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Marla sperrte die Haustüre hinter sich zu, drehte sich um und sie sah so plötzlich in die vielen, weißen Schneeflocken am Himmel, dass sie ein wenig die Augen zusammenkneifen musste, weil der Anblick sie fast geblendet hätte. Es schneite, wie es diesen Winter noch nie so geschneit hatte. Als sie vor fünfzehn Minuten zuletzt aus dem Küchenfenster gesehen hatte, war von Schnee noch keine Spur gewesen und jetzt das. Ungläubig und kopfschüttelnd ging sie den gepflasterten Weg, der mitten durch den Garten verlief und den ihr Mann vor langer Zeit einmal angelegt hatte, in Richtung Gartentor. Wenn es weiter so schneit, dann werden wir heute doch noch weiße Weihnachten haben, dachte sie hoffnungsvoll. Der 3-Tage-Trend des Wetterberichts im Radio hatte zwar für heute und für die darauffolgenden zwei Weihnachtsfeiertage nur wenig Schnee vorausgesagt, vereinzelt sogar gar keinen, aber auch der Wetterbericht konnte sich irren und anscheinend hatte er das auch. Der Schnee hatte in der kurzen Zeit, seit er massenhaft vom Himmel fiel, die Umgebung schon etwas verändert. Marla sah sich in ihrem Garten um. Der größte Teil der Rasenfläche, die blattlosen Baumkronen der Laubbäume, die zur Straße hin standen, sowie das Dach ihres Hauses waren schon von einer dünnen, weißen Schneeschicht bedeckt. Wenn weiter so viel Schnee fiel, dann würde dieser binnen weniger Stunden alles unter sich begraben. Da war sich Marla sicher. Plötzlich schoss ihr ein Satz durch den Kopf: Der Himmel beglückt uns mit seinem unermesslichen und unendlichen Reichtum. Dieser Gedanke kam ihr mit einem Mal vertraut vor und sie glaubte, diesen Satz möglicherweise in irgendeinem Buch oder einer Zeitschrift gelesen zu haben. Im nächsten Moment jedoch war sie sich aber nicht mehr ganz sicher und der Gedanke verlor jegliche Vertrautheit. Auf einmal glaubte sie, dass es sich um einen ihrer Spontaneinfälle handelte, die aus ihrer eigenen Phantasie entsprungen waren und das machte sie fast glücklich. Wieder ein Einfall. Wieder eine Inspiration. Oh, wie sie solche Geistesblitze liebte. Vielleicht konnte sie heute Nachmittag darüber ein kleines Gedicht verfassen. Seit dem Tod ihres Mannes Klaus hatte sie angefangen zu schreiben. Über ihre Gedanken, Gefühle, über Vergangenes, über ihren Mann, seine letzte Zeit mit ihm, seinen Tod und ihre Trauer. Dies hatte ihr der Psychologe, den sie nach diesem schweren Schicksalsschlag konsultiert hatte, geraten. Er hatte das Schreibtherapie genannt und es hatte ihr ohne Zweifel gutgetan. Darüberhinaus hatte es angefangen, ihr Spaß und Freude zu bereiten und sie hatte es als ihr neues Hobby betrachtet. In den letzten zwei Jahren hatte sie schließlich viele Gedichte und kleine Kurzgeschichten geschrieben und die Besten von ihnen bzw. diejenigen, von denen sie meinte, es wären die Besten, veröffentlichten lassen. Ein paar ihrer Werke fanden sich in Zeitungen oder Zeitschriften wieder und einige ihrer Gedichte waren sogar in einer Gedichtsammlung erschienen, nachdem ein Verlag auf eines ihrer Werke in den Medien aufmerksam geworden war und sie gebeten hatte, doch mehr zu schicken. Das war nach dem Tod von Klaus wenigstens ein kleiner Lichtblick gewesen und sie hatte wieder Hoffnung verspürt, dass es wieder aufwärts gehen würde. Aber so richtiges Glück hatte sie dennoch nicht empfunden. Sie war sich sicher gewesen, dass ihre Lebensfreude, die sie einmal gehabt hatte, in dem Augenblick gestorben war, in dem das Herz ihres Mannes aufgehört hatte, zu schlagen. Die Gedichtsammlung mit dem Titel "Gedichte aller Art" hatte sie auf einem Regal über dem Kamin stehen, in dem im