Urlaub.
Ein Wort, das jeder kennt und dessen Bedeutung jedem bewusst ist.
Urlaub heißt Spaß, Entspannung und variable Freizeitgestaltung.
Eine meiner Freundinnen vergisst in den Ferien beispielsweise vor lauter Entspannung den PIN fürs Handy, obwohl sie sich vorher nicht mal die Zahlenkombination eingeprägt hatte, sondern die Daumenbewegung beim Eingeben.
Daraus lässt sich schließen, dass sie in ihrem Gehirn die Verbindung zum Daumen getrennt hat. Solls ja geben.
Ich hingegen trenne mich in den Ferien von allen möglichen, von meinen Eltern mühsam eingetrimmten moralischen Vorsätzen.
Alles begann, als meine Schwester, die oben genannte Freundin und ich gemeinsam in Italien die Ferien verbrachten und uns einbildeten, auf High-Heels durch ein 1200 Seelen Örtchen zu stöckeln. Kaum hatten wir uns am Straßenrand zum Füße-Entspannen auf einer steinernen Parkbank niedergelassen, dackelten schon die ersten verwirrten Italiener an.
Das war an unserem vierten Tag von zwei Wochen.
Wir hatten schon vorher Erfahrung mit den praktisch nicht vorhandenen Englisch-Kenntnissen der Italiener gemacht, aber das, was uns gleich geboten werden sollte, war der absolute Höhepunkt von dem bisher Erlebten. Missverständlich machten sie uns klar, dass sie uns zu einem Kaffee einladen wollen. Wir wollten nicht. Das, liebe Schwestern, ist der wirklich wahre Unterschied zu deutschen Männern: Eine Abfuhr reicht einem Deutschen für gewöhnlich aus, um niedergeschlagen das Weite zu suchen.
Ganz im Gegensatz dazu verhalten sich die Italiener in solch einem Fall, denn diese suchen sich eben einen deutschsprechenden Freund und versuchen es noch einmal.
Die zweite Chance haben sie erfolgreich genutzt und es wurde ein lustiger Abend. Ergo verabredeten wir uns für den nächsten Tag, an dem ein Pfingstfest zugunsten der deutschen Touristen stattfinden sollte. Das war eines dieser Feste, zu dem alle typischen Deutschen rennen, weil es dort alles umsonst gibt.
Ich will nicht wissen, was Italien in diesem Punkt von Deutschland hält.
Ist ja auch wirklich peinlich. Trotzdem warfen wir alle unsere Vorurteile über Bord und trafen uns dort mit den Italienern.
Entsetzt mussten wir feststellen, dass der deutschsprechende Italiano-Slowake und der Rest der Gruppe vom gestrigen Abend nicht dabei waren, sondern nur ein Latino-Gigolo und dessen zu kurz geratene, griechisch-italienische Promenadenmischung.
Möglichst unauffällig mussten wir dann irgendwie die Namen der beiden Lichtgestalten herausbekommen, denn wir hatten uns natürlich nur den des Deutschen gemerkt. Man merkt sich doch immer nur die Person, mit der man am meisten Kontakt hatte und vor allem die, die eine gewisse Sprachebene besitzt, so dass man mit ihr kommunizieren kann.
Hatten die zwei anderen eben nicht.
Den Namen des Griechen weiß ich bis heute nicht, deshalb haben wir ihn "Gulli" getauft, wahlweise auch "Zwergnase".
Genauso wie wir den Sohn des Campingplatzbesitzers "Lustmolch", unseren glotzenden Nachbarn "Voyeur" und eines der widerlichsten Wesen der Welt "Arschloch" genannt haben. Mädchen in unserem Alter tun so was eben noch, auch wenn es kindisch klingen sollte.
Auf jeden Fall haben uns die Italiener auf einen Drink in der angesagten Szene-Bar "Pub El Dorado", wo die Kellner typischerweise Deutsch sprechen, eingeladen. Nach einer viertel Stunde versuchten wir dann mit einem Druck von 150 Bar auf der Blase und einem Drehmoment im Hirn von 80 Newtonmetern, den begriffsstutzigen Italienermischungen klarzumachen, dass wir ganz dringend ein Klo benötigten.
In der Szenedisko gab es so etwas Neumodisches nämlich nicht, also mussten wir doch zum Pfingstfest. Gigolo hatte sein Moped geholt, während er seinen Miniwächter mit uns mitschickte, den selbst meine 1,55 Meter große Freundin allein hätte überwältigen können.
Haben wir aber dann doch nicht gemacht, dafür hatten wir nämlich ein viel größeres, meistens weibliches Problem: Wo war nun das nächste Klo?
Der liebe Gott hatte unsere Stoßgebete erhört und uns zu einem Imbissladen geleitet. Ein erleichterter Seufzer ging durch unser kleines Grüppchen.
Mühsam schleppten wir uns mit letzter Kraft in die drei freien Abteile und ließen stöhnend und Füße verkrampfend dem Alkohol freien Lauf. Eine halbe Stunde später wankten wir völlig entspannt aus dem Imbiss und wunderten uns, dass unsere Kletten verschwunden waren.
