Mein Freund Heiner ist der friedlichste Mensch, den ich kenne.
Ja, ich habe ihn nur einmal richtig wütend gesehen. Ich hatte ihn noch nicht so gut gekannt und ihm zu Weihnachten "alles Gute zum Geburtstag" gewünscht, denn Heiner ist am Heiligen Abend geboren.
Später, als ich es dann besser wusste, haben wir oft darüber gesprochen, und mir wurde langsam klar, welches Trauma ihn bedrückte.
Er erzählte mir, dass er nie Geburtstag habe und Weihnachten so abliefe, wie eine Zahnextraktion zur Bescherung.
Einerseits wollte man die allgemeine Weihnachtsstimmung nicht stören und verzichtete daher auf die Geburtstagsfeier, andererseits sollte aber auch die Weihnachtsfeier die Geburtstagsgefühle nicht verletzen. Also war es weder das eine, noch das andere. Zu seinem Geburtstag war er nie Heinrich Meyer, sondern immer das Christkind.
Er erzählte mir, dass er als kleiner Junge einmal aus Wut den Weihnachtsbaum abgefackelt hatte, weil er daran glaubte, dass sich genau dann die Gelegenheit ergäbe, Geburtstag zu feiern, wenn der Weihnachtsbaum aus dem Haus ist.
Leider fiel dann aber auch der Geburtstag aus, da in der Notunterkunft der Gemeinde absolut keine Stimmung aufkommen wollte. Warum musste sein Vater auch immer wieder davon anfangen, dass Heiner jetzt so lange keine Geburtstagsgeschenke mehr erhielt, bis ein neues Haus gekauft werden konnte. Dabei hatte er doch auch zuvor nie wirklich Geburtstagsgeschenke erhalten. Verglichen mit den Weihnachtsgeschenken seiner Kameraden nicht einmal üppige Weihnachtsgeschenke. Seine Eltern haben seinen Geburtstag einfach eingespart.
Als er dann größer war und zu Weihnachten zur Geburtstagsfeier einlud, fanden das seine Freunde erst ungemein geil. Aber spätestens wenn Oma zum dritten Mal die Rolling Stones abwürgte, um die Platte "Süßer die Glocken nie klingen" aufzulegen, war die Bude leer und Oma strahlte, "endlich können wir Weihnachten feiern".
Zu Weihnachten Geburtstag zu haben, so sagte er immer, ist so, als wolle man im Trubel der Olympia-Eröffnung dem Sieg seines heimischen Tischtennisvereins zujubeln. Es steckt niemanden an. Im Gegenteil, man ist Störenfried.
Als er dann während seines Studiums einmal im Dezember fast verhungert wäre, weil er wegen der unablässig dudelnden Weihnachtsmusik in kein Geschäft mehr gehen konnte, da alles an Weihnachten, aber nichts an seinen Geburtstag erinnerte, sann ich doch ernstlich auf Abhilfe.
Mein erster Vorschlag war, einfach den Namenstag zu feiern. Aber hierzu war Heiner nicht bereit. War er doch aus Überzeugung während der Diskussionen um die Antibabypille Ende der 60er Jahre aus der Kirche ausgetreten.
Die nächste Idee kam mir während der Kinovorstellung "Alice im Wunderland". Feierte dort doch der verrückte Schuhmacher seinen "Nichtgeburtstag". Zwar aus leicht durchschaubar egoistischen Motiven, weil Nichtgeburtstag eben an 363 Tagen im Jahr stattfindet, während Geburtstag nur einmal ist. Aber hier lag der Fall ja anders.
Wir haben diese Idee 14 Tage durchgezogen, dann war mein Bankkonto vom vielen Geschenkekaufen so überzogen, dass mich meine Hausbank unablässig mit der Frage belästigte, wann ich denn endlich mein Konto ausgleichen wolle.
Auch Heiner war pleite und hatte keine Euroschecks mehr. Geld hatte er schon vorher keines gehabt. Aber Geburtstag, bzw. Nichtgeburtstag zu feiern kostet Geld. Und Nichtgeburtstagsfeiern gibt es leider 363 Mal im Jahr.
So hatten wir es nicht einmal geschafft, das an Nichtgeburtstagen nachzuholen, was Heiner bis dahin an Geburtstagen entgangen war.
Eine neue Lösung musste her. Wenn schon nicht Geburtstag oder Nichtgeburtstag, dann vielleicht Antigeburtstag.
Alles sprach damals in den 60er Jahren von Anti, von Anti-Atomkraft, Anti-Autoritär, Anti-Antiautoritär und Anti-Antiantiautoritär. Warum nicht auch Antigeburtstag, der Tag, der auf dem Kalenderring genau gegenüber dem Geburtstag liegt. Dieser verteilt hier sogar die beiden Hauptjahresereignisse im Leben der meisten Menschen idealerweise vollkommen gleichmäßig auf das Jahr.
Außerdem machte dieses Verfahren Heiner ein halbes Jahr jünger, was mein Freund sehr gerne sah. Er fühlte sich nämlich etwas diskreditiert, weil er der Älteste in unserem Semester war. In Wirklichkeit lag das aber nur daran, dass er einmal wegen Mathe sitzengeblieben war.
Nun die Idee war gut, aber aus Erfahrung hätte ich wissen müssen, dass auch dies irgendwie schief gehen würde.
Richtig, 1972 war es dann so weit. Wir hatten uns berufsbedingt schon etwas aus den Augen verloren, als Heiner überraschend anrief, und uns zum Antigeburtstag einlud. Wie immer. Leider nicht.
Die Feier sollte in einer Kneipe auf halber Strecke stattfinden, damit alle ungefähr den gleichen Weg hatten. Als frischgebackene Mathematiker addierten wir flugs 182 Tage auf den 24. Dezember 1971 und kamen für den Antigeburtstag auf den 23 Juni 1972.
Alle fanden wir uns in der verabredeten Kneipe ein und feierten ausgiebig unser Wiedersehen. Nur Heiner fehlte. Daher tauschten wir am Ende des Festes untereinander die Geschenke aus, denn jeder wusste bei seinem eigenen ja schon was drin war. Und selber behalten wäre somit keine Überraschung gewesen. Dann fuhren wir wieder nach Hause.
So kam Heiner wieder einmal um seine Geburtstagsgeschenke.
Heiner, so hörte ich, kam dann am nächsten Tag. Er hatte wie zuvor seinen Antigeburtstag auf den 24. Juni gelegt und dabei völlig vergessen, dass sich dieser 1972 durch das Schaltjahr um einen Tag nach vorne verschob.
Wir aber haben ihn nie mehr wiedergesehen. Jedoch erhielt ich einige Zeit nach Weihnachten 1972 anonym einen Zeitungsausschnitt aus Heiners Heimatort zugeschickt, in dem ich die Notiz fand, dass am Heiligabend das Haus eines Heinrich M. wegen eines Weihnachtsbaumbrandes völlig zerstört wurde.