Vormals lebte, der Erzählung alter Leute zufolge, ein gräuliches Unthier, das aus Nordland gekommen war, schon große Landstriche von Menschen und Thieren entblößt hatte, und allmählich, wenn Niemand Abhülfe gebracht hätte, alles Lebendige vom Erdboden vertilgt haben würde.
Es hatte einen Leib wie ein Ochs und Beine wie ein Frosch, nämlich zwei kurze vorn und zwei lange hinten, ferner einen schlangenartigen zehn Klafter langen Schweif; es bewegte sich wie ein Frosch, legte aber mit jedem Sprunge eine halbe Meile zurück. Zum Glücke blieb es an dem Orte, wo es sich einmal niedergelassen hatte, mehrere Jahre, und zog nicht eher weiter, als bis die ganze Umgegend kahl gefressen war. Der Leib war über und über mit Schuppen bedeckt, welche fester waren als Stein und Erz, so daß Nichts ihn beschädigen konnte. Die beiden großen Augen funkelten bei Nacht und bei Tage wie die hellsten Kerzen, und wer einmal das Unglück hatte, in ihren Glanz hinein zu blicken, der war wie bezaubert, und mußte von selbst dem Ungeheuer in den[S 242] Rachen laufen. So kam es, daß sich ihm Thiere und Menschen selber zum Fraße lieferten, ohne daß es sich von der Stelle zu rühren brauchte. Die Könige der Umgegend hatten demjenigen überaus reichen Lohn verheißen, der durch Zauber oder durch andere Gewalt das Ungeheuer vertilgen könnte, und Viele hatten schon ihr Heil versucht, aber ihre Unternehmungen waren alle gescheitert. So wurde einst ein großer Wald, in welchem das Ungeheuer hauste, in Brand gesteckt; der Wald brannte nieder, aber dem schädlichen Thiere konnte das Feuer nicht das Mindeste anhaben. Allerdings sagten Ueberlieferungen, die im Munde alter Leute waren, daß Niemand auf andere Weise des Ungeheuers Herr werden könne, als durch des Königs Salomo Siegelring; auf diesem sei eine Geheimschrift eingegraben, aus welcher man erfahre, wie das Unthier umgebracht werden könne. Allein Niemand wisse zu melden, wo jetzt der Ring verborgen sei, und eben so wenig sei ein Zauberer zu finden, der die Schrift deuten könne.
Endlich entschloß sich ein junger Mann, der Herz und Kopf auf dem rechten Flecke hatte, auf gut Glück den Spuren des Ringes nachzuforschen. Er schlug den Weg gen Morgen ein, allwo vornehmlich die Weisheit der Vorzeit zu finden ist. Erst nach einigen Jahren traf er mit einem berühmten Zauberer des Ostens zusammen und fragte ihn um Rath. Der Zauberer erwiederte: »Das Bischen Klugheit der Menschen kann dir hier nichts helfen, aber Gottes Vögel unter dem Himmel werden dir die besten Führer sein, wenn du ihre Sprache erlernen willst. Ich kann dir dazu verhelfen, wenn du[S 243] einige Tage bei mir bleiben willst.« Der Jüngling nahm das freundliche Anerbieten mit Dank an und sagte: »Für jetzt bin ich freilich nicht im Stande, dich für deine Wohlthat zu beschenken, fällt aber mein Unternehmen glücklich aus, so werde ich dir deine Mühe reichlich vergelten.« Nun kochte der Zauberer aus neunerlei Kräutern, die er heimlich bei Mondenschein gesammelt hatte, einen kräftigen Trank und gab davon dem Jünglinge drei Tage hintereinander neun Löffel täglich zu trinken, was zur Folge hatte, daß ihm die Vogelsprache verständlich wurde. Beim Abschiede sagte der Zauberer: »Solltest du das Glück haben, Salomonis Ring zu entdecken und desselben habhaft zu werden, so komm zu mir zurück, damit ich dir die Schrift auf dem Ringe deute, denn es lebt jetzt außer mir Keiner, der das vermöchte.«
