Anna war sehr früh aufgestanden. Im Schlafanzug und mit nackten Füßen ist sie zum Adventskalender gelaufen und hat das Türchen mit der Nummer 23 aufgemacht. Sie wusste ganz genau, was sie vorfinden würde ... schon wieder einen Schokoladenstern oder ein Schokoladentannenbäumchen oder eine Schokoladenkerze.
Aber was war das? Anna rieb sich die Augen und schaute noch mal ganz genau hin. Da stand ein winzig kleiner Engel mit einem rosa Kleidchen, gelben Haaren und schneeweißen Flügeln. Das kleine Mädchen war sehr aufgeregt und der kleine Engel auch. Beide sahen sich mit großen Augen an. Ängstlich flatterte der Engel mit seinen winzig kleinen Flügeln, flog aus dem Kalender und landete genau auf Annas Fuß. Sie erschrak, hob den Engel vorsichtig hoch und setzte ihn auf ihre Hand.
"Hast du dir wehgetan?"
Der kleine Engel schüttelte seinen winzig kleinen Kopf.
"Hast du einen Namen?", fragte Anna.
Mit leisem Stimmchen antwortete er: "Ich heiße Marius. Und du?"
"Hallo Marius, ich bin Anna und ich wohne hier und das ist mein Zimmer und ich hab dich im Adventskalender gefunden. Wieso eigentlich?"
Der kleine Engel stellte sich auf ihre Hand und flatterte zwei Mal mit seinen Flügeln, um sie in Ordnung zu bringen. Er hatte große Schwierigkeiten, dabei nicht die Balance zu verlieren. Dann erzählte er: "Morgen ist Weihnachten und ich, Marius der Weihnachtsengel, habe eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Nur ... ähm ... ich weiß nicht mehr was ich tun soll! Ich hab es vergessen. Und es ist doch so wichtig! Du musst mir helfen! Bitte!"
Anna ging vorsichtig mit Marius an ihr Bett und setzt sich. Dann ließ sie den Engel von ihrer Hand auf das Kissen flattern. Marius legte sich gemütlich hin, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, wackelte mit den Füßen und schaute Anna erwartungsvoll an. Anna musste lachen.
Marius setzte sich hin und sah Anna böse an. "Du sollst mich nicht auslachen. Sag mir lieber, was ich tun soll!"
"O, du lieber kleiner Marius, wie soll ich dir da helfen? Vielleicht fällt es dir ja wieder ein? Bemüh dich mal ein bisschen."
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, damit Marius nicht sehen sollte, dass sie noch immer schmunzeln musste.
Der kleine Engel drehte beleidigt seinen Kopf zur Seite. Dann sprang er plötzlich auf, schlug wild mit seinen Flügeln und Arme hin und her und rief ganz aufgeregt: "Ich weiß es, ich weiß es! Mir ist es wieder eingefallen! Juhu!"
"Es ist dir eingefallen? Jetzt bin ich aber mal gespannt!" Anna sprang auf und stellte sich erwartungsvoll vor den Engel, der sich wieder auf das Kissen niedergelassen hatte.
"Ich soll ... ich soll ... wieder dahin, wo ich hingehöre!"
Anna schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, was Marius meinte.
"Es gibt hier einen Platz, da fehlt ein kleiner Engel und den Platz soll ich einnehmen. Verstehst du jetzt?" Marius schaute sie fröhlich an und er lächelte.
Anna überlegte, ging vor dem Bett auf und ab, blieb stehen und sagte: "Wo könnte ein kleiner Engel fehlen? Wie sollen wir das herausfinden? Auf jeden Fall hat es was mit Weihnachten zu tun. Pass auf, ich ziehe mich jetzt an, verstecke dich in meinem Puppenhaus und werde mit Mama frühstücken. Dann komme ich wieder und wir überlegen zusammen, wo du hingehörst. Einverstanden?"
Marius nickte mit dem Kopf. Anna setzte den Engel in ihr Puppenhaus und zog sich an. Dem kleinen Engel gefiel es im Puppenhaus. Da gab es kleine Stühle, einen Tisch, einen Schrank und sogar ein Bett. Im Zimmer nebenan war die Küche mit Schränken, einem Herd und einer Sitzecke. Er fühlte sich richtig wohl hier.
