"Vielleicht schreibt sie morgen", murmelte Frau Rösch, während sie nahezu teilnahmslos flimmernde Fernsehbilder an sich vorbei ziehen ließ. "Florida", hatte sie dabei aufgeschnappt und da war ihr Edith, ihre einzige Tochter in den Sinn gekommen, welche vor zwölf Jahren dort hinüber geheiratet hatte. Oft musste sie an ihre Tochter denken, wenn sie irgendwo "Amerika" hörte oder las, wenn sie englischsprachige Wörter vernahm ...
Leo, ihr Mann, mit dem sie dreißig Jahre lang leidlich ausgekommen, war vor acht Jahren zu Grabe getragen worden. Da war Edith noch zur Beerdigung aus Amerika angereist und sogar vier Tage geblieben. Davon zehrte Frau Rösch bis heute. Vor zwei Jahren hatte Edith noch zu Weihnachten geschrieben. Letztes Jahr war nichts gekommen und heuer?
"Sicher geht es ihr gut, sonst hätte sie sicherlich ..." Bei diesem Gedanken spürte die Frau wieder einmal ein Stechen in der Herzgegend.
Sie spürte es schon seit diesem Frühjahr, manchmal heftiger, manchmal nur ganz leicht. Sie war schon beim Arzt, aber der konnte nichts Genaues sagen!
Auf Weihnachten war die alleinstehende Witwe dann bei Nachbarn eingeladen. Bei einem feinen Essen durfte sie dort den Weihnachtsabend mitfeiern. Als dann das kleine Mädchen der Nachbarsfamilie vor dem erleuchteten Christbaum die Geschenke auspackte und dabei vor Freude laut jubelte, rannen Frau Rösch ein paar stille Tränen über die Wangen. Und dann war es plötzlich wieder da, dieses Stechen, heftiger als je zuvor, aber es dauerte nicht lange.
Die Nachbarn benachrichtigten die Tochter in Florida vom Tode ihrer Mutter. Als die betagte Frau kurz vor Silvester beerdigt wurde, war immer noch kein Brief von der Tochter eingetroffen!