Dem Klarinettisten war es zu verdanken, dass Mia nicht länger als wenige Augenblicke auf der froststarren Erde vor dem Fenster des Festsaals liegen musste und so dem sicheren Tod entkam. Denn im selben Augenblick, da er die Schlusstakte - eja qualia, eja qualia - intonierte, bemerkte er mit einem flüchtigen Blick zum Fenster die kleine Gestalt, die dort draußen hilflos zu Boden sank. Die Hotelangestellten bemühten sich nach Leibeskräften, das kleine Mädchen aufzuwärmen, schälten es aus den nassen Sachen, hüllten es in Decken und flößten ihm dampfenden Tee ein, der nach Kräutern und Honig duftete. Man ließ Resi aus der Hotelküche rufen. Liebevoll schloss sie ihre kleine Schwester in die Arme und auf ihre Frage, was sie sich um Himmels Willen bei diesem Ausflug gedacht habe, senkte Mia nur den Kopf und lächelte still in sich hinein. Denn im Festsaal setzten in diesem Augenblick - Hört, es singt und klingt mit Schalle, fürcht' euch nicht, ihr Hirten alle - die Musiker ihre Generalprobe fort und Mia freute sich wie eine Schneeprinzessin, dass sie der Quelle der geliebten Töne nun näher gekommen war, als sie es sich je zuvor erträumt hatte.
Frostig und tintenschwarz senkte sich die Winternacht auf das kleine Nest am Rande des Westerwaldes. Nur noch sieben Tage waren es bis zum Christfest. Gewaltige Schneehaufen säumten die Gehwege und die baufälligen Holzställe und Bretterverschläge, unter denen Rinder, Schweine und Hühner die Wintermonate verbrachten, drohten unter der Last der schweren Massen zu bersten. In Schneiders Küche bollerte der Kohleofen, neben dem die Mutter über der Flickwäsche saß und nur hin und wieder von ihrer Arbeit aufsah. Dann streifte ihr Blick die rotwangigen Gesichter ihrer Kinder, die nebeneinander auf der Eckbank hockten, um mit offenen Mündern den Erzählungen ihrer großen Schwester Resi zu lauschen. Resi hatte in der Küche des neu eröffneten Hotels oben am Fichtenwäldchen eine Anstellung gefunden und jeden Abend wusste sie neue Dinge aus der schönen, fremden Welt zu berichten. Gebannt hing Mia, die jüngste der Schwestern, an Resis Lippen. Es schien, als könne sie nicht genug bekommen von deren Geschichten. Abend für Abend tauchte sie gedankenverloren ein in diese Welt, die sich von der ihren unterschied wie der Sommer vom Winter.
An diesem Abend, drei Tage vor dem vierten Advent, wusste Resi die Geschwister mit einer besonders aufregenden Neuigkeit zu unterhalten und sie ahnte nicht, welchen Aufruhr sie damit in der Seele der kleinsten Schwester auslöste. Stellt euch vor, hauchte sie mit gesenkter Stimme, am Sonntag wird ein großes Fest gegeben, es werden hundert Gäste erwartet, der Festsaal wird mit einem Weihnachtsbaum geschmückt, so hoch, dass man nur mit einer Leiter an die Spitze heranlangt und nach dem Essen …- hier verfiel Resi in andächtiges Flüstern - … wird ein Orchester aus der Stadt aufspielen!
Gespannt blickte sie in die Runde und weidete sich an den staunenden Augen ihrer Geschwister. In Mias Ohren indessen hallten die Worte ihrer Schwester wie ein Echo nach. Musik. Richtig und wirklich. Musik aus Instrumenten, die sie aus dem dicken Buch der Großmutter kannte. Violine, Kontrabass, Tuba, Klarinette, Oboe, Posaune. Sie kannte sie alle, konnte jedem Bild im Buch den richtigen Begriff zuordnen. Das einzige Instrument aber, dessen Klang sie je mit eigenen Ohren hatte hören dürfen, war die Orgel in Sankt Clemens, der Kirche im Nachbardorf, die sie sonntags mit den Eltern und Geschwistern zum Hochamt besuchte. Dieses Zittern, das ihr kleines Herz ergriff, wenn der Organist die ersten Laute anschlug… dieses majestätische Brummen der Basstöne, das aus den gewaltigen Pfeifen brauste, über Mias Kopf hinweg bis nach vorne zum Altar zog… sich ausbreitete nach oben, nach unten, nach rechts und links in die Seitenschiffe… sich vereinigte mit den höheren Tönen, um schließlich hoch droben unter dem Deckengewölbe mit ihnen zu den vertrauten Weisen zu verschmelzen… Jauchzet, ihr Himmel! Frohlocket, Ihr Engel in Chören! Und nun sollte ein Wunder wahr werden! Musikanten aus der Stadt würden den Weg hierher finden und Melodien auf ihren wundersamen Instrumenten zaubern. Mia spürte es kribbeln und kneifen, wie Ameisenfüße, die unruhig zwischen Herz und Magengrube umhertrippelten.
