Seit dem Mittag, als der glasklare, blaue Himmel sich mit dunklen, grauen Wolken bedeckt und einen milchigen Schleier über den Tag gelegt hatte, harrte Lena vor dem Fenster aus und starrte nach draußen, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Ihre Puppe Carmella, die sie vor drei Monaten zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt bekommen hatte, schien um ihr Geheimnis zu wissen, denn auch in ihrem kleinen Porzellangesicht ließ sich eine Sorge erkennen. So jedenfalls hatte Lenas Großvater gesagt, als er seiner Enkelin die alte Holztruhe, in der die kuschelig-warmen Winterdecken aufbewahrt wurden, an die Fensterbank heranschob und ein Kissen darauf legte. Lena hatte geschluckt und zum Großvater hinauf gesehen, doch er lächelte nur beruhigend und hob sie auf die Kiste hinauf. Er war der Meinung, dass man, egal, wie klein man war, ein Geheimnis ruhig so lange für sich behalten durfte, bis man aus freien Stücken bereit war, es mit Anderen zu teilen.
Nun saß Lena im Schneidersitz auf dem weichen Kissen, auf dem sie schon als Baby gelegen hatte und betete, dass die dicken Schneeflocken, die seit etwa einer Stunde vor dem Fenster einen ruhigen, sanften Tanz vorführten, endlich im Himmel bleiben würden. Wenigstens für eine kurze Zeit, bevor die Mutter den großen Tisch decken und mit Walnüssen und kleinen Tannenzweigen schmücken würde, wie jeden Heiligabend. Draußen im Hof erschien jetzt Lenas Vater, sie erkannte ihn an seinem roten Anorak, der über den Innenhof zum Hühnerstall stapfe. Das Schneetreiben war so dicht, dass sie ihn kaum noch ausmachen konnte, da war er noch nicht einmal ganz auf der Höhe des Brunnens angelangt, der in der Mitte des Hofes stand.
Sogar das Licht aus dem anderen Flügel des Hauses, wo die Schlafzimmer lagen, schien ganz fern und verschwommen, als würde sie nicht einfach über den langen Flur, mit den abgetretenen Läufern auf den kalten Fliesen, zu ihnen gelangen, sondern erst eine lange Reise antreten müssen.
Lena entdeckte einen Riss im Kitt des Küchenfensters, beugte sich vor und fuhr mit dem Finger darüber. Trotz der Winzigkeit des Spaltes, fuhr eine eisige Kälte über ihre Haut und sie fröstelte. Sie drehte sich zu dem großen Ofen um, den ihr Großvater gesetzt hatte, als noch nicht einmal ihr Vater geboren worden war. Damals war die Küche der einzige Raum des Hauses gewesen und erst im Laufe der Zeit wurden mehr Zimmer angebaut, erst das Wohnzimmer, dann ein richtiges Badezimmer, statt einer Bretterbude im Hof. Als Lenas Vater dann geboren wurde, bauten sie ein Schlafzimmer an, später, als er dann heiratete, ein zweites, in dem jetzt Lena mit ihren Eltern schlief. Seit der Vater ein wenig besser verdiente, hatten die Schlafzimmer eigene kleine Öfen. Trotzdem holte der Großvater die großen Klappbetten aus der Scheune, sobald die Landschaft sich mit Weiß bedeckte und abends, wenn es Zeit war ins Bett zu gehen, wurden die Betten an den Ofen herangeschoben. Die ersten Nächte waren die aufregendsten für Lena. Wenn die Großmutter das Licht ausmachte, die Küche nur noch vom Schein des Feuers, der durch die Ritzen der Ofenklappe drang, erleuchtet wurde, lag sie noch stundenlang wach und ließ die Wärme, den Duft der Gewürze, des am Tage zubereiteten Essens auf sich wirken. Lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge ihrer Eltern neben sich und auf die der Großeltern im zweiten, ein wenig schmaleren Bett. Im letzten Winter hatten so manche Nacht die Atemzüge der Großmutter gefehlt, eine schwere Krankheit war in ihre Brust eingezogen und hatte sie gezwungen, oft im Krankenhaus zu schlafen, wo es kälter war und keinen Feuerschein aus dem Ofen gab.