Winter oder im Spätherbst immer ein gemütliches Feuer brannte. Neben dem Buch gesellte sich ein Bild ihres verstorbenen Ehegatten. Es war ein schönes Leben gewesen mit ihm, dachte Marla manchmal, wenn sie im Wohnzimmer saß und ihr Blick auf das Foto fiel und sie es lange anstarrte. Ein Leben, das sie in harmonischer und glücklicher Zweisamkeit miteinander verbracht hatten, wenn man von seinen letzten qualvollen Monaten, die er noch zu leben gehabt hatte, absah. Klaus war vor drei Jahren an Krebs gestorben und die letzten Wochen, als es Beiden klar war, dass es die letzte gemeinsame Zeit sein würde, obwohl es Keiner ausgesprochen hatte, wog ihr Mann nur noch knappe sechzig Kilo auf gut einen Meter achtzig. Das Bild auf dem Foto war weit vor dieser schlimmen Zeit gemacht worden und zeigte ihn bei einem ihrer letzten gemeinsamen Urlaube in Afrika. Klaus stand da, breitbeinig und braungebrannt neben einem Kamel und hatte ein weißes, kurzärmeliges T-Shirt an, was am Bauch ein wenig spannte und ihm etwas bis unter die Ellbogen ging. Die rechte Hand hatte er ausgestreckt, so dass man unter seinem Arm kleine Schweißflecken erkennen konnte, die stellenweise die makellos weiße Farbe des Kleidungsstücks (Marla konnte sich erinnern, dass Klaus damals sein T-Shirt beim Mittagessen mit etwas Soße befleckt hatte, aber das sah man auf der Aufnahme nicht) in feuchtes hellgrau verwandelten. Die ausgestreckte Hand ruhte auf einem der Höcker des Tieres, so als wolle sich Klaus daran festhalten. Die Linke hatte er zur Faust geballt und sich cool in die Seite gestemmt, während ein weißer Safarihut, unter dem sein dichtes, schwarzes und lockiges Haar hervorquoll, auf seinem Kopf thronte wie die Krone eines Königs. Er lächelte und dieses Lächeln strahlte so viel Glück und Lebensfreude aus, dass Marla jedes Mal feuchte Augen bekam, wenn ihr Blick zu lange auf dem Foto verweilte und er ihr immer noch so leid tat, obwohl er schon tot war. Ihm ging es zu der Zeit, als das Photo entstanden war (mittlerweile waren es ca. zehn Jahre), immer noch prächtig. Wenn er damals schon die ersten Krebszellen in sich getragen hatte, hatte er entweder nichts davon gemerkt, da die Krankheit erst im Anfangsstadium gewesen war oder höchstens sehr wenig. Vor dem Krebs oder besser gesagt vor der Zeit, wo das Leiden mit dem Krebs anfing, sein Leben zu beeinträchtigen und ihn als Mensch langsam zu verändern, war er Jemand gewesen, den manche Menschen als "von Gott geküsst" bezeichnet hätten. Er war immer zu Späßen aufgelegt gewesen, hatte vor Energie und Lebensmut gesprüht und Marla konnte sich eigentlich nicht daran erinnern, ihn jemals richtig wütend oder schlechtgelaunt gesehen zu haben. Einen so ausgeglichenen Mann zu haben, gab einem sehr viel Kraft, vor allem wenn man selber nicht so stark war. Klaus hatte sie im Lauf ihrer Ehe durch eine jahrelange Phase schwerster Depression begleitet, so gut es ein Mann nur kann und sie letztendlich durch seine Kraft und Hoffnung wieder auf den richtigen Weg und aus der Depression geführt. Sie war ihm heute noch dankbar dafür. Doch dann war ihr Mann selber krank geworden.
