Immer wenn ich "O Tannenbaum" höre, fällt es mir wieder ein.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, lang, lang ist's her, da lehrte mich Opa: "Den Weihnachtsbaum, den müssen wir erst im Wald holen und ihn selbst schmücken, es ist unmöglich, diese Arbeiten auch noch dem Christkind zuzumuten, weil es ohnehin schon viel zu viel zu tun hat."
Ja, das leuchtete mir ein. Ich habe meinen Opa sehr geliebt und mein Glaube an ihn war unerschütterlich. So gab es gleich nach dem Frühstück für Opa und mich am "Heiligen Abend" die Pflicht, in Richtung Wald aufzubrechen. Das war zumindest so während des Krieges und auch noch einige Jahre danach. Damals wohnten Mama und ich noch mit den Großeltern zusammen in unserem kleinen Bauernhof. Papa kam erst im Jahr 1945 dazu, nachdem seine Kriegspflichten beendet waren! Opa war daher meine männliche Bezugsperson in den ersten Jahren meines Lebens, und zwischen uns bestand eine besonders innige Bindung. Man kann auch sagen, wir waren ein Herz und eine Seele.
Opa nahm mich also bei der Hand und bedächtig, wie er nun mal war, ein Mann ohne viele Worte, ging er mit mir den mindestens einen Kilometer langen Weg zum nahen Tannenwald der Gemeinde. Mit der anderen Hand hielt er das Beil und den Fuchsschwanz. Beide waren wir in dicke Mäntel gehüllt, trugen hohe Stiefel und Wollhandschuhe, denn es war bitterkalt. Der Schnee knirschte unter unseren Sohlen. Wie mit weißer Watte bedeckt sahen ringsherum die Felder und Wiesen aus. Nur langsam kamen wir voran, denn immer wenn Opa einen Schritt tat, bedeutete dies für mich mindestens drei Schritte. Wir vertrieben uns diese Zeit des Weges damit, Spuren im Schnee zu lesen, malten uns so dies und jenes aus und haben viel gelacht über die verschiedenen Fußspuren, jetzt kamen unsere noch dazu. Doch dann hatten wir es geschafft, der Wald war immer näher gerückt und nun standen wir unmittelbar vor diesen schneebedeckten hohen Tannen, diesen riesigen Bäumen, die in den Himmel zu wachsen schienen. Hier und da lugten einige grüne Zweige neugierig hervor, so als hätten sie den Schnee einfach wie ein lästiges Kleidungsstück abgestreift. Aber so nah davor stehend, musste ich meinen Kopf schon sehr weit in den Nacken legen und konnte dennoch die Tannenspitzen nicht erblicken. Es blieb auch nur bei diesem Versuch, denn ich verlor das Gleichgewicht und saß im nächsten Augenblick im Schnee. Opa half mir lachend wieder auf die Füße und klopfte den Schnee von meinem Mantel.
"Bleib am Weg stehen und warte auf mich", bat Opa, um sich gleich darauf mühselig einen Pfad durch den tiefen Schnee zu bahnen, immer am Waldrand entlang. Und so entfernte er sich weiter und weiter von mir. Hatte Opa mich etwa vergessen? Da waren doch schon mehrere kleine Bäumchen, wieso nahm er keines davon? Einige Male lief er vorwärts, kam zögernd wieder zurück, rüttelte hier oder dort, beugte sich vor, sah ratlos aus, was er wohl suchte?
Na, endlich! Zuerst schüttelte er den Schnee vollständig von den Zweigen herunter, schob ihn mit den Stiefeln zur Seite und schlug mehrmals kräftig mit dem Beil zu. Es hallte unheimlich laut in der weißen Stille. Schließlich musste die Säge den Rest besorgen und dann packte er die kleine Tanne auf seine Schulter, sammelte das Werkzeug ein und kam durch den Schnee gestampft, zurück zu mir. Er schmunzelte, nahm mich wieder bei der Hand und sagte nur: "Jetzt komm, wir haben noch viel, viel Arbeit vor uns."
Kaum zu Hause angekommen, ließ Opa den Baum von der Schulter gleiten und klopfte ihn mit seinem Stamm zwei- oder dreimal im Hof auf den Boden, damit die Äste sich lockern konnten. Nun besah er sich erstmalig in aller Ruhe diesen zukünftigen Weihnachtsbaum. "Hm, hm", sagte er und rieb sich sein Kinn. Was jetzt folgte, dazu brauchte Opa noch mehr und ganz anderes Werkzeug, na ja, das Bäumchen war nicht gerade "gut gewachsen", eher das Gegenteil. Also musste da so einiges verschönert werden - oder gar repariert? Kurz gesagt, Opa sägte, schnitt, bohrte an den Ästen und dem Stamm so lange herum, bis wirklich nur noch eine Reparatur helfen konnte! - Alles Absicht! Denn eine Tanne nach Opas Geschmack, die konnte nur er selbst kreieren!