Anna war nun angezogen und lief schnell zum Frühstücken. Sie wollte so bald wie möglich wieder zurück sein. Marius legte sich auf das Bettchen und überlegte schon mal, wo denn sein Platz sein sollte. Er überlegte so angestrengt, dass er einschlief. Er wurde wach, weil ihm Anna sachte ins Gesicht blies. "Aufstehen, wir müssen doch herausfinden, was deine Aufgabe ist!"
Marius setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dann sagte er: "Was riecht denn hier so gut?"
Er schnupperte mit seinem Näschen und rieb sich den Bauch. Anna erzählte ihm, dass ihre Mutter am Plätzchenbacken sei und sie eigentlich helfen sollte. Aber sie konnte ihre Mutter davon überzeugen, dass sie Wichtigeres zu tun hätte.
Das kleine Mädchen machte eine Schublade auf und nahm ein Kartenspiel heraus. Sie legte alle Karten vor sich hin und schaute sie an. "Du Marius, ich habe hier ein Weihnachtskartenspiel und da fehlt auf einer Karte ein Engel. Die Karte ist schon so oft angefasst worden, dass man den Engel nicht mehr erkennen kann. Vielleicht ist das dein Platz?"
Marius flog vom Puppenhaus zu Anna und landete auf dem Tisch. Sie zeigte ihm die Karte. "Aber wie soll ich da in die Karte?"
Marius hatte keine Idee und Anna machte ihm den Vorschlag, er solle einen Anlauf nehmen und gegen die Karte springen. Wenn das sein Platz sei, würde er dann wohl in der Karte bleiben. Anna stellte die Karte auf und lehnte sie gegen ihre Schatztruhe, die auf dem Tisch stand.
"Also dann liebe Anna, ich danke für deine Hilfe und ich wünsche dir ein tolles Weihnachtsfest! In dieser Karte werde ich immer bei dir bleiben. Machs gut!"
Anna wollte noch etwas sagen, aber Marius nahm einen Anlauf und rannte los, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Er lief mit dem Kopf zuerst gegen die Karte und fiel mit einem Schrei zu Boden. Leicht benommen stand der kleine Engel auf und schlug mit den Flügeln. Das hat wohl nicht geklappt! Anna tat es überhaupt nicht leid, dass es nicht funktioniert hatte. Wenn sie ehrlich war, freute sie sich sogar, dass Marius noch bei ihr war.
"Nein", sagte der Engel traurig, "das war doch nicht mein Platz. Und morgen ist schon Heiligabend."
"Weißt du was", sagte Anna, "ich geh uns jetzt mal ein paar Plätzchen holen und dann sehen wir weiter. Was sagst du dazu?"
Marius nickte nur mit seinem Kopf, blieb auf dem Tisch unschlüssig stehen und Anna lief in die Küche. Sie kam bald wieder mit leckeren Plätzchen zurück. Anna nahm den kleinen traurigen Engel und setzte sich mit ihm und den Plätzchen auf das Bett. Marius aß ein paar Plätzchenkrümel und schon hatte er wieder gute Laune. Anna summte noch das Weihnachtslied: "O, Tannenbaum" und alles war wieder gut.
Der Tag verging und sie hatten noch immer nicht herausgefunden, wo der kleine Engel hin sollte. Dann kam der Abend. Anna musste zum Abendbrot. Marius hielt sich solange im Puppenhaus auf und wartete auf sie. Dann hörte er, wie Anna schnell die Treppe hinauflief und ins Zimmer stürmte. "Marius, bist du da? Ich bin so aufgeregt! Morgen ist Weihnachten und dann kommt das Christkind! Was es mir wohl mitbringt? Ich wünsche mir so sehr eine Babypuppe mit Kleidern und einem Bettchen ..."
Marius hatte andere Sorgen. Was sollte er nur tun? Was passierte, wenn er nicht seinen Platz fand? Anna beruhigte Marius und schlug ihm vor, erst mal zu schlafen. Morgen würden sie ganz bestimmt herausfinden, wo er hingehörte. Sie brachte den kleinen Engel in das Puppenbettchen und sie legte sich in ihr Bett. Damit Marius keine Angst hatte, ließ sie noch das Licht an. Beide schliefen bald ein und hatten, trotz der Aufregung, eine ruhige Nacht.
