Frau Gerster lehnte sich im Sessel zurück. Ihr Blick hing an dem künstlichen Tannenbaum, der neben dem Fenster stand. Er war reich geschmückt, die elektrischen Kerzen brannten und verbreiteten ein warmes Licht, das sie schläfrig machte. Hier, im Aufenthaltsraum der Psychiatrischen, war es weitaus heimeliger als in ihrer Wohnung. Außerdem zeigte der Glühwein seine Wirkung. Sie fühlte sich viel zu benebelt, um jetzt nach Hause zu gehen.
Plötzlich sah sie eine Bewegung, wie ein Flattern, draußen vor dem Fenster. Sie zuckte zusammen, riss den Mund auf, doch ehe sie schreien konnte, war es vorbei.
Was sollte sie tun? Um Hilfe rufen? Lieber nicht. Die würden doch nur denken, dass sie sich das alles bloß eingebildet hätte. Untereinander würden sie tuscheln und sagen, sie hätte wieder mal zu viel getrunken.
Und vielleicht hatten sie sogar Recht. Sie musste sich einfach geirrt haben! Auch wenn heute Heiligabend war: dass ein Weihnachtsengel am Fenster vorbeiflog, ein Engel in einem langen, weißen Gewand mit goldenen Flügeln - unmöglich!
Oder war es ein Traum gewesen? Es ging alles so rasend schnell. Trotzdem ... Sie hatte Einzelheiten ausgemacht: windzerzauste, blonde Locken, schwarze Schuhe, die unter dem Gewand hervorschauten. Und das Gesicht des Engels, das ihr eigenartig vertraut erschien, obwohl die Züge verzerrt waren, Mund und Augen nichts als dunkle Flecke.
Während sie auf unsicheren Beinen zum Fenster taumelte, glaubte sie, Unruhe wahrzunehmen, die zu ihr heraufdrang.
Unten liefen Menschen zusammen und bildeten einen Kreis um eine reglose Gestalt auf dem Asphalt, deren Arme und Beine vom Körper abgespreizt waren. Eine blonde Perücke wurde vom Wind umhergetrieben. Im Licht der Straßenlaterne konnte man goldene Flügel auf dem Rücken des glatzköpfigen Mannes erkennen. Sie wippten, so als ob er sich im nächsten Augenblick wieder in die Lüfte erheben wollte. Doch das würde er nicht tun, davon zeugte auch die schwarze Lache neben dem kahlen Kopf. Und jetzt erkannte sie es in aller Deutlichkeit: Er war es! Es war zweifellos sein Kahlkopf.
Zwei Personen knieten bei ihm. Auf der Straße raste ein Wagen mit Blaulicht heran.
Nun schrie sie doch und stolperte zur Tür. Sie wollte nach unten laufen, doch ihr war so schwindlig, dass sie sich am Türrahmen festhalten musste.
"Doktor ... Doktor Gschwandner", stammelte sie.
Ihr wurde übel, sie musste sich hinsetzen. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Unten wurde die Unglücksstelle abgesperrt und die Leiche abtransportiert.
"Ein absurder Fall", sagte Kommissar Winter zu seinem Assistenten, der zur allgemeinen Erheiterung Sommer hieß. Sie warteten auf den Klinikaufzug. "Wer verkleidet sich schon als Weihnachtsengel, bevor er aus dem Fenster springt?"
"Vielleicht wurde er gestoßen?", gab Sommer zu bedenken.
"Ich tippe eher auf Selbstmord. Ich kann mir keinen Mörder vorstellen, der vor seiner Tat eine solche Maskerade veranstaltet."
"Heute ist schließlich Heiligabend", warf Sommer sarkastisch ein.
Ein Blick seines Vorgesetzten brachte ihn zum Schweigen.
"Gschwandner war Psychiater", fuhr der Kommissar fort. "Man sagt nicht ohne Grund, dass die oft selbst ein bisschen ..." Er machte eine vielsagende Handbewegung vor seiner Stirn.
"Möglicherweise war der Mörder ..." Sommer wiederholte die Geste.
Mit einem leisen Sausen näherte sich der Aufzug und die Türen glitten auf.
Doktor Gschwandners Sprechzimmer lag im achten Stock.
Oben angekommen, blickte der Kommissar sich um. "Ich glaube nicht, dass hier ein Kampf stattgefunden hat. Was für meine Selbstmordtheorie sprechen würde."
"Sehen Sie mal." Sein Assistent hielt ihm ein Blatt hin, das auf dem Schreibtisch gelegen hatte.
Stirnrunzelnd las Winter die wenigen Zeilen.
Nun weiß ich es sicher: Ich bin ein Weihnachtsengel. Heute, am Heiligen Abend, haben die
Himmlischen mir befohlen, meine Schwingen auszubreiten. Ich werde ihnen folgen und meinen
weihnachtlichen Dienst tun - bis in alle Ewigkeit.
Winter schaute seinen Assistenten an. "Ob Gschwandner das wirklich geschrieben hat? Die Schrift wirkt so - kindlich."
