Sie ruft: "Essen ist fertig!". Ich antworte nicht. Sie ruft noch einmal, dann gibt sie auf. "Mach dir dein verdammtes Essen doch alleine!", sagt sie. Es klingelt. "Das wird Dimitry sein", sage ich und öffne die Tür. Wie sieht der denn heute wieder aus. Nicht, dass er sich seine Haare nie kämmt und seine Pickel nicht ausdrückt. Nein, er musste auch noch den lila Pullover seines Vaters anziehen. Aber er hat "Erdbeben 4" dabei. Hoffentlich läuft das auf meinem Rechner auch. "Danke Dimitry, wir sehen uns dann morgen in der Schule!", sage ich. Ich schmeiße das Spiel in die Ecke und wende mich wieder "My Day Book 3.12" zu, einem Programm, welches ich mir gestern aus dem Internet saugte um ein Tagebuch anzufangen. Ich beginne zu schreiben:
Liebes Tagebuch,
mein Name ist David Korell. Ich lebe zusammen mit meiner senilen Mutter in einer Zwei-Zimmer-Bruchbude. Davon habe ich eins für mich alleine. In diesem steht ein Bett und mein Computer, mehr brauche ich nicht zum Leben. Mein bester Freund ist Dimitry. Wenn ich nicht gerade in der Schule bin oder beim Judo, spiele ich Computer oder schreibe Programme. Für meine 16 Jahre sehe ich wirklich gut aus. Alle anderen Jungen aus meiner Klasse müssen gegen den Bartwuchs ankämpfen und sind schon im Stimmbruch gewesen. Mein Körper verhält sich da anders. Meine Mutter meint, ich sähe aus wie ein junger Gott. Ich habe hellblondes, fast schon weißes Haar, meine Stimme hat sich, seit ich sprechen kann, nicht verändert und auf meinem Körper befindet sich kein einziger Mitesser. Ich werde in meiner Klasse schon als Sonderling gehandelt.
Bis Morgen!
Ich beende das Programm und lege mich schlafen. Ich habe einen Albtraum.
Es stehen Personen vor meinem Bett. Sie haben weiße Kittel an und es ist hell unerträglich hell. Ich bilde mir ein, es wäre Mittag und ich hätte verschlafen. Ich öffne die Augen. Das Zimmer ist dunkel und ich habe ein unbestimmtes Gefühl der Angst.
Ich schlafe wieder ein. -"Girl you know it's true! -Uh Uh Uh!- I love you!"-.
Der Radiowecker reißt mich aus dem Schlaf. Heute sind mündliche Prüfungen. Frau Kafka fragt: "Welche Möglichkeiten gibt es, Style-Sheets für eine große Anzahl von HTML-Pages zentral zu definieren und in welchen Bereichen des Quelltextes werden die diesbezüglichen Tags gesetzt?" Mein Gehirn antwortet mir und ich wiederhole seine Worte. Frau Kafka sagt: "1, hinaus mit dir!".
Liebes Tagebuch,
heute war mündliche Prüfung. Die Stimmen aus meinem Kopf antworteten und ich musste die Worte nur noch wiederholen. Das war schon immer so. Ich weiß einfach alles. Mein Notendurchschnitt ist 1,0. Nach der Schule lauerte mir Peter auf, mein Widerpart. Ich fand nicht heraus, was er wollte, denn Dimitry kam vorbei und Peter ließ mich in Ruhe. Er ist ein Arschloch und ich hasse ihn dafür. Er klaut mir Geld und er schlägt mich manchmal.
Bis Morgen!
Ich beende das Programm und lege mich schlafen. Wieder habe ich einen Albtraum.
Ich laufe über eine grüne Wiese. Ich streichele ein Mammut. Es zerfällt zu Staub. Ich renne weg. Die Wiese ist jetzt neongrün und es ist hell, unerträglich hell. Personen in weißen Kitteln verfolgen mich. Ich wache auf und schlafe wieder ein. Alles was bleibt, ist ein unbestimmtes Gefühl der Angst.
-"It's a raining man! Halleluja"-. Der Radiowecker weckt mich. Vor der Schule treffe ich Peter. Wir stehen uns gegenüber und mir wird schwarz vor Augen. Das passiert mir öfter und ich denke mir nichts dabei. Meistens geht das kurze Zeit später wieder weg und ich werde dadurch nicht beeinträchtigt. Nun aber bleibt es schwarz, ich gleite wieder in meine Träume und Peter erzählt mir etwas, das ich nicht verstehe.
Irgendwo laufen differenzierte Computersysteme an. Der unwahrscheinlichste Fehler im Programm ist eingetreten. Nirgendwo in den gespeicherten Dateien ist ein Hinweis auf das, was man in diesem Fall unternehmen sollte, zu finden. Das Programm ist hilflos. Kein Mensch ist da, der Verantwortung übernehmen kann. Das rein logisch arbeitende Programm muss in diesem Fall dem Fehler folgen. Sollte ich der perfekt erschaffene Mensch sein, der alles kann, alles weiß? Bin ich die Zukunft? Ein Spielzeug? Bin ich von Menschen oder von Gott?
Mein Körper schüttelt sich tiefer und tiefer in die unendliche Schwärze hinein. Das unerträglich grelle Licht zerfrisst meine Augäpfel, hinter meinem Brustbein knirscht es bedenklich und mein Herz schraubt sich spiralförmig in sich zusammen. Dann stürze ich in dem grellen Blitz einer Supernova meiner persönlichen Hölle entgegen. Ich verdichte mich in einer unnachgiebigen immateriellen Lähmung und verschwinde Stück für Stück aus meiner Gegenwart, meiner Vergangenheit und meiner Zukunft.