Von diesem Tage an lebte Else so glücklich wie ein verwöhntes deutsches Kind, das in goldener Wiege geschaukelt worden; sie hatte weder Sorge noch Mühe; das Lernen wurde ihr von Tag zu Tage leichter und das vorige harte Leben im Dorfe erschien ihr nur noch wie ein böser Traum. Aber je tiefer sie das Glück dieses Lebens empfand, desto wunderbarer erschien ihr auch Alles. Auf natürliche Weise konnte es nicht zugehen — es mußte eine unbekannte unerklärliche Macht hier walten. Auf dem Hofe stand ein Granitblock etwa zwanzig Schritt vom Hause. Wenn die Essenszeit heranrückte, ging der Alte mit dem langen Barte an den Block, zog ein silbernes Stäbchen aus dem Busen und klopfte damit dreimal an, so daß es hell wiederklang. Dann sprang ein großer goldener Hahn heraus und setzte sich auf den Block. So oft er in dieser Stellung mit den Flügeln schlug und[S 70] krähte, kam aus dem Block etwas hervor, zuerst ein langer gedeckter Tisch, auf dem so viel Teller standen als essende Personen waren; der Tisch ging von selbst in's Haus, als trügen ihn des Windes Flügel. Wenn der Hahn zum zweiten Male krähte, kamen Stühle dem Tische nachgegangen; darauf eine Schüssel mit Speise nach der andern — Alles sprang aus dem Block heraus und flog wie der Wind zum Eßtisch. Desgleichen Methflaschen, Aepfel und Beeren; Alles schien beseelt, so daß Niemand zu heben noch zu tragen brauchte. Wenn Alle sich satt gegessen hatten, klopfte der Alte zum zweiten Male mit dem Silberstäbchen an den Block, und dann krähte der goldene Hahn Flaschen, Schüsseln, Teller, Stühle und Tisch wieder in den Block hinein. Wenn aber die dreizehnte Schüssel kam, aus welcher niemals gegessen wurde, so lief eine große schwarze Katze der Schüssel nach, und beide blieben auf dem Block neben dem Hahn, bis der Alte sie forttrug. Er nahm die Schüssel in die Hand, die Katze in den Arm und den goldenen Hahn auf die Schulter, und verschwand mit ihnen unter dem Block. Nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch alle übrigen Bedürfnisse des Haushalts, selbst Kleider kamen auf das Krähen des Hahns aus dem Block hervor. — Obwohl bei Tische wenig und immer in einer fremden Sprache gesprochen wurde, welche Else nicht verstand, so wurde dafür desto mehr geredet und gesungen, wenn die Frau mit ihren Fräulein in Zimmer und Garten weilte. Allmählich lernte Else auch die Sprache ihrer Gefährtinnen auffassen; sie verstand fast Alles, was gesagt wurde, aber Jahre verstrichen, ehe ihre eigne Zunge sich den fremden[S 71] Lauten gewöhnte. Einst hatte Else die Kiisike gefragt, warum die dreizehnte Schüssel täglich auf den Tisch komme, da doch Niemand daraus esse, aber Kiisike konnte es ihr nicht erklären. Sie mußte es aber ihrer Mutter gesagt haben, denn nach einigen Tagen ließ diese Elsen zu sich rufen und sprach zu ihr mit ernstem Ausdruck: »Beschwere dein Herz nicht mit unnützen Grübeleien. Du möchtest wissen, warum wir niemals aus der dreizehnten Schüssel essen. Sieh, liebes Kind, das ist die Schüssel verborgenen Segens; wir dürfen sie nicht anrühren, sonst würde es mit unserem glücklichen Leben zu Ende sein. Auch mit den Menschen würde es auf dieser Welt viel besser stehn, wenn sie nicht in ihrer Habsucht alle Gaben an sich rissen, ohne dem himmlischen Segenspender irgend etwas zum Danke zu lassen.[23] Habsucht ist der Menschen größter Fehler!«
