Gertrud Fischbein, Sekretärin bei Elektro-Meier und Mädchen für alles, hatte gerade den Tresor geschlossen, als sich die Türe öffnete und der Weihnachtsmann eintrat. Zwar trug er keinen Sack mit Geschenken auf seinem Rücken, doch ein weißer Bart umrahmte sein Gesicht und in der Hand hielt er eine Pistole. Für einen Augenblick fuhr ihr der Schreck wie ein kurzer Elektroschock durch die Glieder. Dann hatte sie sich wieder gefasst. Sie ließ sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen.
"Nanu. Der Weihnachtsmann! Ziemlich spät. Heiligabend war vor vier Tagen."
Hinter dem leicht verrutschten Bart grinste ein Mund. "Ich weiß. Doch ich war noch nie einer der Schnellsten!" Er gab sich Mühe, seine Stimme zu verstellen.
Langsam näherte er sich dem Schreibtisch, wo Gertrud mehr neugierig als ängstlich dastand. Er zeigte mit der Pistole unmissverständlich auf den Tresor.
"Ich hab's eilig!"
Gertrud zuckte mit den Schultern. "Ja, verstehe. Ich auch. Wollte selbst gerade Schluss für heute machen. Doch da ist nicht viel drin".
Der Weihnachtsmann seufzte.
"Komm Mädchen. Lasst uns vernünftig bleiben. Fünfzig Tausend Euro! Ich weiß es."
Sie wunderte sich.
Ja, es stimmte. Fünfzig Tausend Euro an der Steuer vorbei. Doch woher wusste er es. Kannten Meier und er sich? Jetzt seufzte sie. "Nun, wenn es so ist."
Der Weihnachtsmann nickte. "Es ist so!"
Sie ging zum Tresor. Es lohnte sich nicht weiter darauf einzugehen. Zumal es auch nicht ihr Geld war.
Als der Tresor offen war, drehte sie sich zu ihm.
"Haben Sie keine Tasche bei sich? Oder wenigstens eine Tüte, wohin ich das Geld reinpacken kann?"
Er hob bedauernd die Schultern.
"Sie sollten sich besser darauf vorbereiten. Warten Sie" Sie ging zum Schreibtisch zurück, öffnete eine Schublade, zog eine Tüte hervor und begab sich wieder zum Tresor. Ruhig packte sie das Geld rein und reichte es ihm.
"Da können Sie auch ihren Bart reinstecken. Eigentlich gibt der Weihnachtsmann etwas, um anderen eine Freude zu machen, und nimmt nichts!"
Er schaute in die Tüte und lachte dann kurz auf.
"Ich weiß. Doch auch der Weihnachtsmann muss sich erst die Geschenke beschaffen, bevor er sie verschenken kann. So, Sie waren schon klasse! Meine Hochachtung. Doch jetzt begeben Sie sich wieder an Ihren Schreibtisch und bleiben Sie dort einen Moment ruhig sitzen." Dann ging er zur Türe, hob zum Gruß die Hand und trat aus dem Zimmer.
Gertrud blieb noch einen Augenblick sitzen und dachte nach.
´Woher kenne ich die Stimme?´, ging es durch ihren Kopf. Sie trat ans Fenster und blickte auf den grauen, mit Schneematsch bedeckten Hinterhof, den eilig ein Mann mit langem Mantel und hochgeschlagenen Kragen überquerte. Dann wusste sie es.
Karl Zeisig wollte sich gerade häuslich niederlassen, um seinen Brandy zu genießen, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und eine freundliche Frauenstimme sagte: "Hallo, Weihnachtsmann. Ich könnte dir beim Einkaufen der Geschenke behilflich sein! Wir wär's; morgen Vormittag um zehn vor Werthers Kaufhaus?" Er wollte etwas erwidern, doch sie hatte schon aufgelegt. Einen Augenblick stand er sinnend da. Dann ließ er sich in den Sessel fallen. Er nahm einen tiefen Schluck und lächelte. ´Ja, nicht schlecht, Gertrud. Na, dann gehen wir gemeinsam einkaufen!´