Vor zwei Wochen hatte Sylvia sie zum ersten Mal gesehen. Ein rötlicher Blitz, der unter den Holunderbüschen verschwand. Es gab viele Katzen in der Umgebung. Die meisten kannte Sylvia. Ab und zu tauchten fremde auf und waren nach ein paar Tagen wieder fort. Die kleine Rotgetigerte aber strich nun ständig ums Haus. Auch heute, als Sylvia mit ihrer Tasse ins Freie trat. Sie trug den selbst gestrickten Norwegerpullover aus Schafwolle. Dennoch fröstelte sie, woran selbst der heiße Hagebuttentee nichts änderte. Die Katze saß wie immer auf der untersten Terrassenstufe und sah zu ihr herüber.
Ich darf sie nicht an uns gewöhnen. Zwei sind genug. Schon jetzt kann ich kaum das Futtergeld für Maus und Püppi abzweigen.
Sie drehte sich zum Wohnzimmer um.
Bei der Kälte hat anscheinend keine von ihnen Lust, herauszukommen.
Wieder überlief sie ein Schauer. Womöglich die ersten Anzeichen einer Erkältung. Die fehlte ihr noch.
Ich werde die ganze Familie anstecken und an den Feiertagen …
Da stand die Rotgetigerte auf und schritt die drei Stufen zur Terrasse hinauf. Dort verharrte sie. Als Sylvia den Blick nicht von ihr abwendete, leckte sie sich kurz über das weiße Brustfell und gab ein leises "Mau" von sich. Sylvia umschloss den Teebecher fest mit ihren Händen.
Wunderschöne Bernsteinaugen hat sie. - Doch es geht einfach nicht!
Sie wollte sich losreißen, als sie hinter sich eine Bewegung bemerkte. Anna, ihre Jüngste, schob sich neben sie. "Da ist sie ja wieder."
"Ja."
"Mama, meinst du nicht …"
"Nein!"
"Aber …"
"Schau, sie braucht Futter. Sie muss entfloht und entwurmt werden, wie die anderen. Und wenn sie krank sind, wer soll dann den Tierarzt bezahlen?"
Anna legte ihre Wange an Sylvias Arm. "Ich sorge auch ganz allein für sie."
"Ach, Anna." Sylvia ging in die Hocke, drückte ihre kleine Tochter an sich. "Darum geht's doch nicht. Papa muss erst wieder Arbeit finden."
Zwei braune Augen, ebenso braun wie ihre eigenen, sahen sie bittend an. Sie schaute schnell weg, trank einen Schluck Tee. Dann blickte sie zur Katze hinüber, die ein paar Schritte näher gekommen war. "Lass uns reingehen", sagte sie, "es ist kalt."
Die nächsten Dezembertage blieben kühl, aber es gab noch keinen Frost. So konnte Michael den Nachbarn weiter beim Neugestalten des Gartens helfen. Auf diese Weise verdiente er sich ein wenig. Es war kaum der Rede wert, denn Nachbarschaftshilfe wurde im Dorf als selbstverständlich angesehen und eigentlich nicht entlohnt. Aber man wusste natürlich, wie die Lage bei Reimanns war.
Wenn die Familie mittags in der Küche saß und Sylvia ein einfaches Gericht auf den Tisch brachte, passierte es manchmal, dass die rot getigerte Katze auf die Fensterbank sprang und zu ihnen hereinsah.
"Da ist sie ja!", rief Anna dann aus, und Sylvia konnte sie nur schwer davon abhalten hinauszulaufen.
Markus, ihr Ältester, zog die Stirn kraus, blickte zum Fenster und sagte nichts.
"Papa, schau nur, die roten Streifen! Ist sie nicht wunderhübsch?" Anna setzte sich auf den Schoß ihres Vaters. "Kann sie nicht bei uns bleiben?"
"Die rötlich Getigerten sieht man nicht oft hier. Sie kann nicht aus unserer Gegend sein. Vielleicht ausgesetzt, an der Bundesstraße … Oder was meinst du, Sylvi?" Er griff über den Tisch nach Sylvias Hand.
Sie überhörte die Frage, erwiderte nur den Druck seiner Finger.