Marla war jetzt am Gartentor angelangt und zog in diesem Augenblick die Klinke herunter. Bei deren eiskalter Berührung fiel ihr auf einmal ein, dass sie ihre blauen Wollhandhandschuhe vergessen hatte, die immer noch unter dem Eingangsspiegel auf der Kommode lagen. Sie hatte sie vor vielen Jahren von ihrer Mutter, die sie selbst gestrickt hatte, zu Weihnachten geschenkt bekommen. Marla überlegte kurz, entschied sich jedoch, sie im Haus zurückzulassen. Erstens war es jetzt erst ein Uhr Mittag und gut noch ein paar Grad über Null und zweitens konnte sie sich ihre Hände ja in die Hosentaschen ihres dicken Daunenmantels stecken, wo sie mit Sicherheit warm blieben. Sie verließ den Garten durch das Tor, das sie geräuschvoll hinter sich zuzog, ohne dabei die Klinke herunterzudrücken. Eine alte Gewohnheit. Marla sah sich um. Abgesehen von einem Pärchen, das eng umschlungen nebeneinander herging und sich wegen des vielen Schnees die Augen mit den Händen abschirmte, war kein Spaziergänger zu sehen. Von weitem sah Marla ein Auto näher kommen. Obwohl es noch hell draußen war, hatte der Fahrer aufgrund der Witterungsverhältnisse das Scheinwerferlicht eingeschaltet. Marla erkannte im silbernen Mercedes, Herrn Müller, der im Gemeinderat tätig war. Dieser hob lächelnd die linke Hand zum Gruß, während die Rechte lässig das Lenkrad umklammert hielt. Marla winkte zurück, dann setzte sie sich in Bewegung. Als sie am Nachbarshaus vorbeikam, blieb sie kurz stehen und blickte über dessen Garten hinweg in das dortige Küchenfenster. Die Vorhänge waren beiseite gezogen, das Fenster gekippt und sie sah Pauline in der Küche am Herd stehen. Sicherlich präparierte sie gerade die Weihnachtsgans, die es jeden Heiligabend dort zu essen gab. Marla wusste das, seit sie Witwe ohne Familie war, denn nach Klaus Tod war sie von dieser Familie jedes Jahr zu Weihnachten eingeladen worden und durfte sogar während der Bescherung anwesend sein. Pauline und ihr Ehemann Martin hatten sogar darauf bestanden. Marla ging dann natürlich nie mit leeren Händen hin, vor allem, weil sie auch etwas geschenkt bekam. Für die heutige Bescherung hatte sie für das Ehepaar eine teure Flasche französischen Weins und für Kinder Robert und Anja, jeweils fünf und sieben Jahre alt, ein paar Spielsachen besorgt. Mittlerweile waren die Vier für Marla eine zweite Familie geworden und sie hatte diesen Leuten viel zu verdanken. Sie hatte zwar noch eine Mutter (ihr Vater war früh gestorben) und zwei Schwestern, die jeweils eine eigene Familie hatten, aber man sah sich nicht so häufig, sondern telefonierte stattdessen ein bis zwei Mal im Monat, weil man hunderte von Kilometern getrennt lebte. Außerdem war ihre Mutter schon alt und schwach und Marla konnte nicht von ihr verlangen, mit dem Zug hunderte von Kilometern zurückzulegen, um ihre Tochter zu besuchen, nur weil es dieser schlecht ging. Ihre Schwestern waren zwar öfters gekommen, vor allem, als Marla keine eigene Familie mehr hatte, aber auch sie konnten nicht alle vier Wochen aufkreuzen, denn Maria und Christine hatten ihr eigenes Leben. Marla ging weiter. Sie hatte das Gefühl, dass es stärker wie zuvor schneite. Die Sicht war stark beeinträchtigt und man sah maximal fünfzig Meter weit. Von weitem hörte sie das Lachen von Kindern. Als sie näher kam, sah sie zwei kleine Buben und ein Mädchen im Garten eines Hauses spielen. Im Vorbeigehen beobachtete Marla sie und stellte fest, dass die Kleinen den im Garten herumliegenden Schnee mit ihren kleinen Handschuhen einsammelten und zu einem kleinen Haufen in der Mitte des Gartens türmten. Das ließ vermuten, dass sie vorhatten, einen Schneemann zu bauen. Die Schneemenge, die bis jetzt auf dem Rasen liegen geblieben war, reichte zwar für dieses Vorhaben noch nicht aus, aber die Kleinen spekulierten, dass das Wetter so blieb und es weiter so schneien würde. Das Mädchen, dessen Namen Marla kannte, sah von ihrer Arbeit kurz auf und Marla winkte ihr lächelnd zu. Anja-Marie, die Tochter der Dorfwirtin, winkte zurück, dann fuhr sie fort wie ein fleißiges Bienchen, Schnee zu sammeln. Von den anderen beiden Kindern, die in ihrem kindlichen Eifer so in ihre Tätigkeit vertieft waren, dass sie Marla nicht einmal