Lena schauderte und drückte Carmella fest an sich, sie erinnerte sich nicht gerne an diese Zeit, aber ihr Versprechen, das sie im letzten Jahr in der Nacht zum Weihnachtsmorgen dem Weihnachtsengel gegeben hatte, würde sie halten.
Die Mutter betrat die Küche, kam zu ihr und strich ihr kurz durchs Haar, bevor sie zum Ofen ging und den großen Topf bewegte, in dem die Kohlrouladen köchelten. Dann stellte sie sich auf einen Holzstuhl, schaute unter das Baumwolltuch, mit dem sie die große Holzwanne abgedeckt hatte, in der der Teig für den Weihnachtsstollen aufging. Anfangs hatte der Stoff noch locker durchgehangen, jetzt bedeckte er schon eine ordentliche Wölbung und die Mutter drückte an einigen Stellen den Teig zurecht, wo er im Begriff war überzulaufen.
Lena betrachtete sie besorgt, sie würde doch schon nicht mit dem Backen anfangen? Aber nachdem sie vom Stuhl gestiegen war, verließ die Mutter die Küche wieder. Draußen im Flur rief sie dem Großvater zu, dass er bald die Zweige bringen sollte, damit Lena mit dem Schmücken beginnen konnte.
Die große, rote Vase, die mit Blumen bemalt war, ging Lena fast bis zur Brust und stand schon bereit, in einer Ecke des Zimmers, in der die Großmutter ein mit grünen Tannenzweigen bedrucktes Tuch ausgelegt hatte.
Lena schluckte und wandte ihren Blick wieder zum Fenster. Die Schneeflocken waren weniger geworden, der neblige Schleier schien sich ein wenig gehoben zu haben.
Ihr Großvater betrat wieder die Küche und brachte den Geruch nach kaltem Winter und einen Armvoll frischer grüner Zweige von draußen herein, die noch feucht waren und tropften. Lenas Augen begannen zu strahlen, als er sie in die Vase stellte und zurechtrückte. Fast sahen sie aus wie ein richtiger Baum, und sie vergaß ihre Sorgen und stieg von ihrer Holzkiste herunter, um sich an den Küchentisch zu setzen. Das Schmücken der Zweige war ihre Aufgabe und so machte sie sich daran, kleine Schleifen aus buntem Krepp-Papier auszuschneiden, Walnüsse mit Silberfolie zu umwickeln, die Äpfel mit einem Tuch zu polieren, bevor sie dann ihre Schätze mit Bindfaden an den Zweigen zu befestigen begann. Die Äpfel, die sie dafür als nicht schön genug befand, legte sie auf ein Blech. Jetzt betrat die Großmutter die Küche, brachte die guten Teller aus dem Wohnzimmer herein und betrachtete Lena ein wenig bei ihrem Wirken, bevor sie das Apfelblech nahm und in den Ofen schob.
