»Die Sonne ist noch nicht unter« — sagte der eine Vogel — »wir müssen noch eine Weile warten, bis der Mond aufgeht, und die Jungfrau zur Quelle kommt. Wollen doch sehen, ob sie den Jüngling unter dem Baume bemerkt?« Der andere Vogel erwiderte: »Ihrem Auge entgeht wohl Nichts, was nach einem jungen Manne riecht,[S 246] Sollte der Jüngling verschlagen genug sein, um nicht in ihr Garn zu gehen?« Worauf der erste Vogel sagte: »Wir werden ja sehen, wie sie miteinander fertig werden.«
Der Abend war schon vorgerückt, der Vollmond stand schon hoch über dem Walde, da hörte der Jüngling ein leises Geräusch: nach einigen Augenblicken trat aus dem Walde eine Maid hervor, und schritt flüchtigen Fußes, so daß ihre Sohlen den Boden nicht zu berühren schienen, über den Rasen zur Quelle. Der Jüngling mußte sich gestehen, daß er in seinem Leben noch kein schöneres Weib gesehen habe, und mochte kein Auge mehr von der Jungfrau verwenden.
Diese ging, ohne seiner zu achten, zur Quelle, hob die Augen zum Monde empor, fiel auf die Knie, tauchte neun Mal ihr Antlitz in die Quelle, blickte nach jedem Male den Mond an und rief: »Vollwangig und hell, wie du jetzt bist, möge auch meine Schönheit blühen unvergänglich!« Dann ging sie neun Mal um die Quelle und sang nach jedem Gange:
»Nicht der Jungfrau Antlitz welke,
Nie der Wangen Roth erbleiche,
Ob der Mond auch wieder schwinde,
Möge ich doch immer wachsen,
Mir das Glück stets neu erblühen!«
Darauf trocknete sie sich mit ihren langen Haaren das Gesicht ab, und wollte von dannen gehen, als ihre Augen plötzlich auf die Stelle fielen, wo der Jüngling unter dem Baume saß. Sogleich wandte sie ihre Schritte dahin. Der junge Mann erhob sich und blieb in Erwartung stehen. Die schöne Maid kam näher und sagte:[S 247] »Eigentlich müßtest du einer schweren Strafe verfallen, daß du der Jungfrau heimliches Thun im Mondschein belauscht hast; aber da du fremd bist und zufällig herkamst, so will ich dir verzeihen. Doch mußt du mir wahrheitsgetreu bekennen, woher du bist und wie du hierher kamst, wohin bisher noch kein Sterblicher seinen Fuß gesetzt hat?« Der Jüngling antwortete mit vielem Anstande: »Vergebet, theure Jungfrau, wenn ich ohne Wissen und Willen gegen euch gefehlt habe. Da ich nach langer Wanderung hierher gerieth, fand ich den schönen Platz unter dem Baume, und wollte da mein Nachtlager nehmen. Eure Ankunft ließ mich zögern, so blieb ich sitzen, weil ich glaubte, daß stilles Schauen euch nicht nachtheilig werden könne.« Die Jungfrau versetzte liebreich: »Komm zur Nacht zu uns! Auf Kissen ruht es sich besser als hier auf kühlem Moose.« Der Jüngling stand ein Weilchen zweifelnd, und wußte nicht, was er thun solle, ob das freundliche Anerbieten annehmen oder zurückweisen. Da sprach auf dem Baumwipfel ein Vogel zum andern. »Er wäre ein Thor, wenn er sich das Anerbieten nicht gefallen ließe.« Die Jungfrau, die der Vogelsprache wohl nicht kundig war, sagte mit freundlicher Mahnung: »Fürchte nichts, mein Freund! ich lade dich nicht in böser Absicht ein, ich wünsche dir von ganzem Herzen Gutes.« Die Vögel sagten hinterdrein: »geh', wohin man dich ruft, aber hüte dich, Blut zu geben, um deine Seele nicht zu verkaufen.«
Nun ging der Jüngling mit ihr. Nicht weit von der Quelle kamen sie in einen schönen Garten, in welchem ein prächtiges Wohnhaus stand, das im Mondschein[S 248] schimmerte, als wären Dach und Wände aus Gold und Silber gegossen. Als der Jüngling hineintrat, fand er viele prachtvolle Gemächer, eins immer schöner als das andere; viele hundert Kerzen brannten auf goldenen Leuchtern und verbreiteten überall eine Helligkeit wie die des Tages. Darauf gelangten sie in ein Gemach, wo eine mit köstlichen Speisen besetzte Tafel sich befand; an der Tafel standen zwei Stühle, der eine von Silber, der andere von Gold; die Jungfrau ließ sich auf den goldenen Stuhl nieder, und bat den Jüngling, sich auf den silbernen zu setzen. Weißgekleidete Mädchen trugen die Speisen auf und räumten sie wieder ab, wobei aber kein Wort gesprochen wurde, auch traten die Mädchen so leise auf, als gingen sie auf Katzenpfoten. Nach Tisch, als der Jüngling mit der königlichen Jungfrau allein geblieben war, wurde ein anmuthiges Gespräch geführt, bis endlich ein Frauenzimmer in rother Kleidung erschien, um zu erinnern, daß es Zeit sei, sich schlafen zu legen.
