In unserer Straße hieß sie nur Tante Elly. Doch ihr Geburtsname lautete Eleonore. "Eleonore, also Kinder, wenn Eltern wüssten, was sie ihren Kindern manchmal antun. Eleonore", mokierte sie sich gerne, "klingt das nicht unnahbar, streng, gouvernantenhaft. Bigott. Nein, das bin nicht ich. Eleonore ist eine andere."
Kamen Briefe, adressiert mit "Frau Eleonore Weiterkamp" an, was selten genug geschah, denn die Post war meist an ihren Mann gerichtet, rezitierte sie oft halblaut vor sich hin: "E... leo... no... re Weiterkamp, E... leo... no... re Weiterkamp", als verkoste sie die einzelnen Silben, um sie dann angewidert auszuspucken, "nein, das muss ein Irrtum sein", zerriss das Kuvert, bis nur noch Fetzen übrig waren und übergab diese dem Wind. "Flieg dahin, E... leo... no... re", rief sie belustigt hinterher.
Tante Elly gehörte zu dem Typus Mensch, den man erst auf den dritten, vierten Blick gewahr wurde. Die leicht untergehen in der Menge. Die man allzu oft übersieht, nicht registriert. Tante Elly, keine 1,60 m groß und mit einem Allerweltsgesicht, an das sich, hätte sie ein Verbrechen begangen, niemand in ihrer unmittelbaren Umgebung erinnert hätte.
Aber erlebte man Tante Elly persönlich, aus nächster Nähe, im Dialog, konnte man sich ihrer positiven Ausstrahlung nicht entziehen. Ihr Naturell entsprach der personifizierten Bedienungsanleitung gegen Intrigen, Missgunst, Gehässigkeit, und in ihrer Küche brodelten keine Gerüchte.
Tante Elly lebte alleine in ihrem Häuschen. Ihren Mann Hubert hatte sie vor Jahren beerdigt. Die beiden waren kinderlos geblieben. Tante Elly war, wie man früher abfällig bemerkte, ein uneheliches Kind, ein Kind der Schande und von ihrer Mutter gleich nach der Geburt an fürsorgliche Pflegeeltern abgegeben. Deren Liebe war Tante Ellys seelisches Fundament, aus der sie Kraft schöpfte und die ihr nie versiegende Quelle der Zufriedenheit war. Ihrer Mutter, die sie als Erwachsene manchmal besuchte, war sie nur ihres Namens wegen Gram. Sonst hatte sie Frieden mit ihr geschlossen. Wer ihr Vater war, erfuhr sie nie.
Ab ihrem 14. Lebensjahr war Tante Elly im Krieg als Rot-Kreuz-Schwester tätig und hätte danach gerne eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht. Evangelisch getauft, lebte sie aber in einer katholischen Gegend. Da die katholischen Orden damals in der Regel Träger der Krankenhäuser waren, wurde ihr aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit eine Ausbildung verweigert. Obwohl sie seit ihrer Kindheit mit den Ritualen der katholischen Kirche vertraut war, kam ein Konvertieren für sie nicht in Frage. Ein Umzug in eine andere Region auch nicht. Nach dieser Erfahrung ließ sich Tante Elly nicht länger ein X für und U vormachen, fackelte nicht lange und kehrte der Kirche den Rücken.
Sie absolvierte eine Ausbildung zur Fotolaborantin und lernte in diesem Umfeld ihren Mann kennen. Zusammen betrieben sie ein Fotoatelier und ergänzten sich. Tante Elly im karierten Flanellhemd erledigte den Job in der Dunkelkammer, assistierte ihrem Hubert im Atelier, während er die Schnappschüsse lieferte. Sie lebten in bescheidenem Wohlstand, hatten nur ein einziges Mal im Leben Urlaub gemacht und auch nur, weil ein Auftrag sie dahin brachte. "Sylt", hatte Tante Elly geschwärmt. "In der Nordsee zu baden war herrlich." Von diesem einzigen Urlaub ihres Lebens zehrten die beiden ein Leben lang.
In ihrer Freizeit tingelte Tante Elly, bewaffnet mit einer alten Leica, gerne durch die Straßen auf der Suche nach Momentaufnahmen des Alltags. Sie knipste vorzugsweise Menschen. Spielende Kinder, Bauarbeiter, Eisverkäufer, Passanten im Strom der Menge. Hinter vorgehaltener Hand munkelten wir, sie hätte das bessere Auge, das bessere Gespür für Motive. Falls Tante Elly das wusste, nie hätte sie es ihren Hubert spüren lassen. Er brauchte die Manege; sie begnügte sich mit einer Statistenrolle. Mit einem Auftritt aus der zweiten Reihe. Arbeiten mit Staubwedel und Nudelholz konnte Tante Elly nichts abgewinnen.
