Der kleine Däumling war mutiger. Während der Riese in festem Schlafe lag, sagte er zu seinen Brüdern, sie sollten rasch nach Hause laufen und sich um ihn keine Sorge machen. Sie folgten seinem Rat und erreichten glücklich das Haus. Der kleine Däumling machte sich an den Riesen heran, zog ihm vorsichtig seine Stiefel aus und schlüpfte selbst hinein. Die Stiefel waren zwar groß und weit, aber es waren Zauberstiefel: sie hatten die Eigenschaft, größer oder kleiner zu werden, je nach ihrem Träger, und sie paßten ihm so gut, als seien sie für ihn gemacht.
Schnurstracks lief er zum Hause des Riesen zurück und fand dort sein Weib in Tränen bei ihren toten Töchtern.
»Euer Gatte ist in großer Gefahr,« sagte Däumling zu ihr, »er ist von Räubern gefangen, und diese haben geschworen, ihn zu töten, wenn er ihnen nicht all sein Gold und Silber gäbe. Gerade als sie ihm den Dolch an die Kehle setzten, kam ich zufällig vorbei, und er bat mich, zu Euch zu gehen, um Euch zu benachrichtigen und Euch zu sagen, Ihr solltet mir alles aushändigen, was er an Vermögen besitzt, und sollt nichts zurückbehalten, weil sie ihn sonst ohne Mitleid töten. Da größte Eile nötig ist, gab er mir seine Siebenmeilenstiefel. Es soll zugleich ein Beweis sein, damit Ihr nicht glaubt, ich sei ein Schwindler.«
In ihrem großen Schrecken gab die Frau ihm alles, was sie hatte, denn wenn der Riese auch kleine Kinder fraß, so war er doch immer ein guter Vater und Gatte.
Schwer beladen mit den Schätzen des Riesen kehrte der kleine Däumling in das Haus seines Vaters zurück, wo er mit großer Freude empfangen wurde.
Es gibt viele Leute, die nicht glauben wollen, daß der kleine Däumling den Riesen bestohlen habe. Er habe in Wirklichkeit sich nur deshalb keine Gedanken darüber gemacht, dem Riesen die Siebenmeilenstiefel fortzunehmen, weil dieser sie doch nur dazu benutzte, um die kleinen Kinder zu fangen. Diese Leute behaupten, sie wüßten es aus bester Quelle, denn sie wären selbst im Hause des Holzhackers zu Gast gewesen, und sie erzählen, der kleine Däumling habe sich die Stiefel des Riesen angezogen und sei damit an den Hof des Königs gegangen, wo man in großer Sorge um das Schicksal des Heeres war, das 200 Meilen entfernt in heißem Kampfe lag. Man hatte keine Nachricht über den Ausgang der Schlacht.
Däumling ging nun zum König und erbot sich, ihm noch vor Tagesende Nachricht von der Armee zu bringen. Der König versprach ihm eine große Belohnung, wenn er dies fertig bringe. Noch am selben Abend überbrachte der kleine Däumling die ersehnte Botschaft, und dieser erste Lauf machte ihn so berühmt, daß er alles erreichte, was er wollte. Der König belohnte ihn fürstlich. Däumling brachte seine Befehle zur Armee, und viele Damen gaben ihm alles, was er verlangte, um nur Nachricht von ihren Liebhabern zu erhalten. Das war seine beste Einnahme. Es fanden sich zwar auch einige Ehefrauen, die ihm Briefe für ihre Gatten mitgaben, aber diese zahlten schlecht, und er hielt es für unter seiner Würde, mit dem ihm von dieser Seite zufließenden Verdienste überhaupt zu rechnen.
Auf diese Weise verschaffte er seiner ganzen Familie ein gutes Auskommen. Seinem Vater und seinen Brüdern kaufte er neugeschaffene Amtsstellen, und sich selbst schuf er einen trefflichen Hausstand.
Moral:
Wenn einer nette Kinder hat,
Die schön und wohl geraten sind,
Dann zeigt er sie der ganzen Stadt. —
Jedoch verliert er nicht ein Wort,
Wird ihm geschenkt ein schwächlich Kind,
Er quält’s und tut ihm jedem Tort. —
Doch oft ist so ein kleiner Mann
Ein Kerl, der vieles weiß und kann:
Der kleine Däumling, wie gesagt,
Hat der Familie Glück gebracht.