Jahre später erfuhr ich den Hintergrund:
Bereits im frühen Herbst zahlte Opa für eine kleine Tanne den dafür vereinbarten Betrag in die Gemeindekasse. Bei einem Sparziergang suchte er sich später die Tanne aus, welche er für geeignet hielt und markierte ihren Stamm mit einem Bändchen. Eine solche Kennzeichnung bedeutete: ‚Dieser Baum ist vergeben' und niemand anderer wäre auf die Idee gekommen, genau dieses Tännchen für sich selbst zu schlagen. Das wurde zu diesen Zeiten so gehandhabt! Dazu suchte sich Opa immer ein Bäumchen aus, welches mit anderen viel zu eng stand und deshalb etwas ‚in seinem Wachstum gestört' wirkte. Sobald aber dieser kleine Baum aus der Gruppe entfernt war, konnten sich die verbleibenden Tannen ausbreiten und ihren Wuchs entfalten. Eine Rücksichtnahme auf die Flora galt als selbstverständlich und wurde von den Dorfbewohnern dieses Ortes und den umliegenden Dörfern praktiziert. Niemals hätte mein Opa eine freistehende gut gewachsene Tanne geschlagen, die sowieso einige Tage nach dem Weihnachtsfest, sobald sie ihr Soll erfüllt hatte, im Ofen verfeuert worden wäre. Niemals! Vielleicht war es aber auch eine Sparmaßnahme der Gemeinde, die auf diese Weise weniger Lohn für die Waldarbeiten ausgeben musste? Schon möglich.
Allerdings glaube ich, dass genau diese Einrichtung Opa sehr gelegen kam. Er konnte einmal im Jahr seine künstlerische Begabung entfalten und freute sich schon Monate lang auf genau diesen Tag. Eventuell hatte er aber auch nur seinen Beruf leicht verfehlt, wer weiß, jedenfalls wäre Opa ein Spezialist im "Tannen-Bau" geworden.
Wie gesagt, der Baum machte eine derartige Wandlung durch, in stundenlanger liebevoller Feinarbeit und wurde so zu einem Musterexemplar, wie es perfekter nicht von Natur aus hätte wachsen können.
Dieses Prachtstück von Tanne konnte getrost zum Weihnachtsbaum werden. Also wurde er im Ständer befestigt und ins Wohnzimmer getragen, einige Male gedreht, dann hatte er genau den richtigen Stand. Ab jetzt war in diesem Zimmer der Zutritt verboten, nur nicht für mich, denn ich war ja seine Gehilfin.
Inzwischen hatte schon jemand die große Kiste, gefüllt mit den kleinen Kartons voller bunter Kugeln und allerlei glänzendem Schmuck, vom Boden geholt und sie für uns bereitgestellt. Da waren runde Kugeln mit goldenen Fäden kunstvoll überzogen, tropfenförmige Kugeln mit bunten Streifen, halbe Kugeln mit sehr schön gearbeiteten Verzierungen, zapfenförmige Kugeln, selbst eckige Kugeln, Kugelketten, Engelhaar, echte Kerzen, ach ich kann es gar nicht so schön beschreiben, wie es wirklich war, und ganz oben thronte die herrliche verschnörkelte Baumspitze. Dieses Schmücken dauerte natürlich auch wieder Stunden, jedenfalls kam es mir als Kind so vor und dabei war das allerschönste, wir haben gesungen! Eigentlich wurde bei uns fast täglich gesungen, aber mit Opa Weihnachtslieder singen, das war etwas ganz Besonderes! Weihnachtslieder - alle die Opa gerade so einfielen, nur nicht dieses, wie zu Anfang bereits erwähnte: "O Tannenbaum". Ich hielt es nämlich für ein Kinderlied und Kinderlieder waren mir ein Gräuel, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Wie auch immer, ich streikte und die Erwachsenen hatten etwas zu lachen. Ich vermute gar, sie konnten es nicht lassen, mich mit Kinderliedern das ganze Jahr über zu hänseln. Doch jetzt, zu Weihnachten wollte ich wieder und immer wieder mein Lieblings-Weihnachtslied singen, nämlich: "Tochter Zion"! Wahrscheinlich hatten es längst alle bis oben hin satt, aber ich liebte es. Ich liebe es übrigens heute noch, immerhin konnte ich es mit vier Jahren schon singen, dank Opa.
Längst war es dunkel geworden, die restlichen Familienmitglieder ließen sich nun nicht mehr länger zurück halten. Überall am Bäumchen glitzerte und strahlte es so wundervoll festlich. Da stand er, morgens noch unscheinbar und nun, der "schönste Weihnachtsbaum der Welt", ja, und heute noch, nach über sechzig Jahren, schmücke ich meinen Weihnachtsbaum bunt, so bunt wie Opa es mich gelehrt hat.