Clair stand auf der Straße und schaute ungläubig zu, wie der Mann, den sie gestern noch als eine Art Partner angesehen hatte, nun ihre Sachen aus dem Fenster warf. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, denn es war eine Woche vor Weihnachten und die Menschen tummelten sich in der Innenstadt. Clair hatte deshalb große Mühe, ihr persönliches Eigentum einzusammeln. Während sie den Autos auswich, dachte sie bei sich, wie lange sie es doch mit diesem Choleriker ausgehalten hatte und wie blind sie doch gewesen sein musste, ansonst ihr diese Demütigung erspart geblieben wäre.
Clairs Freunde hatten lange auf sie eingeredet und ihr oft genug gesagt, dass dieser Mensch nicht kompatibel sei. Schließlich hatten sie genug von den Wutausbrüchen Pascals und zogen sich zurück. Doch das hatte zur Folge, dass Clair sich immer mehr an Pascal klammerte aus Angst vor dem Alleinsein. Pascal trank oft und viel und mit Rückblick auf die letztere, präsentere Zeit musste sie zugeben, dass sie noch nicht einmal miteinander kommunizieren konnten. Sie wechselten kaum ein Wort miteinander, außer Pascal hatte - wie heute - so viel getrunken, dass er sie anschrie und der Untreue bezichtigte. In ihrer Naivität und Gutgläubigkeit hatte sie diese extremen Eifersuchtsanfälle für Liebe gehalten. Ihre Beziehung mit Pascal hatte knapp zwei Jahre gedauert.
Eigentlich wohnte sie noch bei ihren Eltern, doch oft verbrachte sie Tag und Nacht bei Pascal. Seine Wohnung war klein und eng, aber Clair liebte es einem Menschen ganz nah zu sein. Manches Mal, wenn sie dann nach Hause wollte, überredete er sie zu bleiben, auch das hielt sie in ihrem kindlichen Verständnis für Liebe. Clair hätte sich dieses hässliche Ende nicht erträumen können. Sie war besessen davon in ihrem Pascal das Gute zu finden, auch wenn es sich noch so sehr versteckte. Zudem war sie von seiner Liebe überzeugt und glaubte, dass Pascal noch erlernen müsste, seine negative Energie zu kontrollieren. Für Clair war das nur eine Frage der Zeit.
Aber mit der Zeit wurde Pascal immer aggressiver. Seine Wut auf Alles, richtete sich ausschließlich gegen sie. Sie bekam Angst vor ihm, fühlte sich nicht mehr wohl und suchte einen Weg zur Flucht. Ihre Eltern mochten Pascal nicht und so hatte sich der Kontakt mit der Zeit abgebaut. Clair liebte ihre Eltern und sie wusste auch, dass ihre Eltern sie liebten. Sie hatte ihnen sehr wehgetan, sie aus ihrem Leben entfernt, so wie man einen alten Nagel aus der Wand entfernt. Sie fühlte sich schuldig, so suchte sie sich einen Platz, um nachzudenken.
Es war ungefähr zwei Uhr am Mittag und sie entschloss sich, in ein Café zu gehen. Im Café "Durat" bestellte sie einen Milchkaffee und suchte in einer ihrer Taschen Zigaretten. Da fiel Clair das Buch in die Hand, welches ihre Mutter ihr einst geschenkt hatte. Der Einband des Buches war rot und in schwarzen Lettern stand darauf: "Gaubbert: Das Herz." Schon lange hatte Clair keinen Blick mehr in dieses Buch gewagt, so zitterte sie ein wenig, als sie es aufschlug. Folgende Zeilen waren dort zu lesen: "In der Verzweiflung der Einsamkeit, ist die Liebe oft nur ein Schatten der Wirklichen. Das wahre unerklärliche Gefühl der Glückseligkeit ist, ohne Zweifel, nur eine Erfindung. Die Spur der Ewigkeit ist übertüncht mit den Grabsteinen der Phantasielosigkeit. In der Menge und dem Gemisch der Gefühle spiegelt sich eine durchschaubare Lust der Spiele wieder. Die Unverzeihlichkeit der späten Erkenntnis macht so eine Ernsthaftigkeit der Gefühle beinah unmöglich. In dem tiefen Loch des Selbstmitleides wartet nur wieder die Einsamkeit." Sie verstand. Sie starrte noch einmal auf diese Zeilen, dann erhob sie sich mechanisch, zahlte und ging.