Sie trippelten noch am nächsten Tag und auch am übernächsten. Und als die Mutter am Sonntagmorgen die vierte honiggelbe Kerze am Adventskranz anzündete, und Resi beim Frühstück beiläufig etwas von Generalprobe am Nachmittag erzählte, dachte Mia nicht länger nach. Auf ihren kleinen Füßen, die in den abgelegten Fellstiefeln ihres älteren Bruders steckten, entfernte sie sich am frühen Nachmittag unbemerkt vom elterlichen Haus. Als sie das Ende der Straße erreichte, blickte sie sich sicherheitshalber noch einmal um. Ihr kleines Kindergewissen zwickte sie ein bisschen; es war nicht recht, einfach fortzulaufen. Noch dazu ins Fichtenwäldchen - das erlaubten ihr die Eltern gewöhnlich nur, wenn die großen Brüder dabei waren. Doch ans Umkehren verschwendete Mia keinen Gedanken. Das noble Hotel auf dem Hügel schien sie wie ein Magnet anzuziehen. Eisig pfiff ihr der Wind entgegen, während sie entschlossenen Schrittes durch den Schnee stapfte. Sie zog den verschlissenen Wollmantel enger und die Mütze tief ins Gesicht. Die Wolken am schneegrauen Himmel ballten sich zusammen und noch ehe die Hügelkuppe in Sicht kam, tanzten die ersten Flocken herab. Mia blieb einen Moment stehen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie nach vorn, wo sich das Hotel hell erleuchtet aus der weiß-grauen Umgebung heraushob. Beängstigend raunte der Wind in den Ästen der Fichten und die Flocken wirbelten wie verrückt um Mia herum. Längst hatte der Schnee Mias Stiefel durchnässt; ihre Füße, die in den verhassten kratzigen Wollstrumpfhosen steckten, waren durchgefroren, doch das kümmerte sie nicht. Sie näherte sich dem Hotelgebäude von der Gartenseite aus. Von dort aus, das wusste sie, würde sie durch die bodentiefen Fenstertüren ins Innere blicken können. Zögernd trat sie näher. Die winzigen weißen Atemwölkchen, die sie ausstieß, beschlugen die Scheibe. Der Festsaal war aufs Prächtigste herausgeputzt. Mias Blick flog umher und die Entscheidung, wohin sie zuerst schauen sollte, fiel ihr nicht leicht. Mehrflammige Kronleuchter, festlich gedeckte Tafeln mit Tischtüchern, die bis zum Boden reichten, funkelndes Geschirr, Kerzen in silbernen Lüstern. Und dann gewahrte sie auf der gegenüberliegenden Seite den gewaltigen Christbaum, von dem Resi berichtet hatte und der alles bisher Gesehene übertraf. Die Christbäume, die Mia kannte, waren mit vergoldeten Nüssen und rotbackigen Äpfeln behangen, manchmal auch mit selbst gebastelten Sternen aus Stroh oder Stanniolpapier. Dies hier war etwas völlig anderes. So prachtvoll konnte nur ein Christbaum aus der Stadt aussehen! Über und über glitzerten goldene Kugeln, unzählige Kerzen steckten auf den Zweigen, die Spitze, die sich fast unter der Zimmerdecke befand, zierte ein Engel aus Goldlamé und über die Enden der Zweige hatte man feine, gold schimmernde Fäden gehängt. Dergleichen hatte Mia nie zuvor gesehen! Doch noch ehe sie sich weiter in die Einzelheiten des Wunderbaumes vertiefen konnte, horchte sie auf. Ihr Herz machte einen Sprung. Musik! Sie musste den Kopf ein wenig zur Seite neigen, damit sie einen Blick auf die Musiker werfen konnte, stattliche Männer in feinen, schwarzen Anzügen und blank polierten Lederschuhen. Und dann hoben sie an. Wie auf ein Kommando begannen sie, ihren Instrumenten die kühnsten Töne zu entlocken, dabei unterschied sich ein jeder vom anderen und doch gelang es ihnen mühelos, sich zu einer wohlklingenden Melodie zusammenzufinden. Gedämpft drangen sie durch das Fensterglas. Mia schloss die Augen. Selbstvergessen lehnte sie ihr eisiges Gesichtchen an die Scheibe, lauschte dem schwermütigen Klang der Violine, dem Brummen des Kontrabass, dem leichten, flirrenden Tirilieren der Sopranflöte und der warmen Stimme der Klarinette. Sie merkte nicht, wie die Schneeflocken ihr kalt und nass in den Mantelkragen fielen, auf der warmen Haut zerschmolzen und ihr in dünnen Rinnsalen den Rücken herunter liefen. Spürte nicht, dass sie ihre Füße nicht mehr spürte, dass ihre Finger taub wurden vor Kälte. Ein winziges Lächeln zog über ihre Lippen, als sie - In dulci jubilo - die vertraute Melodie aus den Christmetten in Sankt Clemens erkannte. Flatternd hob sie die Augenlider. Hörte die letzten Akkorde - und die Zimbeln klingen, in regis curia - und spürte sich, unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, matt an der Fensterscheibe herunter gleiten. Warum fühlten sich ihre Knie an wie Haferbrei? Es wurde still und ein schwarzer Vorhang senkte sich vor ihre Augen.