereits an einem neuen Manuskript und ließ die drei jungen Freunde am Entstehen teilhaben, wenn sie ihn in der Klinik besuchten. Er schrieb über den Keller in der verlassenen Pension am Waldsee, und eine Gänsehaut rieselte über ihre Rücken, wenn er schilderte, welches Grauen dort lauerte. Etwas hatte dort Unterschlupf gefunden, und Rothberg geriet in seine Hand.