Die Jahre verstrichen Elsen in ihrem Glücke pfeilgeschwind, sie war zur blühenden Jungfrau herangewachsen und hatte Vieles gelernt, womit sie in ihrem Dorfe ihr Leben lang nicht bekannt geworden wäre. Kiisike aber war immer noch dasselbe kleine Kind wie an dem Tage, wo sie das erste Mal mit Elsen im Walde zusammen getroffen war. Die Fräulein, welche bei der Frau vom Hause lebten, mußten Kiisike und Else täglich einige Stun[S 72]den im Lesen und Schreiben und in allerlei feinen Handarbeiten unterweisen. Else begriff Alles gut, aber Kiisike hatte mehr Sinn für kindliche Spiele als für nützliche Beschäftigung. Wenn ihr die Laune kam, so warf sie die Arbeit weg, nahm ihr Schächtelchen und lief in's Freie, um See zu spielen, was ihr Niemand übel nahm. Manchmal sagte sie zu Elsen: »Schade, daß du so groß geworden bist, du kannst nun nicht mehr mit mir spielen.«
Als jetzt neun Jahre in dieser Weise verflossen waren, ließ die Frau eines Abends Else in ihr Schlafzimmer rufen. Else wunderte sich darüber, denn um diese Zeit hatte die Frau sie noch niemals zu sich kommen lassen. Das Herz schlug ihr so heftig, daß es zu springen drohte. Als sie über die Schwelle trat, sah sie, daß die Wangen der Frau geröthet waren, ihre Augen voll Thränen standen, welche sie rasch trocknete, als wollte sie dieselben vor Elsen verbergen. »Liebes Pflegkind,« begann die Frau, »die Zeit ist gekommen, wo wir scheiden müssen.« »Scheiden?« rief Else und warf sich schluchzend der Frau zu Füßen. »Nein, theure Frau, das kann nimmermehr geschehen, bis uns einst der Tod trennt. Ihr habt mich einmal huldreich aufgenommen, darum verstoßt mich nicht wieder!« Die Frau sagte beschwichtigend: »Kind, sei ruhig! Du weißt ja noch gar nicht, was ich für dein Glück thun will. Du bist herangewachsen und ich darf dich hier nicht länger in Haft halten. Du mußt wieder unter Menschen gehen, wo Glückspfade deiner warten.« Else aber bat flehentlich: »Theure Frau, verstoßet mich nicht. Ich sehne mich nach keinem anderen Glücke, als bei euch zu leben und zu sterben. Macht mich zur Stubenmagd oder gebt mir[S 73] andere Arbeit, nach eurem Belieben, aber schickt mich nicht fort in die weite Welt. Da wäre es besser gewesen, ihr hättet mich bei der Stiefmutter im Dorfe gelassen, als daß ihr mich auf so viele Jahre in den Himmel brachtet, um mich jetzt wieder in die Hölle zu stoßen.« »Still, liebes Kind!« sagte die Frau — »du begreifst nicht, was ich zu deinem Glücke zu thun verpflichtet bin, wie sehr es mich auch schmerzt. Aber Alles muß so sein, wie ich es mache. Du bist ein sterbliches Menschenkind, deine Jahre nehmen zu ihrer Zeit ein Ende und deshalb darfst du nicht länger hier bleiben. Ich und die mich umgeben haben wohl Menschengestalt, aber wir sind nicht Menschen, wie ihr, sondern Geschöpfe höherer Art und euch unbegreiflich. Du wirst in der Ferne einen lieben Gemahl finden, der für dich geschaffen ist, und wirst glücklich mit ihm sein, bis eure Tage sich zu Ende neigen. Die Trennung von dir wird mir nicht leicht, aber es muß sein, und deßhalb mußt du dich ruhig darein fügen.« Dann strich sie mit ihrem goldenen Kamme durch Elsens Haar und hieß sie zu Bette gehen; aber wo sollte die arme Else in dieser Nacht den Schlaf hernehmen? Das Leben kam ihr vor wie ein dunkler sternenloser Nachthimmel.
