Das kleine Elefantenmädchen Nelly mochte nichts lieber, als die Geschichten aus ihrem Lieblingsbuch. Sie konnte es kaum abwarten, bis jemand Zeit fand, um ihr daraus vorzulesen. In einem kleinen Rucksack, auf den Rücken geschnallt, hatte sie es stets bei sich.
In den Elefantenfamilien kümmerten sich außer den Eltern auch viele Tanten und Cousinen um die Elefantenkinder, die noch nicht zur Schule gingen oder noch sehr klein waren. Insofern hatte Nelly viele Verwandte um sich herum, die schon lesen konnten.
Komischerweise fanden die Erwachsenen immer einen triftigen Grund, weshalb sie keine Zeit hatten und weshalb sie Nelly nun gerade nicht aus ihrem Lieblingsbuch vorlesen konnten. Nelly wurde dann oft auf später vertröstet.
Auf Dauer war das ganz schön anstrengend. „Was müsste es doch schön sein, selbst lesen zu können“, dachte Nelly.
Jeden Morgen brach eine Horde von Elefantenkindern in die Schule auf, die sich in der Savanne befand. Darunter waren auch die Geschwister und die Nachbarskinder von Nelly.
Am liebsten hätte sie sich in die Gruppe gemischt, aber jedesmal enttarnte sie einer von den großen Schülern. „Was willst du denn hier! Geh zurück nach Hause! Du darfst noch nicht mit! Du bist noch kein Schulkind!“
Darüber war Nelly richtig sauer. Sie hätte doch nur ganz leise zugeguckt, wie Lesen funktioniert. „Die großen Schüler sind sowieso ganz schön eingebildet.“
„Nur weil sie die großen Ranzen mit dicken Büchern bei sich haben und eben schon lesen, schreiben und rechnen können. Pfff!“, erklang es aus Nellys Rüssel und sie trottete traurig davon.
Wenn sie dann zurückbleiben musste und endlich jemanden gefunden hatte, der bereit war ihr vorzulesen, holte sie schnell ihr Lieblingsbuch aus dem Rucksack hervor. Viele Geschichten kannte sie schon.
Dennoch hörte sie die Geschichten immer wieder gern und lauschte jedesmal ganz aufmerksam. Wenn die Vorleserin am Ende der Seite angelangt war, konnte sie sogar an der richtigen Stelle mit ihrem Rüssel umblättern.
Und Nelly merkte es, ob jemand gerne las oder nicht.
Ihre große Cousine zum Beispiel, war ganz oft nicht bei der Sache. Manchmal ließ sie ein Wort aus, oder verlas sich ständig. Dann rief Nelly sofort dazwischen: „Aber da steht doch ganz was anderes drin!“ und guckte sie vorwurfsvoll an.
„Woher willst du das wissen? Du kannst doch gar nicht lesen was da steht“, entgegnete die Cousine dann. „Doch, das weiß ich wohl. Diese Geschichte wurde mir schon oft vorgelesen und ich habe es mir genau gemerkt.“ Aber beweisen konnte Nelly es natürlich nicht.
„Ach Nelly, es wird wirklich Zeit, dass du bald selbst deine Bücher liest!“, sagte die Elefantencousine. „Sei doch froh, dass ich mir überhaupt die Zeit genommen habe“. Daraufhin klappte sie das Buch zu und ging wieder an ihre Arbeit.
„Das kann doch nicht so weitergehen! Wie könnte ich mir das Lesen nur selbst beibringen?“, dachte Nelly.
Um sich einen Rat zu holen, trottete sie zu ihrer Oma. Sie war schon sehr alt und konnte nicht mehr gut sehen. Deshalb konnte sie der kleinen Enkelin auch nicht mehr vorlesen.
Trotz der Brille, die Oma trug, verschwammen die Buchstaben vor ihrer Nase. Aber konnten Buchstaben schwimmen? Natürlich nicht. Man sagte es nur so, wenn bei jemandem die Sehstärke stark nachließ.
