Als ich Kind war, spielte ich am liebsten mit Puppen. Ich windelte sie, gab ihnen zu essen, sprach mit ihnen. Verband die Puppen, wenn sie hingefallen waren, schimpfte mit ihnen, wenn sie zu spät nach Hause kamen. Ich nähte, strickte und häkelte für meine Puppen Pullover, Pudelmützen und Socken. Ging mit ihnen spazieren und nahm sie mit auf den Hof, wenn ich mit den Nachbarskindern spielte. Dann saßen die Puppen auf einer Decke im Grase und drückten mir die Daumen beim Murmelspiel.
In meinem Besitz waren fünf Puppen, von denen nur eine wirklich mir gehörte. Die abgerissene graue Stoffpuppe, der einarmige gelbe Teddy, die rosige Babypuppe mit der kaputten Mechanik auf dem Rücken, die nicht mehr "Mama" sagen konnte, und das einbeinige Rotkäppchen hatten ursprünglich meinen beiden Schwestern gehört. Die hatten Puppen und Spielzeugtier achtlos in die Ecke geworfen, nachdem sie ihnen Arme und Beine herausgerissen, nachdem die Puppen alt und angeschmuddelt waren.
Ich las die alleingelassenen Puppen auf und umsorgte sie innig. Stundenlang spielte ich allein mit meinen Puppen. Wir verstanden uns gut. Es gab keinen Streit. Streit gab es mit der drei Jahre älteren Schwester, die für die höhere Schule lernen musste. Sie bekam Kopfschmerzen, wenn wir Kleinen laut spielten. Dann verteilte sie Ohrfeigen. Mit der ein Jahr jüngeren Schwester gab es Streit, weil sie das besondere Wohlwollen unserer Mutter besaß. Das nutzte sie aus und petzte bei jeder Gelegenheit. Obwohl ich auch mit meiner jüngeren Schwester viel gespielt habe, am liebsten aber spielte ich mit meinen Puppen.
Meine Lieblingspuppe war natürlich meine eigene Puppe. Sie hieß die Große Puppe, weil sie die größte in der Puppenschar war. Und ich erinnere mich noch genau, wann ich sie einst bekommen hatte.
Es war an einem Weihnachtsabend. Ich war acht oder neun Jahre alt und begann gerade darüber nachzudenken, ob es denn den Weihnachtsmann wirklich gäbe. An meine Kindheitsweihnachten in den 50ern in einer brandenburgischen Kleinstadt erinnere ich mich gern. Frieden. Kein Familienstreit. Mutter hatte endlich Zeit. Unsere Mutter war selten für uns Kinder da im Haus. Beruf und Partei verlangten nach ihr oder zogen sie fort. So wuchsen wir im Kinderhort der Schule und in der Obhut unserer strengen Großmutter auf. Nur im Sommerurlaub und zu Weihnachten nahm sich Mutter mehr Zeit. Zeit für zu Hause. Sie schrubbte und wusch, kochte und buk, schloss sich geheimnisvoll im Wohnzimmer ein, bereitete sich wochenlang auf das Fest vor. Wir Kinder durften helfen: Den Teig rühren und die Teigschüsseln auslecken. Den Abwasch machten wir sowieso. Unseren Spielschrank aufräumen. Den Weihnachtsbaum schmücken am Morgen des Heiligabends. Die große Schwester befestigte die Kerzenhalter in sicheren Abständen und setzte dem Baum eine silberne Spitze mit kleinen weißen Glöckchen auf. Wir Kleinen durften die silbern glänzenden Kugeln und das Lametta anhängen, manchmal auch einen selbst gebastelten Stern.
Meine Eltern waren zu Beginn der 50er Jahre aus der Kirche ausgetreten und hatten uns Kinder bei ihrem Austritt mitgenommen. Nur Großmutter hatte sich nicht von ihrem Gott verabschiedet und widersetzte sich hartnäckig allem Drängen. Aber auch sie ging am Heiligabend nicht in die Christmesse, sondern saß wie die ganze Familie frisch gebadet und in Sonntagskleidern mit feierlichem Gesicht vor dem leuchtenden Weihnachtsbaum.
Diese Stunde vor der Bescherung war für uns Kinder sehr festlich und aufregend. Wir sangen in der Familie eine gute Weile alte Weihnachtslieder. Die sang ich gern, obwohl die Spannung stieg. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Weihnachtsabend entdeckte, welch schöne Stimme mein Vater hatte. Er saß neben mir und sang voller Inbrunst mit. Nie sonst hatte ich Gelegenheit, den Vater singen zu hören. Später kratzte ich auf der Geige meine ersten Weihnachtslieder und die große Schwester spielte ein langes getragenes Stück auf dem Akkordeon. Doch jetzt wurde mir die Zeit lang. Kommt nun der Weihnachtsmann? Oder gibt es ihn doch nicht?