Ach, du mit deinem weichen Herz! Denkst nicht dran, wie's am Ende des Monats im Portmonee ausschaut. In einer Woche ist Weihnachten und wir wissen nicht, was wir den Kindern unter den Christbaum legen sollen. Ja, selbst ob wir den kaufen, ist fraglich!
Sie antwortete nicht und hoffte im Stillen, dass die Katze zu ihrem Zuhause zurückkehrte, wie weit entfernt es auch sein mochte.
Es verging kein Abend, an dem sie nicht mit Michael bis spät in die Nacht hinein diskutierte und rechnete. Das Haus, die Abzahlungsraten, die Aussicht auf Arbeit, die in der ländlichen Gegend alles andere als rosig war … Püppi und Maus störte das wenig. Püppi, die rabenschwarze Grazile, lag dann schon längst bei Anna im Bett. Eng an ihren Bauch geschmiegt. Und Maus, die quirlige Graugestromte, gab nicht auf, Markus zu überzeugen, dass sie ein viel zauberhafteres Etwas war als sein PC. Zur Bekräftigung sprang sie gern auf den Monitor und maunzte vorwurfsvoll.
Drei Tage vor Weihnachten vermittelte das Arbeitsamt Michael ein Vorstellungsgespräch. Eine Firma in der Kreisstadt brauchte dringend einen Möbelschreiner. Da es eilte, wurde der Termin für den vierundzwanzigsten Dezember um dreizehn Uhr vereinbart. Sylvia fand das nicht schlimm. Im Gegenteil. "Oh du fröhliche", summte sie beim Zubereiten des Chili con Carne, das es am Abend geben sollte. Dazu knusprig aufgebackene Baguettestangen, hinterher einen schönen Rotwein für Michael und sie. Wäre doch gelacht, wenn das nicht für die rechte Weihnachtsstimmung reichte!
Natürlich hatte sie doch Geschenke für die Kinder besorgt. Filz- und Buntstifte für Anna. Und ein neues Mousepad mit "Lara Croft"-Aufdruck für Markus. Zudem hatte Sylvia Pullover gestrickt. Den für Anna in Dunkelblau, auf der Vorderseite war ein augenzwinkerndes weißes Katzengesicht. Während Sylvia abschmeckte, schaute sie aus dem Fenster. Keine Rotgetigerte. Seit einer Woche war sie nicht mehr aufgetaucht.
Gut so. Vielleicht ist sie dorthin zurückgekehrt, wo sie herkam.
An eine andere Möglichkeit mochte Sylvia nicht denken. Der Himmel sah grau aus, es wurde nicht richtig hell heute. Schnee lag in der Luft.
Weiße Weihnacht? Hat es lange nicht gegeben. Und die Katze ...?
Sylvia zwang sich, sie aus ihren Gedanken zu verbannen.
Es wurde Nachmittag. Michael war noch nicht zurück. Warum rief er nicht an? Markus war auch am Heiligen Abend nicht vom PC wegzubekommen. Sylvia ging in sein Zimmer. Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter und sah kurz auf den Monitor. Ein Emailfenster war geöffnet.
"Wem schreibst du denn?"
"Niemandem." Er klickte es weg.
Sie sah, wie er rot wurde.
Vierzehn ist er schon. Hoffentlich können wir den Internetanschluss halten. Wenn nur Michael den Job bekommt!
Gegen vier dekorierte sie das Wohnzimmer mit Teelichtern, zwei dicken Stumpenkerzen und Tannenzweigen.
Es dämmerte bereits, als sie ein Geräusch von der Straße her vernahm. Auch Anna hatte es gehört und lief zur Tür. "Papa!", rief sie.
Ernst sah er aus und abgespannt. Sylvia hätte losheulen können. "Hat es nicht geklappt?"
Er schüttelte den Kopf. "Es waren noch zwei Jüngere da."
"Mutti, sieh nur, was Papa mitgebracht hat!" Anna winkte ihr zu.
Draußen, an die Hauswand gelehnt, stand eine Fichte. Zwei Meter groß, in ein Netz gewickelt. Sylvia schluckte. Rasch drehte sie sich um und ging in die Küche, das Chiligericht warm machen. Sie hielt sich lange daran auf. Wartete, bis die Weißbrotstangen fertig gebacken waren, holte sie heraus, schnitt sie in Scheiben. Stellte sie mit Tellern und dem Topf auf ein Tablett. Als sie damit ins Wohnzimmer kam, hatte sie sich wieder gefangen.