Aber Oma konnte so gut trösten. Und auch heute legte die Oma ihren alten Rüssel um Nellys Kopf und fragte: „Habe ich dir eigentlich schon die Geschichte vom schlauen Äffchen erzählt?“
„Nein noch nicht“, sagte Nelly. „Na dann hör mir mal gut zu!“, sagte die Elefantenoma und die beiden machten es sich gemütlich unter einem großen, schattigen Baum.
Es gab mal ein Äffchen, das von sich meinte, schlauer zu sein, als alle anderen um sich herum. Um Lesen zu lernen, bräuchte es nicht in die Schule zu gehen.
Es würde sich einfach alle Buchstaben besorgen und dann würde es schon irgendwie ganz schnell und ganz von alleine klappen. „So schwer kann es doch nicht sein!“, war es sich ganz sicher.
Also lief es jeden Tag zum Schulhof, versteckte sich in einem großen Baum und wartete bis es nach dem Unterricht zur Pause läutete. Dann verließen nämlich die Lehrer und Schüler ihre Plätze und ließen ihre Ranzen und Hefte und Bücher einfach auf den Tischen liegen und gingen in die Pause.
Schnell kletterte es dann durch das Fenster in das Klassenzimmer, sprang auf deren Schulbänke und schnitt mit einer Schere, die auf dem Tisch lag, die Buchstaben aus den Heften und Büchern heraus. Es nahm so viele mit, wie es tragen konnte.
Dann lief es wieder schnell zum Baum, kletterte hinauf und hing jeden einzelnen Buchstaben an den Zweigen auf. Das Äffchen sprang von Ast zu Ast und versuchte aus den Buchstaben Worte zu bilden, aber es klappte nicht.
„Aber die Schüler lernen es doch auch so?“, dachte es. Zumindest hatte das Äffchen es so beobachtet. „Das schaue ich mir morgen noch mal genauer an“, beschloss es und ging schlafen.
Am nächsten Morgen nahm es die Stellung im Baum wieder ein. Die Schüler packten die Hefte und Bücher aus und begannen zu lesen. „Aber was für ein Schreck! Da kam ja ein Kauderwelsch heraus.“
Alle guckten sich fragend an. „Was war passiert?“. Bei jedem fehlten an verschiedenen Stellen die Buchstaben und alles ergab plötzlich keinen Sinn mehr.
Eine Schülerin begann zu weinen, ein anderer wurde böse und schrie: “Wer hat das gemacht? Wer hat die Löcher in mein Heft geschnitten? Wenn ich den erwische!“
Als das Äffchen das hörte, bekam es Angst. „Ich wollte doch nur lesen lernen und niemanden verärgern.“ Es begann die Buchstaben von den Ästen zu befreien und sie flatterten langsam vom Baum auf den Schulhof.
Ein Schüler sah es aus dem Fenster und meinte: „Seht nur! Vom Baum regnet es Buchstaben!“ Alle liefen hinaus und fingen an, die Buchstaben einzusammeln.
Jemand rief „Hey, da ist ja mein A!“ und klebte es in sein Heft. Ein anderer rief: „Ich habe mein O gefunden. Aber wer hat mein U gesehen?“
Bis alle Buchstaben wieder an den richtigen Ort gelangt sind, hatte das Äffchen es sehr aufmerksam beobachtet und deren Laute gehört und konnte einige dadurch gut einordnen. Aber lesen!? Konnte es noch lange nicht.
„Es ist wohl besser, ich lasse es mir in der Schule richtig beibringen“, dachte es und lief etwas nachdenklich nach Hause.
„Gedulde dich auch noch etwas kleine Nelly“ , sagte die Elefantenoma. „Du wirst noch früh genug das Lesen lernen. Und wenn die anderen mal keine Zeit zum Vorlesen finden, dann darf man auch eigene Geschichten erfinden und weitererzählen. Und zwar allen, die sie gerne hören möchten.“