Ein Geräusch an der Tür ließ sie aufblicken. Tränenüberströmt trat Frau Gerster, die langjährige Sekretärin des Psychiaters, ein.
"Ich bedauere wirklich sehr, Sie ausgerechnet heute wegen dieser Sache behelligen zu müssen", begann Winter.
Frau Gerster winkte ab und sank in einen Stuhl. "Er kann sich nicht umgebracht haben!", schluchzte sie.
Winter blickte sie aufmerksam an. "Er war also nicht depressiv?"
"Ganz sicher nicht!"
Der Kommissar reichte ihr das Blatt..
"Das ist nicht seine Schrift", sagte sie sofort. "Das hat vielleicht ..." Sie versuchte vergeblich, klar und deutlich zu sprechen. "... sein Mörder geschrieben", flüsterte sie.
"Es wäre ziemlich dumm von ihm, seine Handschrift am Tatort zurückzulassen", meinte Sommer.
"Vielleicht ist es ihm gleichgültig, was mit ihm passiert." Nachdenklich schaute der Kommissar aus dem Fenster.
Frau Gerster hob den Kopf. "Warten Sie." Sie griff erneut nach dem Papier. "Das Schriftstück kommt mir bekannt vor." Sie betrachtete es aufmerksam. "Aber ja!" Sie ging zu einem Aktenschrank. Nach einigem Suchen nahm sie eine Mappe heraus und blätterte darin. Dann nickte sie und reichte dem Kommissar die Unterlagen.
Ein kleiner grauer Mann öffnete Winter und seinem Assistenten die Tür. Er ließ die beiden Männer eintreten und führte sie in ein kahles Wohnzimmer. Kein Tannengrün, keine Kerze - nichts.
"Feiern Sie nicht Weihnachten?", erkundigte sich der Kommissar.
Die Augen des schmächtigen Mannes füllten sich mit Tränen. "Nein", stieß er hervor. "Nicht, seit meine Tochter ..." Er ließ sich in einen Sessel fallen.
Winter reichte ihm den Brief. "Das hat sie geschrieben, nicht wahr?", fragte er leise.
Der Mann nickte. "Sie war krank, litt an einer schweren Psychose", begann er, nachdem er sich ein wenig gefasst hatte. "Und er ...", verächtlich schnaubte er durch die Nase, "dieser Gschwandner, hat sie behandelt. Letztes Jahr, kurz vor Weihnachten, ging es ihr wieder ganz gut." Er stockte erneut. Eine Träne rann über sein faltiges Gesicht.
Sommer reichte ihm ein Taschentuch.
Der Vater nickte dankend, wischte sich über das Gesicht und fuhr fort: "Gschwandner sagte, sie bräuchte keine Medikamente mehr einzunehmen. Das wäre besser für sie." Er schluckte. "Besser!", zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. "Es war so gut für sie, dass sie starb." Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. "Sie hörte wieder Stimmen. Keiner hat es bemerkt, auch er nicht, dieser - Spezialist." Das letzte Wort spuckte er geradezu aus. In seinen wässrigen Augen glühten kleine schwarze Pupillen.
"Und dann ...", seine Stimme klang heiser, vor Zorn, vor Qual, "während ich den Weihnachtsbaum schmückte ..."
"Ich verstehe", unterbrach ihn Winter. "Gschwandner sollte für seinen Irrtum büßen. Aber wie haben Sie es geschafft, ihn als Weihnachtsengel auszustaffieren?"
Ein Lächeln verzerrte das Gesicht des Mannes. "Er war Psychiater. Eine sogenannte Kapazität. Hielt sich für sehr, sehr schlau." Blitzschnell griff er in sein Jackett und riss eine Pistole heraus.
Sommer zuckte zusammen.
"Ein Spielzeug", bemerkte sein Chef ruhig.
Der Mann gluckste. "Ja, Sie erkennen das. Aber dieser Kerl, der von nichts eine Ahnung hatte, der nicht! Das harmlose Ding machte ihm solche Angst, dass er alles tat, was ich wollte. Er zog das Gewand über, setzte die Perücke auf, schnallte sich sogar diese albernen Flügel um." Er kicherte. Sein Blick wurde stechend. "Und die ganze Zeit über hat er auf mich eingeredet, wie mit Engelszungen. Auch noch, als er auf dem Fensterbrett stand. Wollte mich beruhigen. Ablenken. Überlisten. Ha! Dieser Dummkopf!" Er schwieg einen Augenblick, legte den Kopf zurück und schloss die Augen wie jemand, der in Erinnerungen schwelgt. "Und dann habe ich ihn gestoßen. Er sollte sterben, so wie meine Tochter, als sie ... als sie zum Weihnachtsengel wurde."
Sommer warf seinem Vorgesetzten einen Blick zu.
Der erhob sich. "Wir müssen Sie mitnehmen."
Der Vater zuckte die Achseln. "Machen Sie mit mir, was Sie wollen."