Es war wenige Tage vor dem Heiligen Abend. Umringt von allen Weihnachtsengeln saß das Christkind an einem langen Tisch, verlas mit sanfter Stimme die Wünsche der Kinder von den Wunschzetteln, und die Engel verpackten immer sofort liebevoll die ersehnten Geschenke in wunderschönes Weihnachtspapier. Da wurden rote, blaue und goldene Bänder darum geschlungen, kunstvolle Schleifen geknüpft und am Schluss wurden zur Verzierung noch dunkelgrüne, duftende Tannenzweige daran gesteckt.
Plötzlich hob das Christkind den Kopf, schaute sich sorgenvoll um und sagte: "Dass sich die Kinder nie daran gewöhnen können, ihre Wunschzettel rechtzeitig auf das Fensterbrett zu legen! Da fehlen doch wieder noch so einige. Gerade jetzt, wo wir die meiste Arbeit haben, muss wohl einer von Euch noch einmal zur Erde fliegen und die letzten Wunschzettel einsammeln. Ich selbst schaffe das nicht mehr. Sonst werden diese Kinder am Heiligen Abend doch sehr enttäuscht sein, wenn unter dem Weihnachtsbaum nicht das liegt, was sie unbedingt haben wollten." Der kleinste Engel hob schüchtern die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. "Ich - bitte - ich, darf ich das tun?" Das Christkind zögerte, ehe es besorgt fragte: "Bist Du nicht noch zu jung für eine solch wichtige Aufgabe? Du hast damit doch keinerlei Erfahrung." Der kleinste Weihnachtsengel bekam vor Eifer rote Bäckchen. "Bitte, liebes Christkind. Ich werde mir ganz besonders viel Mühe geben und nochmals in allen Fenstern suchen. Ganz sicher werde ich keinen Wunschzettel übersehen." Das Christkind erhob sich. "Komm mit", sagte es, "ich werde dir ein Körbchen geben. Da hinein musst du alle Wunschzettel legen, die du noch findest. Keiner darf fehlen." Der kleinste Weihnachtsengel nickte aufgeregt. Dann nahm er das Körbchen fest in seine kleine Hand, breitete seine weißen Flügel mit Schwung aus und sauste los.
Zuerst ließ er sich durch die knuffig weichen Wolken treiben, kurvte wie ein Vogel vorbei an tanzenden Schneeflocken, sah nach unten und entdeckte eine Stadt mit Tausenden von Häusern. Wie der Wind huschte er an vielen, vielen Fenstern vorbei, sammelte hier einen Wunschzettel ein, dort den nächsten. Dann ging es über Dörfer und in andere Städte - immer weiter. Der kleine Weihnachtsengel schwitzte vor Fleiß. Sein Körbchen hatte sich schon ordentlich mit mehr oder weniger fantasievoll gemalten und beschriebenen Wunschzetteln gefüllt. Es wurde schwerer und schwerer. Jetzt lag unter ihm ein See. An den Ufern sah er hübsche Häuser. Dorthin musste er noch fliegen. Dann würde er fertig sein. Wenig später griff er hastig nach dem wirklich allerletzten Wunschzettel. Vor Freude über die vollbrachte Aufgabe drehte er sich dreimal glücklich im Kreis. Das Körbchen wirbelte um ihn herum. Der Wind fuhr unter seine ausgebreiteten Flügel und hob ihn hoch in die Luft. Hui, das machte Spaß! Der kleine Weihnachtsengel schloss erschöpft die Augen. Von dem dicken Stapel der bunten Wunschzettel löste sich der oberste und segelte lautlos in die Dunkelheit davon. Der kleine Weihnachtsengel bemerkte es nicht. Der Wind spielte eine Weile mit dem Blatt Papier, schaukelte es hierhin und dorthin, blies darunter, ließ es nach oben steigen und wieder nach unten trudeln, um es dann irgendwann achtlos unter einen Busch zu wehen. Da lag es nun.