Wir hatten uns doch extra beeilt!
Also entschlossen wir uns leicht angesäuert dazu, irgendwo auf sie zu warten - ein dummer Fehler, wie sich herausstellen sollte:
Wir wurden belagert wie eine Gruppe Außerirdische vom Mars.
Na ja, vielleicht waren wir auch so was Ähnliches in ihren Augen, auf jeden Fall waren wir plötzlich umringt von Zwölf- bis Dreizehnjährigen, die aber das gleiche Sprachpensum wie ihre knapp zehn Jahre älteren Leidensgenossen hatten.
Trotzdem war das nicht unser einziges Problem an diesem Abend, denn viel schlimmer war, dass wir nicht wussten, wie wir zurück zur Ferienanlage kommen sollten ohne Mitfahrgelegenheit.
Verärgert wünschte ich alles und jeden in die Hölle, das kein Englisch beherrschte. Als uns dann die Möchtegern-Latinos zum "Strandspaziergang" einladen wollten, tauchten jedoch wieder die vorherigen zwei Missversteher auf.
Na Gott sei Dank, wieder die, die kein Wort von dem verstanden, was man sagt!
Weder Englisch noch Deutsch oder Französisch, wozu ich mich sogar durchgerungen hätte, wenn es hätte sein müssen. NICHTS können die!
Und dieses Land soll bei PISA, mit der man uns an meiner Schule seit zwei Jahren quält, besser abgeschnitten haben?
Wie, um Himmels Willen, haben sie das denn geschafft?!
Das ist doch gerade so unmöglich, dass es vergleichbar mit einem Sieg der deutschen Nationalelf bei der Weltmeisterschaft wäre.
Okay, zugegeben, es soll ja ein paar eingefleischte Fußballfans geben, die bei dem jetzigen Zustand der deutschen Mannschaften immer noch Hoffnungen auf die WM 2006 setzen, aber diese Minderheit kann man an zwei Händen abzählen. Eher gewinnt Italien durch geschickte Foul- und Elfmetertaktik. Man beachte nur mal ihr verwirrtes Straßen-, Verkehrs- und Wohnsystem. Das Chaos ist praktisch vorprogrammiert und das Land existiert immer noch.
Also ich glaube, irgendwas machen wir Deutsche eindeutig falsch.
Nur bis wir dahinter kommen, wieso wir Deutsche immer die Blöden sind und den wirtschaftlichen Erfolg eines Entwicklungslandes haben, ist die Welt durch globale Erwärmung und durch konstanten Selbstzerstörungsmechanismus untergegangen. Wie hoch ist eigentlich die Staatsverschuldung Italiens? Genauso hoch wie unsere? Na, höher geht ja wohl kaum.
Das schafft nicht mal der Sudan.
Soviel zu Italien als Ferienziel. Zurück zur Bevölkerung.
Die zwei Lichtgestalten waren also wieder da und zogen uns dankenswerterweise aus dem Sumpf frühpubertärer Grobmotoriker. Klasse. Ein Haufen Vollidioten weniger im Nacken, dafür zwei Mittzwanziger direkt am Allerwertesten.
Na gut, unsere Probleme summierten sich an diesem Abend um ein kleinstes gemeinsames Vielfaches. Wir entschlossen uns dazu, das Nachhausefahr-Problem als erstes in Angriff zu nehmen, denn zuhause würde die Sause gehen, wenn wir nicht rechtzeitig anwesend wären.
Egal wie, wir mussten irgendwas organisieren, in diesem riesen Chaos voller Touristen, Polizisten und ein paar verwirrten Italienern, die alle keine Ahnung hatten, ob es so etwas wie einen Bus nun gab oder nicht.
Großartiges System -und trotzdem funktioniert alles auf gewisse Art und Weise. In Italien muss man Spontaneität beweisen, sonst kann man im wahrsten Sinne des Wortes einpacken und nachhause in sein wirtschaftsgeschädigtes Deutschland fahren.
Um das zu verhindern, suchten wir verzweifelt nach dem Bus und wie durch ein Wunder kam irgendwann einer, woher auch immer. Soviel steht allerdings fest: Es war ein 7-Sitzer, klein und knallorange, was man bei uns nur aus früheren Zeiten der DDR kennt.
Nicht besonders vertrauenserweckend also, und nicht der gewohnte Luxus aus München. Na ja, Hauptsache nicht die bereits organisierte Fiat-Kiste von einem glatzköpfigen Italiener.
Und auch nicht Gigolos Moped, nein Danke! Also, das Bus-Problem war gelöst.
Problem Italiano-Gefolge noch nicht. Als der Busfahrer nach zehn Minuten entschied, seine Pause persönlich zu beenden, stiegen wir etwas skeptisch ein, während Gigolo mit dem Busfahrer den Fahrplan aushandelte.
Wir fühlten uns wie als wären wir im falschen Film.
Die Fahrt kostete uns nur 1,80 Euro, wofür man in München für drei Personen im Alter von etwa 16 Jahren fast das Dreifache zahlt.
Ein Gutes musste das alles ja haben.