Anna und Markus waren wie jedes Jahr dabei, die Fichte mit Wachskerzen, Tannenzapfen und Strohsternen zu schmücken.
"Dann lasst es euch schmecken", sagte Sylvia betont fröhlich. "Und Markus, legst du uns noch eine CD mit Weihnachtsliedern auf?"
Michael setzte sich zu ihr aufs Sofa, lächelte sie verlegen an. "Der Bäume-Paul war ziemlich sauer, eigentlich hatte er seinen Stand längst geschlossen. Aber mir war sie so ins Auge gesprungen, gerade und gut gewachsen wie sie ist.
"Wirklich, eine Schönheit unter den Fichten." Sie schmunzelte.
"Da ist noch was …"
Sylvia hob eine Augenbraue an.
"Komm mal her." Michael zog sie zu sich heran. "Ich hab sie runtergehandelt", flüsterte er ihr ins Ohr. "Aber nach Weihnachten muss ich dem Paul noch zehn Euro bringen."
Sylvia verbiss sich ein Auflachen. Die Kerzen am Baum leuchteten mit den Teelichtern um die Wette. Das Chiligericht schmeckte; Michael lobte es, als sei es ein Festmahl, und selbst über die kargen Geschenke schienen sich die Kinder zu freuen.
Seit einer halben Stunde fielen Schneeflocken. Anna lief immer wieder zum Fenster und drückte ihre Nase gegen die Scheibe. Markus starrte schweigend, im Sessel versunken, in den weißen Garten. Auch Sylvia konnte den Blick kaum abwenden.
Weiße Weihnacht. Tatsächlich. Der Wetterbericht sagt, es soll noch mehr Schnee geben.
Zwischen den zur Erde schwebenden Eiskristallen glaubte sie auf einmal, zwei bernsteinfarbene Augen in einem rötlichen Katzengesicht zu sehen. Sie versuchte, die Vision mit einem Blinzeln wegzuwischen.
Denk nicht mehr dran, sie ist sicher längst wieder dort, wo sie herkam.
"Soll ich den Wein öffnen?", fragte Michael.
Sie nickte. Anna kam und kuschelte sich an ihre Seite. Die schwarze Püppi sprang zu ihnen aufs Sofa. Halb auf dem Schoß von Sylvia, halb auf dem von Anna, machte sie es sich bequem und schnurrte. Wo Maus steckte, wusste Sylvia nicht, aber im Haus war sie bei diesem Wetter bestimmt. Die Katzen tauchten oft auf wie aus dem Nichts.
Als Michael eingeschenkt hatte, herrschte Stille im Raum. Die Kerzen am Baum waren fast heruntergebrannt. Es war, als wartete jeder von ihnen auf etwas. Etwas, von dem niemand recht wusste, was es sein sollte. Draußen Dunkelheit, nur der Schnee leuchtete.
Und da, plötzlich eine Silhouette an der Terrassentür! Sylvia fühlte ein Kribbeln in der Magengrube.
Habe ich mir das nur eingebildet?
Auch Markus saß kerzengerade im Sessel. Anna in Sylvias Arm bewegte sich, beugte sich nach vorn. "Mama? War da nicht was?"
Michael stand auf, ging zur Tür, öffnete sie. Winterluft wehte herein und mit ihr eine kleine, rot getigerte Katze.
Das Kribbeln in Sylvias Magen steigerte sich wie bei einer wilden Karussellfahrt. Ob vor Freude oder Schreck, wusste sie nicht genau. Anna nahm ihr schnell die Entscheidung ab. "Mein Weihnachtskätzchen!", rief sie aus.
Michael und Silvia sahen sich an. Einen Moment nur, aber er reichte. Michael schloss die Terrassentür. Die Katze saß da, gar nicht scheu. Die weißen Flocken schmolzen auf ihrem struppigen Fell. Und als Anna sich auf den Fußboden hockte, drängte sie sich an ihre Knie und machte einen Buckel.
Sylvia spürte Michaels Arm um ihrer Taille. "Wir schaffen das schon", sagten beide gleichzeitig und lachten los.