Eine Maus hatte das Rascheln gehört, als der Wunschzettel landete. Neugierig huschte sie aus ihrem Mauseloch. Da schimmerte etwas auf dem weißen Schnee, wunderschön bemalt, ganz oben am Rand stand in dicken Buchstaben "Wunschzettel" geschrieben. Das konnte die Maus natürlich nicht lesen. Aber das Bild gefiel ihr. Prima! Ein Geschenk des Himmels! Sie würde ihren Mäusebau damit schmücken. Menschen hängten sich doch auch Bilder an die Wände ihrer Behausungen. Das hatte sie schon gesehen. Scheu sah sie sich um. Niemand beobachtete sie! Mit spitzen Zähnen packte sie vorsichtig eine Ecke und zog. Es war ganz schön schwierig für sie, das Papier zuerst in das Mauseloch zu bugsieren und dann in ihrer Höhle an der rauen Wand auszubreiten. Aber sie schaffte es. Und es sah supergut aus! Nur, dass auch ein Hund auf dem Bild gemalt war, gefiel ihr nicht so sehr, denn vor Hunden fürchtete sie sich. Sie kuschelte sich wieder auf ihrem Nachtlager zusammen und war ganz begeistert über ihren Fund. Toll! Sicher hatte sie jetzt den schönsten Mäusebau weit und breit. Das musste sie morgen gleich ihren Freundinnen zeigen. Würden die neidisch sein! Total zufrieden schlief sie ein.
Inzwischen hatte der kleinste Weihnachtsengel stolz sein Körbchen mit den eingesammelten Wunschzetteln dem Christkind überreicht. Verlegen zupfte er sich ein paar Federchen an seinen Flügeln glatt. Die anderen Weihnachtsengel brachten ihm gleich Limonade und leckere Weihnachtsplätzchen. Ach, schmeckte das gut. Alle lobten ihn sehr. Plötzlich fragte das Christkind mit mahnender Stimme: "Hast du denn wirklich keinen Wunschzettel an einem Fenster übersehen? Oder kann es sein, dass dir einer aus dem Körbchen gefallen ist? Der Wunschzettel eines kleinen Jungen fehlt jedenfalls. Er wohnt an einem See. Kannst du dich daran erinnern?" Das Christkind sah den kleinsten Weihnachtsengel eindringlich an. "Nein ... - ja, doch", gab er beschämt zu, "jetzt fällt es mir wieder ein. Es war der letzte Wunschzettel, den ich eingesammelt habe. Er lag ganz obenauf." "Da hilft alles nichts", sagte das Christkind bestimmt, "du musst zurückfliegen und ihn finden!"
Enttäuscht machte sich der kleinste Weihnachtsengel erneut auf den Weg. Diesmal sauste er so ungeduldig durch die Wolken, dass sie auseinander rissen. Er schob die wirbelnden Schneeflocken achtlos zur Seite und flog mit suchendem Blick um den See. Überall lag hoher Schnee. Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Da drüben stand das alte Haus, hinter dem schmalen, dunklen Fenster unter dem Dachgiebel hatte der letzte Wunschzettel auf ihn gewartet. ‚Wo konnte er ihn nur verloren haben?' Forschend sah er sich um. Vor dem Fenster war er nicht heruntergefallen. Auf dem Weg lag er auch nicht. Der kleine Weihnachtsengel hob die verschneiten Zweige der Büsche und Bäume im Garten an und spähte darunter. ‚Nichts.' Nun schaute er überall in den Nachbargärten nach, flog dicht über die Straße, legte sich auf den Bauch und lugte sogar unter die geparkten Autos. Sein weißes Hemdchen und die Flügelspitzen wurden schmutzig. Aber der kleine Weihnachtsengel bemerkte es nicht einmal. Er begann zu schluchzen. Unbedingt musste er den verlorenen Wunschzettel finden! Nur wo? Ohne ihn würde er nicht zurück fliegen können.