Rote Wangen hatte sie wieder bekommen, hatte auch wieder zugenommen und die Krankheit aus ihrer Brust inzwischen ganz besiegt. Lena war davon überzeugt, dass er ihr dabei geholfen hatte. Ihr Weihnachtsengel. Sie hatte eine ganze Zeit gebraucht, bis sie mit dem Schmücken fertig war und nahm nun, als letztes, die Schachtel mit den verblassten Sternmotiven darauf vom Tisch. Sie war so groß, dass sie sie mit einer Hand nicht halten konnte und darin wohnte er, der Weihnachtsengel. Auf der großen, blauen Kristallkugel, die Einzige, die Lenas Familie besaß. Noch vor Lenas Geburt hatte die Mutter sie von einer ihrer Schulfreundinnen geschenkt bekommen, die nach ihrer Hochzeit mit ihrem Mann in ein anderes Land gezogen war. Dort ging man sich den ganzen Baum voll mit diesen Kugeln, aber Lena fragte sich, wozu man so viele Engel in einem Baum brauchte. Sie trug die Schachtel zur Fensterbank, öffnete sie und da funkelte er ihr schon schwach entgegen, der silberne Weihnachtsengel auf dem dunkelblauen, matten Untergrund. Nach all diesen Jahren der Freude, die er Lenas Familie geschenkt hatte, war er abgenutzt und begann an manchen Stellen ganz zu verschwinden. Die glitzernde Farbe, mit der er aufgetragen worden war, schien mit jeder Weihnachtszeit, die er inmitten der geschmückten Zweige verbrachte, eine kleine Schicht zu verlieren. Lena fand, dass er der kranken Großmutter ähnlich war, die auch immer kleiner und blasser wurde und an gesunden, rosigen Schichten verlor. Nur passierte das bei ihr nicht in Jahren, sondern innerhalb von Wochen, sogar Tagen. Vor einem Jahr, in der Nacht vom heiligen Abend auf den Weihnachtsmorgen, als Lena festgestellt hatte, dass auch ihr Weihnachtsengel krank sein musste, hatte sie ihm versprochen, dass sie ihm im nächsten Jahr dabei helfen würde gesund zu werden, wenn er nur der Großmutter dabei half, sich schnell von der Krankheit freizumachen, denn ein ganzes Jahr würde sie nicht mehr haben.
Wie durch ein Wunder wurde die Großmutter wieder ganz gesund und baute ihre schönen Schichten wieder auf, strahlte jetzt, am Ende des Jahres, fast genauso sehr wie vor ihrer Krankheit. Lena strich vorsichtig mit dem Finger über die Engelsflügel. Er hatte Lenas Wunsch erfüllt, aber um sich selbst wieder gesund zu machen, fehlte ihm die Kraft. Es wurde Zeit, dass sie ihr Versprechen einlöste, so sehr sie ihn auch vermissen würde. Lena hörte ihre Mutter nach der Großmutter rufen und blickte zum Fenster hinaus. Sie konnte einen schwarzen Nachthimmel und sogar einige, wenige Sterne erkennen. Ihr Herz begann schneller zu klopfen und als die Großmutter die Küchentür hinter sich geschlossen hatte, öffnete Lena schnell das Küchenfenster. Sie achtete nicht auf die eisige Luft, die an ihr vorbei in die Küche strömte, den Duft der Kohlrouladen, des süßen Teiges und der backenden Äpfel zerschnitt, sondern hob die Kugel vorsichtig mit beiden Händen aus ihrem Karton und streckte sie so weit wie möglich dem Nachthimmel entgegen. Lena schloss die Augen und versuchte sich an jedes Weihnachten zu erinnern, dass sie mit ihrer Familie gefeiert hatte, dann an die vor ihrer Geburt, von denen ihr die Eltern oder Großeltern erzählt hatten. Der Weihnachtsengel hatte sie alle miterlebt und mit seiner strahlenden Schönheit einen besonderen Zauber über jedes Fest gelegt. Lena erinnerte sich daran, wie krank die Großmutter im letzten Jahr gewesen war. Der Engel hatte ihr geholfen gesund zu werden.
Als sie die Stimme ihrer Mutter vor der Tür hörte, öffnete sie die Augen und sah im Nachthimmel ein Glitzern, das eilig den Sternen entgegen strebte. Schnell schloss sie das Fenster und lief zu den Zweigen, hängte die blaue Christbaumkugel hinein.
Später, als sie alle am Esstisch saßen, wunderten sich alle darüber, dass der schöne Weihnachtsengel sich nun ganz abgenutzt zu haben schien, ohne wenigstens noch einen kleinen Rest seiner glitzernden Farbe für kommende Weihnachten übrig gelassen zu haben. Nur Lena kannte die Wahrheit über ihn und seine Reise zu den Sternen.