Sie musste nach Hause, sie musste zu denen, die sie wirklich liebten. Es war an der Zeit den Heimweg anzutreten. Sie fuhr mit dem Bus und diese Fahrt kam ihr länger vor, als die 19 Jahre, die sie bisher auf dieser Erde zugebracht hatte. Ihre Vorfreude auf ihr Zuhause war so groß, wie die eines Matrosen, der nach langer Seefahrt wieder heimkehrt. Clairs Seefahrt endete mit ihr als Schiffbrüchige.
Sie malte sich aus, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie wieder vor der Tür stand. Ihr Vater würde vermutlich nur murren und sagen: "Habe ichs doch gleich gewusst." Ihre Mutter würde sie in die Arme schließen und fragen, was passiert sei.
Ihr Herz pochte, als sie vor der Haustür ihres Elternhauses stand. Sie klingelte. Sie wartete. Sie klingelte erneut. Doch Nichts rührte sich. Clair setzte sich auf eine Treppenstufe. In ihr tobten Angst, Enttäuschung und das Verlangen in den Arm genommen zu werden. Sie konnte hier nicht sitzen und warten. Sie entschied sich einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Es dämmerte bereits, obwohl die Kirchturmglocken des kleinen Ortes nur vier Mal schlugen. Es war also erst vier Uhr. Vermutlich waren ihre Eltern in die Innenstadt gefahren, um Dinge für das bevorstehende Weihnachtsfest zu besorgen.
Clair verlor bald die Lust allein spazieren zu gehen. Sie fühlte sich schrecklich verlassen, fror, es wurde immer dunkler und Hunger plagte sie obendrein. Sie machte kehrt. Aber genau in diesem Moment kamen ihr etwa ein Dutzend Menschen entgegen. Sie gingen auf dem kleinen Trampelpfad zusammengedrängt und Clair musste auf das nasse Gras ausweichen, damit die Leute vorbei konnten. Wohin sie gingen, wusste Clair nicht, aber da sie nichts Besseres zu tun hatte, beschloss sie es herauszufinden. So folgte sie der Menschenmenge. Sie gingen auf das kleine Kirchenhäuschen zu. Clair war gerade im Begriff wieder umzukehren, ihre Neugier war befriedigt. Mit der Kirche hatte Clair nichts am Hut. Doch da begegnete ihr der Herr Pfarrer. Er nickte ihr freundlich zu und lächelte. Wie gut das tat! Ein Mensch, der sie anlächelte! Gewiss der Kellner hatte auch gelächelt, aber es war ein mechanisches unechtes Lächeln und somit ohne Bedeutung. Aber dieses Lächeln war so unschuldig und Ernst gemeint, dass Clair Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten. Noch völlig benommen und übermannt von diesem Lächeln, betrat sie die Kirche. Sie nahm Platz. Sie hörte gar nicht, was der Pfarrer predigte. Sie schaute sich nur um und sah sich die Menschen in der Kirche an. Clair konnte sich nicht erklären, warum ihr warm ums Herz wurde. Sie verließ die Kirche, ohne das Ende der Andacht abzuwarten und lief zu ihrem Elternhaus. Schon von weitem konnte sie durch den Lichtschein, der aus dem Fenster auf die Straße drang, erkennen, dass ihre Eltern daheim waren. Sie klingelte. Ihr Vater öffnete die Tür. Als er seine Tochter erblickte, lächelte er. Ihre Mutter kam auf sie zu, auch sie lächelte. Dieses Lächeln brannte sich in ihr Herz. Es war das kostbarste Geschenk, was sie jemals bekommen hat.