sahen, fielen ihr die Namen nicht mehr ein, aber sie kannte sie vom Sehen, so wie ihr hier im Dorf jedes Gesicht vertraut war. Das war hier schließlich keine Großstadt. Marla sah den Kindern noch einen Moment zu und erinnerte sich wieder. Ja, sie war auch mal jung gewesen und wie viele Schneemänner hatte sie mit ihren beiden Schwestern gebaut? Unzählige. Sie lächelte sanft. Und du warst nicht nur jung gewesen, sondern auch mal glücklich, hörte sie plötzlich in ihrem Inneren eine bohrende Stimme sprechen. Und du hattest auch einmal einen Sohn gehabt, der mit seinen Freunden im Winter einen Schneemann baute, während du und dein Mann im Garten gestanden seid, ineinander verschlungen wie ein junges Teenager-Pärchen, und gelächelt habt vor Glück. Im selben Moment gefror ihr das Lächeln auf den Lippen und ihr Blick versteinerte sich. Sie spürte wieder diesen Knoten im Magen und sie beschloss weiterzugehen, denn umso länger sie die Kinder beobachtete, umso schlimmer wurde das Gefühl. Sie setzte sich wieder in Richtung Friedhof in Bewegung und nach ein paar Minuten ging es ihr wieder besser. Dorthin ging sie normalerweise zwei Mal in der Woche, einmal unter der Woche und einmal am Wochenende. Unmittelbar nach der Beisetzung ihres Sohnes und, Jahre später, ihres Mannes, hatte sie die Grabstätte natürlich täglich besucht. Mit der Zeit aber, in der ein emotionaler Abstand entstanden war, wurden die Besuche weniger häufig, blieben aber regelmäßig. Während sie weiterging, merkte sie, dass ihr Magen plötzlich knurrte und dass erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte, abgesehen von einem kleinen Frühstücksei, dass ihr auf dem Weg vom Kochtopf zum Eierbecher fast auf den Küchenboden gefallen wäre. Sie ging weiter entlang der Straße und hatte die Hände in die Taschen ihres Mantels gesteckt und das Haupt etwas geneigt, so dass ihr die vielen Schneeflocken nicht in die Augen fielen. Nach etwa hundert Metern teilte sich die Straße. Rechts ging es bergab, Richtung Hauptstraße, die quer durch das Dorf verlief. Dort unten lag das Wirtshaus, die Attraktion des kleinen Ortes, an der Hauptstraße. Ein Ort, wo sich Jung und Alt trafen. Von der Gaststätte waren es dann nur noch ein paar hundert Meter zur Dorfkirche entfernt, die erhaben und majestätisch auf einer kleinen Anhöhe stand. Marla folgte der Straße nicht bergabwärts, sondern nahm die linke Abzweigung, die weiter oberhalb des Berges und in Richtung Friedhof verlief. Doch bevor sie diesen erreichte, kam sie erst am Spielplatz vorbei. Erinnerungen kamen in ihr hoch und schmerzlich waren sie angesichts des Verlustes ihres einzigen Sohnes. Florian hatte hier oft mit Freunden gespielt, als er noch klein war. Er war später im jungen Alter von sechzehn Jahren bei einem Discobesuch in einem Auto verunglückt, nachdem der achtzehnjährige Fahrer in betrunkenem Zustand von der Straße abgekommen war und das Fahrzeug gegen einen Baum gesetzt hatte. Florian hatte zunächst am Unfallort als Einziger überlebt, doch war später im Krankenhaus an den Folgen des Unfalls gestorben. Das war ein besonders schwerer Schicksalsschlag für sie und Klaus gewesen, der Schwerste, den Eltern je hinnehmen müssen. Die ersten Jahre nach dem Verlust ihres Sohnes waren Marla und Klaus durch die Hölle gegangen, aber der Schmerz hatte langsam nachgelassen. Es gab Beziehungen, die nach so einem tiefgreifenden Ereignis zerbrachen. Das Band ihrer Beziehung jedoch, war durch den Tod von Florian noch stärker geworden. Doch als Klaus ein paar Jahre später gestorben war, hatte das keine Bedeutung mehr gehabt. In der Anfangszeit nach Florians Tod war sie jede Nacht hierher gekommen, wenn sie nachts