Hl. Abend gegen 22:00 Uhr. Die Weihnachtsmesse war, wie immer am 24. Dezember, gut besucht. Feierlich stimmte die Kirchengemeinde das Lied "Stille Nacht" an. Hunderte von Kerzen verbreiteten ein stimmungsvolles, anheimelndes Licht. Zum Abschluss erteilte der 45-jährige Pfarrer Wunibald Rudert den Segen. Bevor er seine Schäfchen jedoch in die Winternacht entließ, erinnerte er die Gläubigen an den anschließenden Umtrunk im Gemeindesaal.
"Liebe Brüder und Schwestern im Herrn, Ihr wisset ja, dass wir die überflüssigen Geschenke unseres Gabentisches nach der Messe in den Gemeinderäumen für die Bedürftigen entgegennehmen."
Draußen schneite es dicke weiße Flocken. Pfarrer Rudert und sein Kaplan Johannes Schäffler standen am Kirchenportal. Sie verabschiedeten die Gottesdienstbesucher, die nach Hause wollten, und klärten den einen oder anderen freundlich auf, wie sie das mit der Geschenkeaktion im Gemeindesaal gemeint hatten. Jeder bekam ein freundliches Wort.
Die Gemeinderäumlichkeiten füllten sich zusehends. Das Durchschnittsalter der Anwesenden betrug 73,2 Jahre. Wohl gerade deshalb fiel die junge Organistin Anna-Maria mit ihrem strohblonden, gelockten Haar besonders auf. Die etwas knöcherne Gemeindereferentin sowie mehrere ehrenamtliche Helfer wuselten zwischen den Stuhlreihen umher, um die Gäste mit grünem Tee und Diätplätzchen zu versorgen.
Anna-Maria hüpfte die wenigen Stufen zum Podium hinauf, setzte sich elegant an das Klavier und stimmte "Lobet den Herrn" an. Freudig sangen wenig ‚Jung' aber viel ‚Alt' mit.
Kaplan Schäffler las eine Geschichte vor, die er selbst verfasst hatte. In seiner Freizeit leitete er eine katholische Bibelschreibgruppe, die ihm viel Freude bereitete. Aufmerksam folgten ihm die Augen und Ohren der Anwesenden, da Kaplan Schäffler es vorzüglich verstand, kleine Anekdötchen der Gemeindeglieder einzuflechten. Seinen Vortrag untermalte er mit weit ausholenden Gesten und der vielfältigen Mimik seiner Gesichtsmuskeln.
Wie zufällig trafen sich die Blicke von Anna-Maria und Pfarrer Wunibald, als die Anwesenden frenetisch applaudierten. Vielleicht starrte Wunibald etwas zu lange zu Anna-Maria hin. Jedenfalls schlug sie errötend die Lider nach unten, als sie seine Augen mehr spürte als sah.
Der Messner brachte einen großen Korb.
"Liebe Gemeinde!", sagte Wunibald, "es gilt nun ein Zeichen des Miteinanders und des Mitgefühls zu setzen! Unterstützen Sie uns in dem Bemühen, diesen Korb zu füllen. Meine Helfer werden durch die Reihen gehen und die mitgebrachten Geschenke einsammeln. Bereits jetzt vielen herzlichen Dank."
Unter Gelächter, teilweise auch zweideutig-witzigen Kommentaren, sammelten die Helfer die mitgebrachten Geschenke ein.
Wie im Flug war die Zeit vergangen. Wunibald stellte fest, dass sich die Zeiger der Uhr schon auf Mitternacht zu bewegten und beschloss das Schlusswort zu sprechen. Auf dem Weg zur Bühne bemerkte er erstmals Anna-Marias erotisch übereinander geschlagene Beine. Sie schienen endlos lange zu sein.
"Herzlichen Dank, dass Sie so lange Beine, äh, hüstel, dass Sie so lange mit uns den Geburtstag des Herrn gefeiert haben. Ich bedanke mich auch im Namen der Bedürftigen für die Gaben und wünsche Ihnen besinnliche Weihnachtstage und einen guten Nachhauseweg."
Füße raschelten, Gemurmel; die Gäste verließen nach und nach den Saal. Anna-Maria sortierte ihre Noten, Pfarrer Wunibald half den Damen in die dazu gehörigen Mäntel, eifrige Hände räumten Tische ab und stellten das Geschirr in die Maschine.
Helfer und Gäste verabschiedeten sich persönlich von ihrem Pfarrer mit einem festen Händedruck. Die großen Deckenleuchter wurden ausgeknipst. Still wurde es im Saal. Laut gähnend zog sich der Kaplan zurück. Nur noch der Pfarrer und Anna-Maria waren anwesend.
"Ich bin mal wieder fast die Letzte", meinte sie lächelnd.
"Vielen Dank, Fräulein Anna-Maria, für ihr hervorragendes Klavierspiel. Für mich waren sie der Glanzpunkt des heutigen Abends." Väterlich legte er seine Hand für einen kurzen Moment auf ihre Schulter.
Schüchtern senkte Anna-Maria den Blick. Gemeinsam wandten sie sich dem Ausgang zu.
"Wir haben ja fast den gleichen Weg, ich begleite sie ein Stück", bemerkte Pfarrer Wunibald.
Der Schneefall hatte deutlich nachgelassen. Draußen fielen nur noch vereinzelt ein paar Flocken. Der festgetretene Schnee auf den Stufen spiegelte sich im Glanz der gegenüber liegenden Laterne.
Wunibald sperrte die Türe zu. "Endlich einmal weiße Weihnacht!", rief Anna-Maria begeistert und hüpfte übermütig tänzelnd die Treppe hinab.
"Seien Sie vorsichtig. Die Treppe ist glatt", wollte er noch rufen - aber zu spät. Im selben Moment hörte er einen Schmerzensschrei ...
Es war früher Morgen, als das Telefon bei Kaplan Schäffler läutete. Er stellte die Kaffeetasse beiseite und nahm den Hörer ab. "Guten Morgen lieber Johannes, ich bin heute früh leider verhindert. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen, das keinen Aufschub duldet", hörte er die Stimme des Pfarrers.
"Sie wollen doch wohl nicht etwa unsere gemeinsame morgendliche Kaffeerunde ausfallen lassen?", fragte Johannes erstaunt.
Ohne näher darauf einzugehen, meinte Wunibald: "Na ja, für heute ist alles klar, der Gottesdienst ist ja geregelt." Verwundert legte Johannes den Hörer auf und rührte gedankenverloren in seinem Kaffee.
Kaffee war das Stichwort gewesen. Wunibald ging in die Küche, stellte Tassen auf das Tablett und nahm die dampfende Kanne aus der Maschine. Vorsichtig balancierte er das Servierbrett ins Schlafzimmer.
Anna-Maria richtete sich im Bett auf. Ein Träger ihres Negligés rutschte ihr von der Schulter, was sie nicht zu stören schien. Die zerwühlte Bettdecke gab ihren verbundenen Knöchel frei. Anna-Maria fuhr sich mit der Hand durch die strohblonden Haare. Sie lächelte Wunibald lasziv an.
"Ganz ein Kavalier, genau wie heute Nacht ..."