Während wir Else ihrem Kummer überlassen, wollen wir uns ins Dorf begeben, um zu sehen, wie die Sachen auf dem väterlichen Hofe gehen, wo das Lehmbild an ihrer Statt der Prügelklotz ihrer Stiefmutter war. Daß ein böses Weib im Alter nicht besser wird, ist eine bekannte Sache; man erfährt wohl, daß aus einem hitzigen Jünglinge im Alter ein frommes Lamm wird, aber kommt ein Mädchen, das kein gutes Herz hat, unter die Haube,[S 74] so wird sie auf die alten Tage wie ein reißender Wolf. Wie ein Höllenbrand quälte die Stiefmutter das Lehmbild Tag und Nacht, aber dem starren Geschöpfe, dessen Körper keinen Schmerz empfand, schadete es nicht. Wollte der Mann einmal dem Kinde zu Hülfe kommen, so setzte es für ihn gleichfalls Prügel, zum Lohn für seinen Versuch Frieden zu stiften. Eines Tages hatte die Stiefmutter ihre Lehmtochter wieder fürchterlich geschlagen und drohte ihr dann, sie umzubringen. Wüthend packte sie das Lehmbild mit beiden Händen an der Gurgel, um es zu erwürgen, siehe, da fuhr eine schwarze Schlange zischend aus des Kindes Munde, und stach der Stiefmutter in die Zunge, so daß sie todt niederfiel, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Mann Abends nach Hause kam, fand er die todte Frau dick aufgeschwollen am Boden liegen; die Tochter war nirgends zu finden. Auf sein Geschrei kamen die Dorfbewohner herbei. Die Nachbarn hatten wohl um Mittag einen großen Lärm im Hause gehört, aber da so etwas fast täglich dort vorfiel, war Niemand hingegangen. Nachmittags war Alles still geblieben, aber Niemand hatte die Tochter erblickt. Der Körper der todten Frau wurde nun gewaschen und gekleidet, und es wurden für die Todtenwächter zur Nacht Erbsen in Salz gekocht. Der müde Mann ging in seine Kammer, um zu ruhen, und dankte sicherlich seinem Glücke, daß er diesen Höllenbrand los war. Auf dem Tische fand er drei gesalzene Strömlinge und einen Bissen Brot, verzehrte Beides und legte sich zu Bette. Am andern Morgen wurde er todt auf dem Platze gefunden, und zwar ebenso aufgeschwollen wie die Frau. Nach einigen Tagen wurden[S 75] beide in ein Grab gelegt, wo sie einander kein Leid mehr anthun konnten. Von der verschwundenen Tochter erfuhren die Bauern seitdem nichts weiter.
Else hatte die ganze Nacht kein Auge zugethan, sie weinte und beklagte die harte Notwendigkeit, so schnell und unerwartet von ihrem Glücke scheiden zu müssen. Am Morgen steckte ihr die Frau einen goldenen Siegelring an den Finger und hing ihr eine kleine goldene Schachtel an einem seidenen Bande um den Hals, rief dann den Alten, zeigte mit der Hand auf Else, und nahm darauf mit betrübter Miene von ihr Abschied. Eben wollte Else danken, als der Alte dreimal mit seinem Silberstäbchen sanft ihren Kopf berührte. Else fühlte alsbald, daß sie zum Vogel geworden war; aus den Armen wurden Flügel und aus den Beinen Adlerfüße mit langen Klauen, aus der Nase ein krummer Schnabel, Federn bedeckten den ganzen Leib. Dann hob sie sich plötzlich in die Luft und schwebte ganz wie ein aus dem Ei gebrüteter Adler unter den Wolken dahin. So war sie schon mehrere Tage gen Süden geflogen und hatte wohl zuweilen gerastet, wenn die Flügel ermatteten, aber Hunger hatte sie nicht gefühlt. Da geschah es, daß sie eines Tages über einem niedrigen Walde schwebte, wo Jagdhunde sie anbellten, die freilich dem Vogel nichts anhaben konnten, weil ihnen Flügel fehlten. Mit einem Male fühlte sie ihr Gefieder von einem scharfen Pfeile durchbohrt und fiel zu Boden. Vor Schrecken war sie ohnmächtig geworden.
Als Else aus ihrer Ohnmacht erwachte und die Augen weit öffnete, fand sie sich in menschlicher Gestalt unter einem Gebüsche. Wie sie dahin gekommen und was[S 76] ihr sonst Seltsames begegnet war, lag wie ein Traum hinter ihr. Da kam ein stolzer junger Königssohn daher geritten, sprang vom Pferde und bot Elsen freundlich die Hand, indem er sagte: »Zur glücklichen Stunde bin ich heute Morgen ausgeritten! Von euch, theures Fräulein, träumte mir ein halbes Jahr lang jede Nacht, daß ich euch hier im Walde finden würde. Obschon ich den Weg wohl hundert Mal umsonst gemacht hatte, ließ doch meine Sehnsucht und meine Hoffnung nicht nach. Heute schoß ich einen großen Adler, der hierher gefallen sein mußte; ich ging der erlegten Beute nach und fand statt des Adlers — euch.« Dann half er Elsen auf's Pferd und ritt mit ihr zur Stadt, wo der alte König sie freudig empfing. Einige Tage später ward eine prachtvolle Hochzeit gefeiert; am Morgen des Hochzeitstages waren funfzig Fuder mit Kostbarkeiten angekommen, welche die liebe Pflegemutter Elsen geschickt hatte. Nach des alten Königs Tode wurde Else Königin und hat dann im Alter die Ereignisse ihrer Jugend selbst erzählt. Aber vom Tontlawald hat man seitdem Nichts mehr gesehen noch gehört.