Wie ein dunkler, schwerer Vorhang hatte sich die Nacht über das kleine Dorf Silver Creek ausgebreitet. Hell erleuchtete der Mond das schwarze Himmelszelt und verwandelte das schneebedeckte Tal in eine geheimnisvolle Glitzerlandschaft. Ab und an durchbrach das Geheul eines einsamen Wolfes die nächtliche Stille, während sich die kahlen Baumkronen im kalten Nachtwind hin und her wogen. Die Bewohner von Silver Creek hatten sich bereits vor Stunden in ihre Häuser zurückgezogen und schliefen längst tief und fest.
Doch Jamie konnte nicht schlafen. Wie jede Nacht saß er am Fenster neben dem Herd in der Küche und starrte hinaus in die Dunkelheit. Auch Brian war noch wach und sah hilflos zu seinem Sohn hinüber. Gut sechs Monate war es nun her, dass Jamies Mutter bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen war. Für Brian war in jener Nacht eine Welt zusammengebrochen, doch für Jamie schien die Zeit regelrecht stehen geblieben zu sein. Er konnte einfach nicht begreifen, dass seine Mutter niemals mehr nach Hause kommen würde, und hielt jede Nacht voll unstillbarer Sehnsucht nach ihr Ausschau, während sein Vater ihn aus sicherer Entfernung beobachtete. Nur zu gerne hätte er seinen Sohn herausgeholt aus dieser einsamen Welt, in die er sich immer mehr zurückzog, doch er wusste einfach nicht wie.
Am nächsten Morgen brachte Brian seinen Sohn in die nahegelegene Schule und fuhr dann weiter ins Dorf, um für Jamie ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Aber er hatte keine Ahnung, was er seinem Sohn zu Weihnachten schenken sollte. Was konnte das traurige Herz eines kleinen Jungen, der seine Mutter erst vor wenigen Monaten verloren hatte, schon erfreuen? Missmutig stieg er aus dem Wagen und ging hinüber zu dem kleinen Geschäft auf der anderen Seite der Straße.
Bis auf den alten Sam, einen Indianer vom Stamm der Koyukon-Athabasken, war niemand sonst an diesem Morgen unterwegs. Unauffällig lehnte Sam gegen eine Häuserwand unweit des Ladens, so als würde er auf jemanden warten. Brian hatte sein Ziel noch nicht ganz erreicht, als der Indianer ihn plötzlich ansprach. "Hallo, Brian! Wie geht es dir?"
Brian drehte sich schwerfällig um und nickte Sam höflich zu. "Nun ja, so weit ganz gut", log er und versuchte, dem Blick des alten Mannes auszuweichen.
Sam seufzte leise und schwieg. Er wusste genau, dass Brians Antwort nicht der Wahrheit entsprach, aber das nahm er ihm nicht übel. Vielmehr entsann er sich eines alten indianischen Sprichwortes, das sich ihm nur wieder einmal bestätigt hatte: Stelle einem Weißen eine Frage und er sagt dir, was du hören willst. Stelle einem Indianer eine Frage und er sagt dir, was du wissen willst. Den Blick geradewegs auf Brian gerichtet, setzte der alte Indianer das Gespräch fort. "Und wie geht es Jamie?"
Brian zuckte zusammen und sah betreten zu Boden. Während er selbst gelernt hatte, seine innersten Gefühle vor anderen Menschen zu verbergen und niemals eine Schwäche einzugestehen, war es bei Jamie ganz offensichtlich, wie schlecht es ihm ging. Der einst so fröhliche Junge war nicht mehr wiederzuerkennen. Seit dem schrecklichen Unfall seiner Mutter lebte er in seiner eigenen Welt und sprach kaum noch ein Wort. Nach einer Weile hob Brian den Kopf und antwortete: "Es geht ihm schlecht. Seit dem Tod seiner Mutter sitzt er jede Nacht stundenlang am Fenster und starrt hinaus. Es ist, als ob er immerzu darauf warten würde, dass Kathryn wieder nach Hause kommt. Aber das wird niemals geschehen, und ich weiß nicht, wie ich ihm das begreiflich machen soll. Gerade jetzt, wo bald Weihnachten ist, scheint es für ihn noch viel schlimmer zu sein."
Der Indianer verstand nur zu gut, wie schwer es Brian fiel, über die wohl schrecklichste Zeit seines Lebens zu reden. Dennoch setzte er behutsam zu einer weiteren Frage an: "Weißt du schon, was ihr am Weihnachtsabend machen werdet?"
Brian würgte die aufsteigenden Tränen hinunter und holte tief Luft. "Wir werden wohl wie schon so oft in den letzten Monaten zu Kathryns Grab gehen, um auch an diesem Abend bei ihr zu sein. Immerhin ist es seit jeher so Brauch, dass die ganze Familie in dieser Zeit zusammen ist."
Sam runzelte nachdenklich die Stirn und sah Brian mit besorgter Miene an. "Genau darin liegt das Problem! Ihr Weißen glaubt, dass ihr den Toten nahe seid, wenn ihr unentwegt zu ihren Gräbern geht. Aber was ihr dort besucht, ist doch nur die sterbliche Hülle, die nach und nach zu Staub zerfällt, bis nichts mehr davon übrig ist. Wenn ihr den Toten wirklich nahe sein wollt, dürft ihr nicht an ihr Grab gehen; ihr müsst dorthin gehen, wo ihre Seele zuhause ist!", erklärte er mit fester Stimme, ohne seinen Blick von Brian abzuwenden.
Kaum dass der alte Indianer zu Ende gesprochen hatte, reckte Brian empört den Kopf in die Höhe. Was fiel diesem dahergelaufenen Barbaren eigentlich ein?! Nur mit Mühe gelang es ihm, nicht die Beherrschung zu verlieren. "Ich glaube nicht, dass du davon auch nur annähernd etwas verstehst!", entgegnete er schroff und warf dem alten Indianer einen scharfen Blick zu.
Doch Sam blieb ruhig. "Mag sein, dass ich nichts von euren christlichen Trauerritualen verstehe, und wahrscheinlich verstehe ich auch nicht allzu viel von eurer Art, mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig zu werden. Aber jede Seele hat eine Heimat. Und wenn du einem verstorbenen Menschen wirklich nahe sein willst, dann kannst du das nur dort, wo seine Seele schon zu Lebzeiten beheimatet war. Denk mal darüber nach!" Dann drehte er sich um und ließ Brian stehen.