Was für einen Heiligen Abend erlebten meine Nachbarn, die Wendelhüttners! Nie war er so amüsant, nie war er so aufregend, nie war er so heilig. Noch vor der Hühnersuppe am Mittag wollten sie die erste Kerze an ihrem Baum entzünden, was eine Lawine von Ereignissen in Gang setzte, die nicht nur die Wendelhüttners in den darauffolgenden Stunden überrollte. Auch ich, ihr guter, nachbarschaftlicher Freund und Ratgeber, wurde Opfer.
Er, der Herr Wendelhüttner, trat die Lawine los. Begab sich, während die Hühnersuppe köchelte, sie, die Frau Wendelhüttner, mit Weihnachtsstressdurchfall auf dem Klo saß und sie, die Zwillinge, in ihren Zimmern mucksmäuschenstill ausharrten, hinters Haus zum Kellerabgang, um den mehr-als-mannshohen, perfekt gewachsenen Weihnachtsbaum zur Ausstaffierung zu holen.
"WO IST DER BAUM?" Von diesem Moment an war ich mit dabei. Saß mit der Tageszeitung entspannt im Sessel und wurde durch das cholerische Getöse empfindlich gestört. "WO IST DER BAUM?"
Ich erhob mich und schlenderte ans Fenster. Sah ihn, den Herrn Wendelhüttner, mit rotem Kopf auf eine Antwort warten. Sie, die Frau Wendelhüttner, lehnte aus dem Klofenster. Auch sie mit hochrotem Kopf. Ihre Stirn glänzte und im ersten Moment meinte ich, sie trägt eine Schwimmbrille, doch waren es nur ihre Augen, die einiges ausgehalten haben mussten. Sie schaute ziemlich blöd drein und wartete auf eine Antwort. Im gehörigen Abstand standen mit verschränkten Armen sie, die Zwillinge, auf frischem Schnee, glotzten und zitterten.
Ich ahnte, wie es weiter gehen würde. Knickte die Zeitung einmal und legte sie auf die Anrichte unter dem Fenster. Griff mit der linken Hand an den Fenstergriff und begann gaaanz langsam zu zählen: "Eins, zwei´.." Und tatsächlich. Es klappte wie erwartet auf drei. Sie, er und die Zwillinge drehten sich auf Kommando zu dem Fenster, an dem ich stand. Im selben Moment drehte ich den Griff und öffnete das Fenster. Spürte eisige Luft und Hilflosigkeit hereinströmen. "Was gibt es?", fragte ich angesichts der Heiligkeit dieses Tages doch etwas genervt. "UNSER WEIHNACHTSBAUM IST VERSCHWUNDEN!" Der Choleriker hatte sich kein Stück weit beruhigt. "Wir stellten ihn vorgestern hier in den Kellereingang!", ergänzte sie, die sich zur Normalität zurückgebildet hat. Sie, die Zwillinge, nickten eifrig drei- bis viermal und standen weiterhin steif und starr. "Ich komme."
Ihr Vierzig-Euro-Baum war weg! Da gab es nichts zu deuteln. Einfach weg. Offensichtlich geklaut. Wir suchten Spuren, fanden nur unsere eigenen. Bestimmt waren auch die des Täters darunter, doch das half uns nicht in diesem Moment. "Ein starkes Stück", meinte ich. "Unser schöner Baum", leierte sie, die Frau Wendelhüttner. "Fahren Sie schnell los, Sie werden bestimmt noch einen ergattern", wandte ich mich an ihn, den Herrn Wendelhüttner. "EINEN TEUFEL WERDE ICH TUN. ICH RUFE DIE POLIZEI!", schrie der Permanent-Choleriker. Ich wusste, wir alle wussten, Reden hatte hier keinen Sinn. Wir konnten nur noch armselige Fakten sammeln. Fanden im unberührten Weiß einige grüne Nadeln, die sich auf dem Fußweg vor dem Haus verloren, genau an der dritte Laterne in südlicher Richtung, zwei Laternen bevor die Straße, in der wir wohnen, auf die in der Hierarchie höher positionierte Vorfahrtsstraße trifft.
Wir gingen ins Haus der Wendelhüttners. Die Zwillinge verschwanden schweigend in ihren Zimmern. Ich löffelte aus einem Teller mit Hühnersuppe. Sie, die Frau Wendelhüttner, verschwand auf dem Klo, nachdem die markanten Stellen in ihrem Gesicht begonnen hatten sich zu röten. Und er, der Herr Wendelhüttner, tobte: "MAN HAT MIR MEINEN WEIHNACHTSBAUM GEKLAUT!" brüllte er in den Hörer.
Er, der Polizeihauptwachtmeister (so betitelte ich ihn), saß eine halbe Stunde später mürrisch bei uns am Tisch und löffelte Hühnersuppe. Wir löffelten nun alle. Ihrem, Frau Wendelhüttners Magen, würde das gut tun. Auch seinem, dem Herrn Wendlhütterns. Und denen der Zwillinge. Vielleicht würden sie auftauen. Und natürlich auch dem Magen des Polizeihauptwachtmeisters, der nur noch zwanzig Minuten im Dienst sein würde und sich den Dienstschluss wegen eines entwendeten Weihnachtsbaumes nicht vermiesen lassen wollte. "Was gedenken Sie zu tun?" fragte er, der mit Hühnersuppe sabbernde Herr Wendelhüttner.