Sehr unglaublich war aber erst die Fahrt:
Zu "Toxic" von Britney Spears und "Yeah" von Usher tuckerten wir alleine in einem Minibus die steile Küstenstraße mit ihren 180° Kurven hinauf, dicht gefolgt von zwei suizid-gefährdeten Italienern auf einem Moped. Überholverbote, Überholen in Kurven, Geschwindigkeitsbegrenzungen mit mehr als 80km/h zuviel Überschreiten und sämtliche Verkehrsregeln wurden missachtet, von Moped und Bus.
All das habe ich meiner Mutter nachher bei der Ausfragestunde und üblichen Grundsatzdiskussion verschwiegen. Wozu auch erzählen?
Bin doch gesund und in einem Stück wieder nachhause gekommen, das ist doch die Hauptsache.
Tatsache jedoch ist, dass die beiden Gullideckel tags darauf in unserer Ferienanlage auftauchten und unsere Hoffnung somit zerstörten, sie endlich losgeworden zu sein. Mist. Auf gewisse Art und Weise hatte ich's geahnt. Das war einfach so klar.
Genauso, als meine Schwester und ich vor zwei Jahren eine neue High-Tech-Anwendung namens Internet ausprobieren wollten. Damals genossen wir den Luxus, sich bequem vom Wohnzimmer aus Pizza ins Haus liefern zu lassen.
Also versuchten wir unser Glück und dachten enttäuscht, dass es nicht geklappt hätte, weil uns keine Bestätigung erreicht hatte.
Wir beschlossen, doch zum Italiener über die Straße zu gehen.
Unglücklicherweise klingelte ungefähr zwanzig Minuten später ein gestresster Avanti-Pizzabote an unserer Tür und wollte das Tauschgeschäft Bares gegen Wahres einfordern.
Genauso hatte ich die Szene im Kopf gehabt - und genauso hatte sie sich auch zugetragen. Ab dem Zeitpunkt, an dem meine technisch total ausgereifte Schwester die Computermaus unter ihre Fuchtel genommen hatte, hätte ich der Katastrophe ins Auge blicken müssen.
So mussten wir ihr tatsächlich und direkter als uns lieb war ins Antlitz blicken.
Es waren nämlich genau 6 Pizzas für zwei höchst verzweifelte Mädchen, die sämtliche Figurgebote verabschieden mussten, um diese dumme Gräueltat ungeschehen zu machen. Klar, denn die Eltern dürften logischerweise nichts merken, waren ja nur 40 Euro, die plötzlich in der höchst geheimen Familienkasse fehlten. Auch klar, dass die Fressorgie total umsonst war, als alles aufflog.
Die beiden Schmalspurfahrer waren also da, um uns erneut zu belästigen. Spontan haben wir uns dann zum Strand begeben und das, was uns dort bot, hätte ich in München nie erlebt. Unser Lieblingsopfer war "Gulli", was natürlich alle wussten außer ihm, denn so verarschenswert wie er war, ist selten jemand. Wir überlegten beispielsweise fieberhaft, ob möglicherweise alles an ihm so klein war. Natürlich diskutierten wir das laut gackernd aus, interessanterweise nur in seinem Beisein.
Wir kamen zu dem Entschluss, dass sonst die Proportionen nicht mehr übereinstimmen würden, deshalb müsse alles klein sein.
Würde ja sonst ganz schön bescheuert aussehen. Also alles klein.
Toller Fang.
Abgesehen von seiner bemitleidenswerten Größe hatte er auch einen selten komischen Humor. Ich glaube, in seinem früheren Leben war er mal Papagei. Er wiederholte widerspruchslos alles, was man ihm sagte - und damit meine ich wirklich alles. Besonders amüsant wurde es, als wir ihm im Neuperlach-Slang und Kaya-Yanar-Style Sprüche wie: "Hose Arsch, Schuhe Arsch, Fresse Arsch, alles Arsch. Du kommst hier net rein!" beibrachten.
Ich erklärte ihm, dass man bei uns solche Sprüche anwendet, wenn man scharfe Blondinen aufreißen will. Die ständen da total drauf. Hehe. Volltrottel.
Soviel zu Zwergnase. Latino-Fan war nicht so verarschenswert wie sein Kumpel.
Aus irgendwelchen Gründen bot er uns einfach nicht die nötige Angriffsfläche dazu. Jedenfalls biss sich Gigolo seit dem ersten Tag an mir die Zähne aus, während meine Schwester und meine Freundin beinahe dahinschmolzen. Ich stehe nicht auf dieses Romantik-Schleim-Sabber-Trief-Gefasele von wegen "Amore" und dem ganzen Mist. Meinen beiden Mädels brach dieser Sachverhalt schier das Herz. Ich hätte mich beinahe erbrochen. Bäh.
Bin unromantisch und stolz drauf. Ich überlegte angestrengt, ob ich ihn verprügeln sollte um ihn loszukriegen.
Heute weiß ich, dass ich es hätte tun sollen.
Na ja, auch diese Sache wäre mir in diesem Stil in München nie passiert.
Und dafür liebe ich München.