Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll saß an einem Fensterplatz des ICE. Sie fuhr das erste Mal mit dieser Hochgeschwindigkeitsbahn, deren scharfen Züge sie irgendwie an einen Hai erinnerten. Sie genoss den weichgepolsterten Sitz und die Beinfreiheit, während sie aus dem Fenster sah, ohne richtig wahrzunehmen, wie die Landschaft an ihr vorbeiraste. Sie hatte heute einen anstrengenden Nachmittag vor sich. Das Projekt, an dem sie seit zwei Monaten arbeitete, sollte nun seinen Abschluss finden. Das lag jedoch allein in ihrer Hand.
Sie hatte ihr rechtes Bein über das andere geschlagen und wippte es nervös auf und ab. Hoffentlich konnte sie die Bauherren überzeugen.
Auf dem freien Sitzplatz neben ihr lag ihre Mappe mit den Plänen für das neue Hochhaus. Sheryll nahm die Mappe in die Hand und blätterte mit zusammengezogenen Augenbrauen darin.
Sie sah nicht auf, als sich jemand neben sie setzte, so vertieft war sie in ihre Unterlagen.
"Interessant", hörte sie eine weibliche Stimme nach einer Weile sagen.
Ja, dieser Tag wird interessant, dachte sie, ohne sich angesprochen zu fühlen. Erst als sie den aufdringlichen Blick der alten Dame neben sich spürte, sah sie auf.
"Interessant", wiederholte ihre Sitznachbarin nochmals, doch sie beachtete nicht die Pläne auf Sherylls Schoß. Dafür fixierte sie Sherylls Gesicht, als hätte sie irgendein Geschwulst oder sonst etwas Eigenartiges entdeckt.
Sheryll fasste sich automatisch ins Gesicht und strich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Sie spürte nichts außer ihrer zarten Haut, die wie immer einen Ton zu blass für diese Jahreszeit war. Sie genehmigte sich einfach zu wenig Freizeit, kam selten an die frische Luft.
"Was meinen Sie?", fragte sie und stellte fest, dass sie sich über die alte Dame ärgerte.
"Ach Schätzchen", die Dame nahm ihre Hand, "Lassen Sie sich nicht von einer alten Dame stören. Ich habe nur eben diese Brieftasche zwischen den Sitzen gefunden. Sie war eingeklemmt." Sie hielt Sheryll die lederne Brieftasche hin.
"Oh. Sie gehört nicht mir." Sheryll hatte keine Lust auf ein Gespräch. Sie musste sich noch geistig auf die Verhandlungen vorbereiten.
"Sehen Sie einmal." Die Dame öffnete sie. "Es ist ein Ausweis darin. Die Brieftasche hat ein Mann vergessen. Ich war so neugierig und hab mir erlaubt das Foto anzusehen." Sie hielt es Sheryll unter die Nase. Unfreiwillig nahm Sheryll den Lichtbildausweis und sah ihn sich an. Sie merkte wie ihr für eine Sekunde die Luft wegblieb. Für einen kurzen Moment hatte sie ihrer Phantasie freien Lauf gelassen. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten.
"Kennen Sie ihn?", es war der alten Dame nicht entgangen, dass das Foto in Sheryll etwas ausgelöst hatte.
Doch Sheryll hatte sich schon wieder gefasst. "Nein, nein... Für einen Moment dachte ich..." Sie sah ihre Sitznachbarin an. "Nein", sagte sie entschlossen, "ich kenne ihn nicht."
"Ich werde den Ausweis wohl am Bahnhof abgeben." Sie schien auf eine Antwort zu warten. Da merkte Sheryll, dass sie die Brieftasche noch immer in der Hand hielt.
"Ich mache das schon", hörte sie sich selbst sagen. Sie konnte es nicht glauben, als sie sie in ihrer Handtasche verstaute.
"Wie Sie möchten, aber vergessen Sie es nicht." Die Dame sah sie misstrauisch an.
Es war bereits 20 Uhr als Karl sich vom Fenster abwandte, an dem er die meisten Stunden seiner Tage verbrachte. Es tat ihm gut, andere Menschen zu sehen. Zu wissen, dass das Leben draußen weiterging.