"Gar nichts! Ich habe ihre Anzeige aufgenommen und gehe nun nach Hause!"
"Und was ist mit unserem Weihnachtsbaum?"
"Warum fahren Sie nicht noch einmal los? Irgendetwas werden Sie noch bekommen."
"Weil ich unseren Baum wieder haben möchte."
"Das wird schwierig."
"Unser Baum ist unverkennbar. Er ist genau zwei Meter hoch. Er hat einen Umfang von genau vier Metern und dreiundfünfzig Zentimetern. Sein Stamm ist an der Schnittstelle exakt 63 Millimeter dick! Er ist wunderschön"
Alle Löffel fielen gleichzeitig in die Teller, Spritzer schwappten über und beschmutzen den Tisch und gesellten sich zum Gemisch aus Hühnersuppe und Geifer von ihm, dem Herrn Wendelhüttner. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Das erste Mal an diesem Morgen sah ich ihn lächeln, während ein kleines Rinnsal Hühnersuppe an seinen Mundwinkeln hinunter floss. Der Polizeihauptwachtmeister war beeindruckt. "Also gut. Schau'n wir mal. Aber Sie müssen helfen. Lasst uns ausschwärmen!"
Nachdem wir unsere Teller leer gelöffelt hatten, sammelten wir uns an der dritten Laterne in südlicher Richtung, ziemlich in der Nähe zur Einfahrt auf mein Grundstück. Sie, die Frau Wendelhüttner, wischte rasch die verräterischen Spuren vom Tisch. Er, der Polizeihauptwachtmeister, wollte eine halbe Stunde drauflegen, das sei ihm die Geschichte schon wert. Er wollte den weitläufigeren Tatort mit dem Einsatzwagen abfahren. Ja, ein Maßband hätte er selbst dabei. Sie, die Frau Wendelhüttner, würde sich die unmittelbare Umgegend vornehmen, allein schon wegen der Nähe zum Klo. Sie, die Zwillinge, schlugen sich mit Zollstock und Maßband bewaffnet in östliche Richtung. Er, der Herr Wendelhüttner, übernahm den westlichen Part. Nein, er benötige keine Messhilfe. Sein fotografisches Gedächtnis würde in diesem Fall ausreichen. Um halb zwei wollten wir uns zum Rapport erneut an der dritten Laterne in südlicher Richtung einfinden. Ich blieb in der Schaltzentrale.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass wir ganz schön blauäugig an die Sache heran gingen. Man würde an diesem Tag eine Menge Leute mit einem Weihnachtsbaum wie dem der Wendelhüttners beobachten. Und Weihnachtsbäume sind eben nur ungefähr zwei Meter groß, vierhundertdreiundfünfzig Zentimeter rund und haben einen dreiundsechzig Millimeter dicken Stamm. Aber vielleicht haben wir es alle nur verdrängt und bevorzugten eine Abwechslung an diesem jahrein, jahraus eintönig verlaufenden Tag.
Als wir uns später trafen, waren alle vorzüglicher Laune. Auch ohne ihren, den wendelhüttnerschen Weihnachtsbaum. Sie, die Zwillinge, schnatterten drauf los, hatten auf ihrem Weg einige Freunde überzeugen können und zogen wie Emil mit seinen Detektiven durch die Straßen. Nein, eine heiße Spur hatten sie nicht gefunden. Sie, die Frau Wendelhüttner, war nun mit ihren Sitzungen durch und er, der Herr Wendelhüttner, war die Ruhe selbst und erzählte von vier ungefähren wendelhüttnerschen Weihnachtsbäumen, die ihm zwei Glühwein und eine Handvoll Weihnachtskekse einbrachten. Aber nicht IHREN Weihnachtsbaum. "Na ja, einen Versuch war's wert", sagte der Polizeihauptwachtmeister und fuhr in den Heiligen Abend.
Aber ich war ja auch noch da. Ich, der gute, nachbarschaftliche Freund und Ratgeber in allen Fragen. Ich opferte meinen Weihnachtsbaum. Er war ungefähr zwei Meter hoch, maß ungefähr vier Meter und dreiundfünfzig Zentimeter im Umfang und sein Stamm war zufällig knappe dreiundsechzig Millimeter dick. Wir legten ihn auf der Terrasse flach. Sie, die Zwillinge, auf der einen Seite, er, der Herr Wendelhüttner, und sie, die Frau Wendelhüttner, auf der anderen Seite, hielten in straff und fest, ohne ihm allzu sehr weh zu tun. Das tat ich. Mit der Stichsäge. Machte aber hervorragende Arbeit. Waren alle sehr zufrieden. Und die amputierte Hälfte in die Ecke gequetscht - es fiel gar nicht auf.
Wir löffelten anschließend in einträchtiger Stimmung den Rest Hühnersuppe und gingen zur Tagesordnung über.