Für die Kinder unserer Straße, aber auch für uns, war Tante Elly ein Glücksfall. Verspäteten wir uns mal beim Einkaufen, bei einem Arztbesuch, bei der Arbeit, genügte ein Anruf bei Tante Elly. Bei Tante Elly gab es keine verschlossenen Türen, und im Apfelbaum hing die Schaukel. Neben Sandkasten und Rutsche stand die Hollywood-Schaukel. Im Haus befanden sich Bauklötze, Puppen und Spiele und im Kühlschrank die gängigen Produkte der Kinder-Nahrungsmittelindustrie. Einem Baumhaus hatte sich ihr Mann allerdings erfolgreich verweigert. Tante Elly alias Clown Paddel-Quaddel durfte auf keinem Kindergeburtstag fehlen.
Tante Elly entpuppte sich für uns Bewohner wie der Fels in der Brandung und war erste Anlaufstelle persönlicher Krisen oder einer nachbarschaftlichen Stippvisite. Ihre altmodische Küche roch genau wie sie nach einer Mischung aus Pomeranzen, frisch gemahlenem Kaffee und etwas Chemie. Auf dem Küchentisch die obligatorischen Freesien. "Komm, setz, dich Kind. Ich mach uns mal einen Kaffee."
Zermahlte mit ihrer quietschenden Holzmühle die Kaffeebohnen, schüttete den gemahlenen Kaffee in einen Filter, streute eine Prise Kardamom darüber, setzte den Filter auf eine Kaffeekanne mit Streublümchen-Dekor und goss kochendes Wasser darüber. Wie annodazumal. Allein dieses Ritual des Kaffeekochens verbunden mit dem Aroma frisch gebrühten Kaffees genügte zur Entspannung. Dazu ein Stück Gugelhupf aus ihrer Lieblingsbäckerei. Tante Ellys Stärke war ihre Muße; eine geduldige Zuhörerin, die selten für eine Seite Partei ergriff, diskret und mit Fingerspitzengefühl. "Alles hat zwei Seiten, Kind." Tante Elly, eine lebende Aphorismen-Sammlung, aus dessen Fundus sie uns beschenkte wie beispielsweise mit dem Satz von Lessing "Die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen" oder "Wenn du zu anderen gut bist, bist du am besten zu dir selbst", kluge Worte, die von Benjamin Franklin stammten. Lebensweisheiten, die uns zum Nachdenken anregen sollten.
Wieso ihre Nähe den Alltag entschleunigte, wissen wir nicht. Aber dem war so. Tante Elly - unsere Tante Elly mit dem Mutter-Theresa-Gen. Sprachen wir sie darauf an, lachte sie, verströmte trotz Haaren, schlohweiß, und einer Lederhaut mehr Vitalität als manch Vierzigjährige und zitierte Ricarda Huch: "Nur die Liebe wächst, wenn wir verschwenderisch damit umgehen."
Eine einzige Forderung stellte Tante Elly für ihre Uneigennützigkeit. "Weihnachten wird bei uns gefeiert. Mit Kind und Kegel. Ihr kennt das oberste Gebot! Nur Selbstgekochtes und Selbstgebackenes."
Ein Diktat, dem wir uns gerne beugten. Jahr um Jahr pilgerten wir mit Mann und Maus an Heiligabend zu Tante Elly. Beladen mit Geschirr und - Lukullus lässt grüßen - hausgemachten Spezialitäten, die auch Bocuse gemundet hätten. Fröhlich, ausgelassen, schmausten wir an der Tafel, die sich in U-Form quer durch Wohnzimmer und Esszimmer schlängelte, sangen Weihnachtslieder. An Gedichten, vorgetragen von den Kleinen, konnte Tante Elly sich besonders ergötzen. In unser aller Blickfeld die mannshohe Tanne neben dem offenen Kamin, indem Holzscheite knisterten und Funken sprühten. Umter'm Baum die liebevoll verpackten Geschenke für die Kinder.
Für einen Weihnachtsbaum war die Tanne ungewöhnlich dekoriert. Tante Elly hatte Unmengen von Schwarz-Weiß-Fotografien mit winzigen Holzklammern in ihm befestigt. Die Auslese eines Jahres. Des vergangenen Jahres. "Mitschnitte unseres Lebens, unseres Miteinanders", betonte sie, und ihre linke Augenbraue hob sich etwas. Erinnerungen an Geburtstage, Hochzeiten, Kindtaufen, Beerdigungen, das pralle Leben halt. Bevor wir uns verabschiedeten, mussten wir auf ausdrücklichen Wunsch von Tante Elly den Weihnachtsbaum entblättern. "Nehmt euch vom Baum der Erinnerung und werft ab und an einen Blick in die Spiegel."
Niemals mehr werden wir bei Tante Elly im Weihnachtsbaum hängen.