Am nächsten Morgen stand Anna wieder früh auf und lief zuerst zu ihrem Adventskalender. Heute war es so weit! Heute war Heiligabend und sie öffnete die Tür mit der Nummer 24. Sie fand eine Krippe aus Schokolade, mit Maria, Josef und dem Jesuskind. Anna lief leise zum Puppenhaus und weckte den kleinen Engel, um ihm die Schokoladenkrippe zu zeigen.
"Schau mal, Marius, da ist die Krippe mit dem Jesuskind! Heute ist Weihnachten und ich bin ganz aufgeregt!"
Der kleine Engel sprang aus dem Bett und schaute sich die Krippe an. "Das ist ja keine echte Krippe! Habt ihr eine Krippe mit dem Stall und den Tieren und dem Jesuskind?", fragte Marius.
"Na klar haben wir eine Krippe und die wird nachher im Wohnzimmer aufgestellt. Dann darf ich den Esel und die Schafe aufstellen. Ich kann dich ja mitnehmen und dann kannst du dir alles anschauen."
Marius freute sich darauf. Er hatte irgendwie das Gefühl, dort die Lösung zu finden.
Er erzählte Anna von seinem Gefühl und sie schlug ihm vor, jetzt schon mal nach der Krippe zu schauen. Marius konnte es kaum erwarten. Sie nahm den Engel vorsichtig in ihre Hand und ging mit ihm nach unten. Dort im Wohnzimmer stand bereits die Krippe. Aber es fehlten das Jesuskind und die Tiere. Anna öffnete die Hand und Marius schaute sich um. Dann lächelte er geheimnisvoll und sagte zu Anna: "Ich habe ein wunderbares Gefühl in mir. Ich weiß nun genau, wo ich hingehöre. Sei nicht traurig, wenn ich nicht mehr da bin. Du wirst mich finden. Lass uns jetzt wieder nach oben gehen!"
Anna wusste wieder nicht, was Marius meinte und ging nachdenklich in ihr Zimmer. Ihr fiel auf, dass der kleine Engel sehr gute Laune hatte und immer zu Späßen aufgelegt war. Anna wurde von der guten Laune angesteckt und spielte mit Marius und sie las ihm Weihnachtsgeschichten vor. Dann hörten sie, wie Annas Mutter rief: "Anna, kommst du nach unten? Wir wollen die Krippe und den Weihnachtsbaum schmücken."
Der kleine Engel sagte zu Anna: "Geh nur, wir sehen uns bald."
Anna lief nach unten. Sie schmückte mit ihren Eltern den Weihnachtsbaum und stellte die Krippe auf. Anna durfte die Tiere in den Stall stellen und schließlich das Jesuskind in die Krippe legen. Dazu sangen sie ein Weihnachtslied und auf dem Tisch brannten die Kerzen vom Adventskranz.
Anna wurde von ihrem Vater nach oben begleitet. Er wollte ihr eine Geschichte vorlesen und ihr so die Zeit verkürzen, bis das Christkind kam.
Das kleine Mädchen war so nervös und aufgeregt, dass sie den kleinen Engel völlig vergaß. Ihr Vater begann zu lesen, aber Anna hörte überhaupt nicht zu. Sie war zappelig und konnte nicht still sitzen. Bald hörten sie leise ein Glöckchen bimmeln und Anna rief: "Papa, schnell, das Christkind ist da! Komm, wir müssen schnell nach unten!" Sie nahm ihren Vater bei der Hand und stürmte mit ihm die Treppe hinunter. Doch die Tür zum Wohnzimmer war verschlossen. Sie klopfte und langsam ging die Tür auf.
Das Mädchen war sprachlos ... der Weihnachtsbaum leuchtete, die Krippe erstrahlte und bei dem Jesuskind saß ein kleiner Engel in einem rosa Kleidchen, mit gelben Haaren und weißen Flügel und lächelte geheimnisvoll.
Annas Mutter zeigte auf den Engel mit Tränen in den Augen und sagte: "Ich hatte überall nach dem kleinen Engel gesucht und plötzlich war er da! Wie ein Wunder ... Frohe Weihnachten, mein Kind!" Sie küsste ihre kleine Tochter und drückte sie.
Anna berührte den kleinen Engel. Er war zu einer Krippenfigur geworden. Jetzt wusste Anna, dass er seinen Platz gefunden hatte und sie war sehr glücklich.