Er streckte seinen verspannten Rücken, während er in die Küche ging, um sich etwas zu essen zu machen. Er hatte noch eine Knackwurst und etwas Gemüse vom Vortag übrig. Gott sei Dank hatte er keine Mikrowelle. So verging wenigstens etwas Zeit beim Aufwärmen seiner täglichen Speisen. Denn Zeit hatte er genug. Vor allem jetzt, seit er nicht mehr arbeitete. Doch was konnte er tun, wenn sein Körper nicht mehr mitmachte? Seine Arbeit hatte ihn immer abgelenkt - von den Sorgen und Gedanken, die ihn umtrieben. Er hatte es nie leicht gehabt im Leben, doch die Einsamkeit war das schlimmste.
Was hatte sie eigentlich hier zu suchen? War ihr der Erfolg heute Nachmittag so sehr zu Kopf gestiegen? Sie war überglücklich gewesen, als sie die Bauherren überzeugt hatte. Anschließend waren sie sogar noch essen gegangen. Vielleicht war es auch der Wein, überlegte sie. Doch da sie schon einmal hier war, wäre es dumm, wieder zurückzufahren.
Sheryll griff in ihre Handtasche und holte den Ausweis hervor, den sie beim Aussteigen am Bahnhof vergessen hatte, abzugeben. Sie dachte an die alte Dame und hoffte, sie hatte sie nicht beobachtet, wie sie einfach mit dem Ausweis in der Tasche zu den Taxis geeilt war.
Grafengasse 9. Sheryll war noch nie in dieser Stadt gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wo diese Gasse sein sollte. Als sie endlich einen Passanten auf der fast menschenleeren Strasse sah, fragte sie ihn einfach nach dem Weg.
"Die Gasse ist gegenüber vom alten Turm, die kleine Einkaufsstrasse." Die junge Frau deutete in die Richtung.
Grafengasse. Endlich. Sie wünschte, sie wäre jetzt zu Hause, so erschöpft und müde war sie. Je näher sie der Nummer 9 kam, desto heftiger schlug ihr Herz. Was hatte sie hier zu suchen, fragte sie sich noch einmal.
Wieder einmal holte er den Stapel Briefe heraus, die sie ihm ungeöffnet wieder zurückgeschickt hatte. Er nahm einen nach dem anderen heraus und las die Zeilen, die nie von jemand anderem gelesen wurden. Wieder einmal kamen ihm die Tränen. Warum hatte er sie nie besucht, hatte sein Recht eingefordert? Er war zu schwach gewesen. Jetzt war es zu spät, sie würde es ihm nie verzeihen. Aber wahrscheinlich wusste sie gar nicht, dass es ihn gab.
Plötzlich läutete es an der Tür. Wer konnte das sein? Er verstaute die Briefe wieder in der Lade neben dem Fernseher, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging in den Vorraum um nachzusehen.
Durch den Spion erkannte er eine junge Frau. Sie hatte seine Brieftasche in der Hand, die er letzte Woche im neuen ICE vergessen hatte, als er versucht hatte, sein Leben umzustellen. Es sollte der Anfang sein, ab und zu etwas zu unternehmen und unter Leute zu kommen. Doch bei dem einen Mal war es seit dem geblieben.
Er öffnete die Tür.
Ein Mann um die sechzig Jahre stand vor ihr. Er sah älter aus, als auf dem Passfoto. Doch er hatte die gleichen blauen Augen wie sie. Wieder spürte sie dasselbe Glühen in ihren Wangen, wie heute Nachmittag im Zug, als sie sein Foto das erste Mal gesehen hatte. Wieso empfand sie so? Sie kannte diesen Mann doch gar nicht.
Wortlos lies er sie in die Wohnung.
"Wer ist das?", fragte sie, als sie das Foto von einem kleinen Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, auf der Wand gegenüber der Eingangstüre sah.
"Ich glaube, das bist du."
Erst als Sheryll die Tränen an ihren Lippen schmeckte, merkte sie, dass sie weinte. "Wo warst du", schluchzte sie.
Er holte die ungelesenen Briefe und drückte sie ihr wortlos in die Hand.