Weihnachten. Die schönste Zeit im Jahr konnte Sina überhaupt nicht leiden. Ja, früher, als sie noch klein war, da war die Zeit immer ein wenig geheimnisvoll. Es wurde zusammen gebastelt und gebacken, Geschichten gelesen und das Haus geschmückt. Das Schönste war aber der Tag, an dem der Christbaum aufgestellt wurde. Wie feierlich er im Wohnzimmer stand: die Kugeln glänzten im Kerzenschein, der Schmuck funkelte und glitzerte und ganz oben auf der Spitze lächelte der weiße Engel mit seinen golden-bauschigen Locken auf sie herunter. Da wurde es Sina immer ganz kribbelig und warm im Bauch und sie fragte sich, welche Geschenke wohl am Abend unter dem Baum liegen würden.
Sie schüttelte die Erinnerung ab und ging in die Küche, um das Abendessen herzurichten. Am Tisch saß ihr Vater vor einer halbleeren Bierflasche, blätterte gelangweilt die Zeitung durch, um sie dann mit einem verächtlichen Blick auf den Stuhl zu werfen. "Steht auch nichts Neues drin...", sagte er laut zu sich und Sina hörte schon am Tonfall, dass dies sicher nicht sein erstes Bier heute war. Er stand auf, ging zum Fenster, an dem ein bunter Stern einsam vor sich hin blinkte und sah auf die Straße. Draußen war es kalt, es lag noch etwas Schnee von gestern, das meiste hatte sich aber bereits in dunkelbraunen Matsch verwandelt, der von vorbeifahrenden Autos auf den Bordstein geschleudert wurde. Eine Weile starrte er stumm auf die Straße, ehe er sich seufzend in Bewegung setzte und ins Wohnzimmer schlurfte. Sina wusste schon, dass es jetzt besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Seit er vor vier Jahren seinen Job verloren hatte, wurde es immer schwieriger, mit ihm auszukommen. Anfangs war er noch voller Zuversicht, glaubte fest daran, bald wieder eine Arbeit zu finden. Dann häuften sich die Absagen, zwischendurch jobbte er mal als Kellner, mal als Zeitungsausträger, bis Mama wieder im Supermarkt eine Stelle bekam. Seitdem schaute er zwar die Anzeigen durch, nur um dann festzustellen, dass nicht das Richtige für ihn dabei war. Er ging aus dem Haus in die Wirtschaft gegenüber und kam oft erst abends wieder, eine Wolke von Rauch und Bier verströmend.
Sina hasste es. Sie hasste es, wenn ihr Papa mittags verschwand, sie hasste jede Bierflasche, die auf dem Tisch stand, am liebsten hätte sie sie an die Wand geschmissen. Seit sie in diese Wohnung gezogen waren, kam ihr alles so trübe und aussichtslos vor. Ihre Klassenkameraden erzählten schon von ihren Weihnachtswünschen, den Ferien und was sie alles machen wollten. Sina versuchte, nicht hinzuhören, tat so, als wäre Weihnachten bei ihnen zuhause so wie früher und schwärmte den anderen von ihrem Christbaum vor. Dabei brannte lediglich eine Lichterkette, die lieblos ums Fenster drapiert war und der blinkende Stern in der Küche, den Papa letztes Jahr im Sonderangebot erstanden und stolz ins Fenster gehängt hatte.
Weihnachten konnte Sina gestohlen bleiben! Sina spürte die Wut in ihrem Bauch wie einen heißen Knoten, sie musste hier raus! Schnell nahm sie sich ihre Winterjacke, schlüpfte in die Stiefel und rannte die Treppe hinunter auf die Straße. Es war später Nachmittag und dämmerte schon. Um diese Zeit reihte sich ein Auto ans andere, im Lichtstrahl der Scheinwerfer sah sie den Schneematsch hoch spritzen. Sina schob ihre Hände tief in die Jackentaschen und lief los. Sie fror. Ihre Jacke war schon ein wenig zu kurz, die Stiefel ließen die Nässe durch und der Wind drang kalt durch ihre Jeans. Aber es tat gut zu gehen, einfach ziellos der Straße entlang zu wandern und die düsteren Gedanken zu vertreiben. Sina guckte weder rechts noch links und stieß unsanft mit einem Mann zusammen.
"Na na, wo willst du denn so stürmischen Schrittes hin?", sprach er sie an und lächelte freundlich. Es war Herr Radtke vom Haus nebenan, Sina hatte ihn schon öfter getroffen. Ab und zu trug sie ihm die Einkaufstaschen oder machte kleine Besorgungen für ihn, denn Herr Radtke war schon alt, das Gehen fiel ihm schwer.
"Oh, Entschuldigung!", sagte Sina und wollte weitergehen.
Aber Herr Radtke hielt sie fest. "Schau mal, was ich gerade bekommen habe", sagte er und da erst bemerkte Sina das kleine flauschige Bündel in seinen Händen. Es war ein junges Kätzchen.
"Die Katze von Frau Schiller hat Junge bekommen und sie dachte, ich könnte ein wenig Gesellschaft gebrauchen!", sagte er augenzwinkernd.
"Ohh, wie süß!", rief Sina und streckte ihre Hand aus, um das weiche warme Fell zu berühren.
Eine Welle der Zuneigung erfasste sie, als Herr Radtke das Kätzchen in ihre Hände setzte. "Was meinst du, willst du mir helfen, mich um sie zu kümmern?"
Und ob Sina wollte. Einen Augenblick war sie sprachlos vor Glück. "Natürlich Herr Radtke, sehr gerne!" Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
."Dann lass uns doch mal gucken, wo wir ein gemütliches Plätzchen für sie finden."
Gemeinsam gingen sie in Herrn Radtkes Wohnung, fanden einen alten Korb, polsterten ihn mit einer Decke aus und legten das Kätzchen hinein. Von der Aufregung des Tages erschöpft, schlief es gleich ein. Sina betrachtete liebevoll den kleinen weißen Kopf mit dem schwarzen Fleck zwischen den Augen, sie spürte das leichte Schnurren im Schlaf, warm vibrierte das Fell unter ihrer Hand. Herr Radtke machte ihr einen Kakao und kramte noch etwas Schokolade heraus. Sina erzählte von zuhause, von ihrer Wut und ihrem Groll auf Weihnachten. Herr Radtke hörte aufmerksam zu, nickte immer wieder und Sina spürte: hier hatte sie gleich zwei Freunde gefunden. Nach einer Weile sagte er sanft, aber doch mit Nachdruck: "Ich glaube, du solltest jetzt trotzdem gehen, sonst vermisst dich deine Familie." Sina nickte widerstrebend.
Als sie an diesem Abend die Kerzen am Küchentisch anzündete, breitete sich das Licht warm in ihrem Herzen aus - jetzt konnte Weihnachten kommen.