Schon am nächsten Tage fand der Jüngling die Welt wie verwandelt, er ging nirgends mehr allein, sondern hatte überall Gesellschaft, weil er die Vogelsprache verstand, durch welche ihm Vieles offenbar wurde, was menschliche Einsicht ihn nicht hätte lehren können. Aber geraume Zeit verfloß, ohne daß er von dem Ringe etwas gehört hätte. Da geschah es eines Abends, als er vom Gang und der Hitze ermüdet, sich zeitig im Walde unter einem Baume niedergelassen hatte, um sein Abendbrot zu verzehren, daß auf hohem Wipfel zwei buntgefiederte fremde Vögel ein Gespräch mit einander führten, welches ihn betraf. Der erste Vogel sagte: »Ich kenne den windigen Herumtreiber unter dem Baume da, der schon so lange wandert, ohne die Spur zu finden. Er sucht den verlorenen Ring des Königs Salomo.« Der andere Vogel[S 244] erwiederte: »Ich glaube, er müßte bei der Höllenjungfrau Hülfe suchen, die wäre gewiß im Stande ihm auf die Spur zu helfen. Wenn sie den Ring auch nicht selbst hat, so weiß sie doch ganz genau, wer das Kleinod jetzt besitzt.« Der erste Vogel versetzte: »Das wäre schon recht, aber wo soll er die Höllenjungfrau auffinden, die nirgends eine bleibende Stätte hat, sondern heute hier und morgen dort wohnt: eben so gut könnte er die Luft fest halten!« Der andere Vogel erwiederte: »Ihren gegenwärtigen Aufenthalt weiß ich zwar nicht anzugeben, aber heute binnen drei Tagen kommt sie zur Quelle, ihr Gesicht zu waschen, wie sie jeden Monat in der Nacht des Vollmonds thut, damit die Jugendschöne nie von ihren Wangen schwinde und die Runzeln des Alters ihr Antlitz nicht zusammenziehen.« Der erste Vogel sagte: »Nun, die Quelle ist nicht weit von hier; wollen wir des Spaßes halber ihr Treiben mit ansehen?« »Meinethalben, wenn du willst,« gab der andere Vogel zur Antwort. — Der Jüngling war gleich entschlossen, den Vögeln zu folgen und die Quelle aufzusuchen, doch machte ihn zweierlei besorgt, erstens, daß er die Zeit verschlafen könne, wo die Vögel aufbrächen, und zweitens, daß er keine Flügel hatte, um dicht hinter ihnen zu bleiben. Er war zu sehr ermüdet, um die ganze Nacht wach zu bleiben, die Augen fielen ihm zu. Aber die Sorge ließ ihn doch nicht ruhig schlafen, er wachte öfters auf, um den Aufbruch der Vögel nicht zu verpassen. Darum freute er sich sehr, als er bei Sonnenaufgang zum Wipfel hinauf blickte und die buntgefiederten Gesellen noch sah, wie sie unbeweglich saßen, mit den Schnäbeln unter den Federn. Er verzehrte sein Frühstück und war[S 245]tete dann, daß die Vögel aufbrechen sollten. Aber sie schienen diesen Morgen nirgends hin zu wollen, sie flatterten, wie zur Kurzweil oder um Nahrung zu suchen, von einem Wipfel zum andern und trieben das so fort bis zum Abend, wo sie sich an der alten Stelle zur Ruhe begaben. Eben so ging es noch den folgenden Tag. Erst am Mitmorgen des dritten Tages sagte der eine Vogel zum andern. »Heute müssen wir zur Quelle, um zu sehen, wie sich die Höllenjungfrau ihr Antlitz wäscht.« Bis Mittag blieben sie noch, dann flogen sie davon und nahmen ihren Weg gerade gen Süden. Dem Jüngling klopfte das Herz vor Furcht, seine Führer aus dem Gesicht zu verlieren. Aber die Vögel waren nicht weiter geflogen, als sein Gesichtskreis reichte, und hatten sich dann auf einem Baumwipfel niedergelassen. Der Jüngling rannte ihnen nach, daß seine Haut dampfte und ihm der Athem zu stocken drohte. Nach dreimaligem Ausruhen kamen die Vögel auf eine kleine Fläche, an deren Rande sie sich auf einem hohen Baumwipfel niederließen. Als der Jüngling nach ihnen dort anlangte, gewahrte er mitten in der Fläche eine Quelle; er setzte sich nun unter denselben Baum, auf dessen Wipfel die Vögel sich aufhielten. Dann spitzte er seine Ohren, um zu vernehmen, was die gefiederten Geschöpfe miteinander redeten.