Da, plötzlich pochte es laut an die Wohnungstür. Ich erschrak. Alle waren in der Wohnstube, auch Vater saß noch neben mir. Das musste der Weihnachtsmann sein! Mutter ging zur Tür und öffnete. Sie sprach mit einem fremden unsichtbaren Mann. Dann rief sie mit überraschter Stimme:" Kommt alle mal her! Kommt nur und seht Euch das nur an! Der Weihnachtsmann war eben an unserer Tür!" Wir stürmten zur Tür und verdutzt schauten wir Kinder auf den neuen Holzschlitten vor der Wohnungstür, auf dem allerlei Weihnachtspäckchen aufgestapelt waren. Wer hatte den Schlitten nur bis hierher gezogen? War das wirklich der Weihnachtsmann? Ich hatte noch immer Zweifel. Doch ich konnte mir nicht erklären, wie der Schlitten ohne die Hand meiner Mutter oder meines Vaters vor die Tür gekommen war. Wir Kinder freuten uns riesig über den neuen Schlitten. Der alte war schon lange kaputt und nur ein Zweisitzer gewesen. Nun konnten wir endlich zu dritt die Hügel hinter unserem Städtchen hinunterrodeln.
Ich erinnere mich nicht, was ich sonst noch bekam. Vielleicht dicke wollene Strümpfe, vielleicht einen neuen Pullover oder feine, mit Spitze umhäkelte Taschentücher? Ich weiß nur noch, dass ich enttäuscht war: kein Buch und nichts zum Spielen. Doch nach einer Weile öffnete Mutter plötzlich die Tür zum Schlafzimmer und flüsterte geheimnisvoll: Der Weihnachtsmann hätte schon am Nachmittag bei ihr etwas abgegeben. Verwirrt schauten wir drei Mädchen durch die geöffnete Tür. Da saßen im ersten Bett drei wunderschöne Puppen im Schein der Nachttischlampe. Wir Kinder standen wie verzückt bei dem Anblick dieser Prinzessinnen und wagten es nicht, über die Schwelle zu gehen. Ja, doch! Es gab den Weihnachtsmann. Das war das Wunder! Und dann, ohne ein weiteres Wort, gingen wir zielgerecht auf eine Puppe zu. Auf die Puppe, die wir uns in diesem Moment ausgesucht hatten. Die große Schwester auf eine hübsche Blondine mit Klapperaugen, die jüngere Schwester auf eine farbige Puppe mit schwarzem Kraushaar, ich lief zu einer Puppe mit dicken braunen Zöpfen. Vergessen war der neue Schlitten, unwichtig die Süßigkeiten auf den bunten Tellern. Die Frage, ob es den Weihnachtsmann wirklich gab, wurde für dieses Jahr noch einmal bejaht.
Für mich zählte an diesem Abend nichts weiter als meine Große Puppe. Meine erste richtige Puppe. Meine erste eigene Puppe. Auch wenn ich sie bald beschädigte: Als ich sie waschen wollte, mit einem nassen Waschlappen, überzog sich ihr Gesicht aus Pappmache´ mit einem Netz feiner Risse.
Ich spielte noch viele Jahre mit meiner Großen Puppe und den vier ausrangierten Puppen meiner Schwestern. Das letzte Mal war ich schon vierzehn, als ich mich mit meiner Schulfreundin Gitta auf unseren Dachboden schlich und meine Große Puppe hervorholte.
Wie Mutter uns später erzählte, sind wir an jenem Weihnachtsabend genau auf die Puppe zugegangen, die sie für uns ausgesucht hatte. Merkwürdig, dass es um die Puppen keinen Streit gegeben hatte: die blonde Puppe meiner älteren Schwester war auf jeden Fall hübscher, die farbige Puppe der jüngeren auf jeden Fall exotischer. Mit beiden hätte ich vor den Nachbarskindern auf dem Hof mehr angeben können. Doch für mich kam an diesem Abend nur eine ganz normale, nett aussehende Puppe mit dicken braunen Zöpfen in Frage. Ich wusste sogleich, als ich die Puppe an jenem Weihnachtsabend sah, dass ich mit den Zöpfen viel anfangen konnte …