Als sich die Dampflok mit lautem Pfeifen und Zischen in Bewegung setzte, mischte sich Angst in die aufgeregte Abschiedsstimmung.
Es waren unbeschwerte, leichte Tage. Mama war mit mir und meiner Schwester in Urlaub gefahren. Wir durften Eis essen und Limonade trinken. Wir wanderten durch schattige Wälder und warfen mit Kieselsteinen auf Fische im Bach. Wir machten lange Spaziergänge im Kurpark und machten uns über die Kurgäste lustig. Wir gingen ins Kino und wir lachten, dass uns der Bauch schmerzte.
Nun rauschten die Wälder des Spessarts am Fenster vorbei. Papa wollte uns in Rüdesheim abholen. Dann wollten wir mit der Autofähre über den Rhein setzen und durch das rheinhessische Hügelland nach Hause fahren. Auf das rheinhessische Hügelland, über das wir im Erdkundeunterricht gesprochen hatten und das ich so oft auf der Landkarte betrachtet hatte, dass ich die Namen und die Lage aller Dörfer auswendig kannte, freute ich mich besonders. Ich freute mich auch auf Papa, aber ich hatte auch Angst vor dem Wiedersehen. Angst vor den endlosen Streitereien zwischen den Eltern, dem frostigen Schweigen und den Tränen, denen wir für ein paar leichte Sommertage entflohen waren.
Papa wirkte verstört. Er nahm Mama beiseite und redete leise auf sie ein. Sie hatten keinen Streit, aber nun war auch Mama ängstlich und still. Auf der Autofähre scharten sich Menschen um ein Kofferradio, das knackend düstere Wortfetzen ausspuckte ... Berlin ... Mauer ... Grenze ... Stacheldraht ... Soldaten ... Die Menschen waren erregt, lauschten und redeten nur im Flüsterton ... Russen ... Amerikaner ... Krieg ...
Auf der Nachhausefahrt wurde kein Wort gesprochen. Irgendwo weit, weit entfernt im Osten wurde eine Mauer gebaut, und hier lag eiskalte Angst über der flirrenden Augusthitze. Ich umklammerte die Hand meiner Schwester und starrte aus dem Fenster. Die rheinhessische Landschaft, die Felder und die Dörfer nahm ich nicht wahr. Tränen flossen über mein Gesicht.
Im Jahr darauf zerbrach unsere Familie für immer. Die Mauer im Osten wuchs, trennte Freunde und Bekannte, riss Familien auseinander, forderte Menschenleben und verbreitete Angst und Schrecken.
Als ich später, viel später vor dem Fernseher Zeuge wurde, wie die Schreckensmauer nach achtundzwanzig Jahren von einem auf den anderen Moment fiel, verschwammen die Bilder des Unfassbaren. Tränen standen in meinen Augen.