Die Nacht ging zu Ende und es wurde hell. Er würde sich vor den Menschen verbergen und den nächsten Abend abwarten müssen. Hinter einem verschlossenen Gartenhaus kauerte er sich auf eine schneefreie Treppenstufe und weinte. Die Tränen liefen über sein kleines Gesicht und tropften unaufhörlich in seine Hände. Plötzlich landete flatternd neben ihm ein zierlicher Vogel. Neugierig sah er den Engel mit schräg geneigtem Köpfchen an. "Warum weinst du?", piepste der Vogel, "Bist du hungrig? Hast du dich verflogen?" Der kleine Weihnachtsengel hob traurig den Kopf. Ein weiterer bunt gefiederter Vogel gesellte sich dazu. "Brauchst du Hilfe?", fragte er mitfühlend. Wortlos nickte der kleine Weihnachtsengel mehrmals. "Ja, vielleicht könnt ihr wirklich etwas für mich tun", schluchzte er verzweifelt. Und dann erzählte er von seinem großen Unglück. Inzwischen hatte sich eine ganze Vogelschar um ihn versammelt und hörte aufmerksam zu. "Kopf hoch! Du hast hier jede Menge Freunde! Wir helfen dir", piepsten sie im Chor, "wir finden ganz sicher diesen Wunschzettel." Dann flogen alle hurtig davon. Nur die Blaumeise, die als erste da gewesen war, blieb bei dem kleinen, traurigen Weihnachtsengel, um ihn zu trösten. Als es Mittag wurde, kehrte die Vogelschar zurück. Keiner brachte den Wunschzettel mit. Überall hatten sie nachgesehen, keinen Ort in der näheren Umgebung ausgelassen. Sogar in alle Abfallkörbe hatten sie geschaut - hätte ja sein können, dass irgendeiner von den Menschen das bemalte Blatt Papier gefunden und achtlos weggeworfen hätte. Einfach so. Aber - nichts.
Erneut schwärmten die Vögel aus. Nun wollten sie alle anderen Tiere fragen, denen sie begegnen würden.
Ein magerer, struppiger Hund zwängte sich von der Straße her durch den Gartenzaun und näherte sich der Treppenstufe. Wachsam musterte er den kleinen Weihnachtsengel. "Du frierst", stellte er knurrend fest, "und du sitzt auf meinem Platz. Aber das macht fast gar nichts. Ich werde dich ein wenig wärmen", meinte er hilfsbereit. Er drängte sich dicht an den kleinen Engel. Und dankbar kuschelte sich dieser an das warme Hundefell. Die Blaumeise rückte ein wenig zur Seite. So warteten sie nun gemeinsam.
Die Maus hatte richtig lange und gut geschlafen. Als sie dann schließlich aufwachte, war es schon beinahe Mittag. Stolz und zufrieden betrachtete sie ausgiebig das hübsche Bild in ihrem Bau. Während sie ein paar Körnchen knabberte, konnte sie keinen Blick von den leuchtend bunten Farben lassen. Machte dieses Bild nicht eine Villa aus ihrem schlichten Heim? Sicher hatte das ein Menschen-Künstler gemalt. Es konnte nicht anders sein. Was Menschen doch so alles einfiel. Oder hatte man jemals schon von malenden Mäusen gehört? Irgendwann entschloss sich die Maus, die Nasenspitze aus dem Mauseloch zu stecken und eine Prise frische Luft zu schnappen. Außerdem war es höchste Zeit, den Freundinnen die Neuigkeit mitteilen.
Draußen im Garten herrschte hektisches Treiben. Vögel flatterten nervös umher, eine Hasenfamilie hatte sich um ein verdorrtes Blumenbeet versammelt, mehrere Eichhörnchen sausten flink an den Bäumen hinauf und hinunter. Es sah so aus, als ob sie alle fieberhaft etwas suchten. Die Maus huschte unter einen verschneiten Busch und beobachtete verwirrt die vertrauten Gartenfreunde. Fast lautlos trippelte ihre Mäusefreundin heran. "Hast du schon gehört ...?" wisperte sie. "Was", fragte die Maus, "was soll ich schon gehört haben?" Die Freundin schüttelte sich empört. "Einem Weihnachtsengel ist ein Wunschzettel aus seinem Körbchen gefallen. Nun traut er sich nicht zurück zum Christkind. Drüben hinter dem Gartenhäuschen sitzt er und weint ganz bitterlich." Die Mäusefreundin öffnete mitfühlend die Augen ganz weit. "Ich habe noch nie einen Wunschzettel gesehen", piepste die Maus, "wie sieht der denn aus?" Und obwohl die Mäusefreundin bis zum heutigen Tag auch noch nicht gewusst hatte, was ein Wunschzettel ist, tat sie doch ganz erfahren, als sie nachsichtig erklärte: "Ein Wunschzettel, ach, weißt du, ein Wunschzettel ist ein riesiges Blatt Papier, auf das die Menschenkinder all das malen und schreiben, was ihnen das Christkind zu Weihnachten bringen soll. Bei uns Mäusen gibt es solche Bräuche ja nicht - und das ist sicher gut so. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben!" Die kleine Maus musste mehrmals schlucken. Oh Schreck! Irgendwie fühlte sich ihr Hals plötzlich so dick an, als ob eine unreife Walderdbeere darin eingeklemmt säße. Da steckte sie ja echt in der Klemme! Niemandem durfte die Maus verraten, dass sie dieses Wunschzettel-Bild eigentlich hatte behalten wollen ... Aber spontan fiel ihr auch ein, wie das Problem genial gelöst werden könnte. "Ähemm, Ähemm", räusperte sich die Maus und ihre Stimme zitterte ein wenig: "Ich, nun - ich habe den Wunschzettel heute Nacht gerettet", sagte sie mit wichtiger Betonung. "Ich hatte etwas rascheln gehört. Und - in der tiefsten Nachtkälte bin ich aus meinem Bau hinausgeschlüpft - ich hätte mich dabei zu Tode erkälten können - nur um das kostbare Papier in Sicherheit zu bringen. Wer weiß, wo es der leichtsinnige Wind sonst hingeweht hätte. Vielleicht gar in den See ...?"
Die Mäusefreundin rief sofort aufgeregt die anderen Tiere zusammen, die Hasen, die Eichhörnchen und die Vögel. Sie nahmen die kleine, graue Maus auf die Schultern und trugen sie wie eine Heldin zu ihrem Bau. Dann zogen sie gemeinsam und ganz vorsichtig den Wunschzettel durch das Mauseloch nach draußen. Eine kleine Ecke wurde dabei abgerissen, aber das war zu verschmerzen. Die kleine Maus schlüpfte zurück in ihre unterirdische Wohnung. Weg, weg war das schöne Bild! Weg auch der schöne Traum von einer ganz besonderen Mäusevilla. Aber - war da nicht ein Hund darauf gemalt gewesen? Und vor Hunden fürchtete sie sich doch, oder? Als der kleine Weihnachtsengel gleich danach strahlend vor Glück davonflog, winkte ihm die Maus ein wenig seufzend, jedoch auch ein bisschen erleichtert nach.
Vom Christkind und von den anderen Weihnachtsengeln wurde der kleinste Engel schon sehnsüchtig erwartet. Erleichtert übergab er den letzten, ja den aller-, allerletzten der Wunschzettel. Das Christkind las ihn laut vor.
Liebes Christkind,
bitte schenke mir zu Weihnachten einen Hund.
Einen echten, keinen Spielzeughund.
Wie er aussehen soll, habe ich Dir aufgemalt.
Meine Mama wird sich auf jeden Fall aufregen.
Sie sagt immer: "Ein Hund trägt nur Schmutz ins Haus!"
Aber ich möchte unbedingt einen haben.
Er würde bestimmt mein bester Freund!
Kannst Du ihr nicht einen neuen Staubsauger mitbringen?
Dann wäre es sicher nicht so schlimm ...
Das Christkind betrachtete das sorgfältig mit Malfarbe gepinselte Bild und überlegte. "Wo soll ich denn jetzt noch einen Hund herbekommen?", fragte es ratlos. Da meldete sich der kleinste Weihnachtsengel schüchtern. "Ich weiß, wo es einen herrenlosen Hund gibt." Dabei dachte er an den zotteligen Grau-Braunen, der ihn im Garten auf der Treppenstufe gewärmt hatte. Und - der sicher ein freundliches Zuhause vermisste. "Nun gut", sagte das Christkind. "Ich will Dir auch diesmal vertrauen. Hole ihn her."
Der kleinste Weihnachtsengel flog fröhlich ein weiteres Mal davon. In der Hand hielt er fest statt eines Körbchens eine feine, lederne Hundeleine mit einem geflochtenen Halsband. "Ihr müsst unbedingt Hundekuchen besorgen", rief er über die Schulter zurück, "der Grau-Braune wird garantiert sehr hungrig sein ..."