Da führte die Jungfrau den Jüngling in eine andere Kammer, wo ein seidenes Bett mit Daunenkissen stand; sie wies es ihm und entfernte sich. Der Jüngling meinte bei lebendigem Leibe im Himmel zu sein, auf Erden sei solch' ein Leben nicht zu finden. Nur darüber wußte er später keine Rechenschaft zu geben, ob ihn Träume getäuscht, oder ob er wirklich Stimmen an seinem Bette vernommen hätte, welche ihm ein Wort zuriefen, das sein Herz erschreckte: »Gieb kein Blut!«
Am andern Morgen fragte ihn die Jungfrau, ob er nicht Lust habe hier zu bleiben, wo die ganze Woche aus lauter Feiertagen bestehe. Und als der Jüngling auf[S 249] die Frage nicht gleich Antwort gab, setzte sie hinzu: »Ich bin, wie du selbst siehst, jung und blühend, und ich stehe unter Niemandes Botmäßigkeit, sondern kann thun, was mir beliebt. Bisher ist es mir noch nie in den Sinn gekommen zu heiraten, aber von dem Augenblicke an, wo ich dich erblickte, stiegen mir plötzlich andere Gedanken auf, denn du gefällst mir. Sollten nun unsere Gedanken übereinstimmen, so könnte ein Paar aus uns werden. Hab' und Gut besitze ich unendlich viel, wie du dich selber auf Schritt und Tritt überzeugen kannst, und so kann ich Tag für Tag königlich leben. Was dein Herz nur begehrt, kann ich dir gewähren.« Wohl drohte die Schmeichelrede der schönen Maid des Jünglings Sinn zu verwirren, aber zu seinem Glücke fiel ihm ein, daß die Vögel sie die Höllenjungfrau genannt und ihn gewarnt hatten, daß er ihr Blut gebe, und daß er auch in der Nacht, sei es träumend oder wachend, dieselbe Warnung vernommen habe. Darum erwiederte er: »Theure Jungfrau, verargt es mir nicht, wenn ich euch ganz aufrichtig gestehe, daß man das Freien nicht abmachen kann wie einen Roßkauf, sondern daß es dazu längerer Ueberlegung bedarf. Vergönnt mir deshalb einige Tage Bedenkzeit, dann wollen wir uns darüber verständigen.« »Warum nicht,« erwiederte die schöne Maid — meinethalben kannst du dich einige Wochen bedenken und mit deinem Herzen zu Rathe gehen.«
Damit nun dem Jünglinge inzwischen die Zeit nicht lang würde, führte ihn die Jungfrau von einer Stelle ihres prächtigen Hauses zur andern, und zeigte ihm all' die reichen Schatzkammern und Truhen, welche sein Herz erweichen[S 250] sollten. All' diese Schätze waren aber durch Zauberei entstanden, denn die Jungfrau konnte mit Hülfe des Salomonischen Siegelringes alle Tage und an jedem Orte eine solche Wohnung nebst allem Zubehör hervorbringen, aber das Alles hatte keine Dauer, es war vom Winde hergeweht, und ging auch wieder in den Wind, ohne eine Spur zurückzulassen.[81] Da der Jüngling das aber nicht wußte, so hielt er das Blendwerk für Wirklichkeit. Eines Tages führte ihn die Jungfrau in eine verborgene Kammer, wo auf einem silbernen Tische ein goldenes Schächtelchen stand. Auf das Schächtelchen zeigend sagte sie: »Hier steht mein theuerster Schatz, dessen Gleichen auf der ganzen Welt nicht zu finden ist, es ist ein kostbarer goldener Ring. Wenn du mich freien solltest, so würde ich dir diesen Ring zum Mahlschatz geben, und er würde dich zum glücklichsten aller Menschen machen. Damit aber das Band unserer Liebe ewige Dauer erhalte, mußt du mir dann für den Ring drei Tropfen Blut von dem kleinen Finger deiner linken Hand geben.«