nicht schlafen konnte. Sie hatte das Gelände betreten, sich dort auf eine der beiden Bänke gesetzt und gemeint, Florians Geist inmitten der Holzschaukeln, der beiden Klettertürme und der großen Rutsche ganz stark zu spüren. Genau an diesem Ort, den der kleine, unschuldige Junge so sehr geliebt hatte. Für Marla war der Tod ihres einzigen Sohnes ohne Zweifel so schlimm gewesen wie es für eine Mutter nur sein kann. Verglichen jedoch mit der Zeit nach Florians Ableben war sie sich sicher, dass sie am Tod von Klaus länger zu beißen hätte. Das hatte natürlich nichts mit Liebe zutun, denn sie hatte ihrem Sohn dieselbe Liebe entgegengebracht wie ihrem Ehemann, wenngleich es natürlich eine andere Art von Liebe gewesen war. Der Verlust war an sich war genauso schlimm gewesen, nur die Trauerarbeit war nach Klaus Tod schwieriger und langwieriger, weil Marla durch den vorangegangenen Verlust ihres Sohnes schon ein seelisches Trauma in sich getragen hatte. Außerdem konnte ihr Klaus jetzt nicht mehr beistehen und Trost spenden, wie er das bei Florian getan hatte, weil er jetzt selber derjenige war, der gestorben war.
Marla ließ den Spielplatz hinter sich und allmählich wurden die Behausungen spärlicher und man merkte, dass man sich allmählich aus dem Dorf entfernte. Immer stärker kam die Natur zum Vorschein und plötzlich war der asphaltierte Gehweg zu Ende und machte einem Kiesweg Platz. Marla sah von weitem schon den Friedhof mit seinen zwei einladenden, großen, eisernen Schwingtüren, die meist immer offen standen und angesichts derer Marla immer an zwei zur Umarmung ausgestreckte Arme denken musste. Bei dieser Assoziation musste sie unweigerlich an Klaus denken und an die Tatsache, dass sie oft in seinen Armen gelegen war, vor allem dann, als so schwer an Depressionen gelitten hatte, um Kraft und Hoffnung zu schöpfen. Schließlich stand Marla vor dem Friedhofseingang und jetzt erst merkte sie, dass sie voller Schnee war. Sie klopfte ihren Mantel aus und fuhr sich ein paar Mal durch das dunkelrote, schulterlange Haar, um sich von den vielen Schneeflocken zu befreien. Der Friedhof, der ganz isoliert am Rande des Dorfes lag, als wollten die Bewohner ihre Abneigung gegen den Tod zum Ausdruck bringen oder versuchen, seine Existenz aus ihrem gemütlichen Dorfleben zu verdrängen, war von einem etwa drei Meter hohen Natursteinmauerwerk umgeben, das schon vor vielen Genartionen einmal errichtet worden war. So war es nicht verwunderlich, dass das alte Mauerwerk an manchen Stellen zwar schon Risse aufwies, aber dennoch nichts an seiner Stabilität verloren hatte. Marla ging an den beiden offenen Eingangstoren vorbei und atmete ein paar Mal tief die kühle Dezemberluft ein, um sich innerlich zu beruhigen. Sie fing an, unruhiger zu werden und das merkte sie an ihrem Herzschlag. Der emotionale Abstand, den sie im Laufe der Zeit zweifellos gewonnen hatte, war immer noch zu klein war, als dass ihr der Besuch auf dem Friedhof wenig oder gar nichts ausgemacht hätte. Florians tödlicher Unfall, der schon fast acht Jahre zurücklag, hatte sie schon fast verdaut, aber bis sie einen Zustand innerer Gelassenheit in Bezug auf Klaus Tod erreicht haben würde, konnten noch viele Sommer und Winter ins Land ziehen. Der Dorffriedhof war mit einigen Dutzend Gräbern nicht sehr groß. Da es nur ein Dorffriedhof war, gab es keine Verwaltung, die sich um die Instandhaltung des Begräbnisplatzes kümmerte, sondern nur ehrenamtliche Helfer, die einmal im Monat das Laub zusammenrechten, das die vielen Bäume hier im Herbst verloren, im Frühjahr und Sommer die Grünanlagen pflegten, indem Büsche und Sträucher immer wieder gestutzt wurden und Abfälle von bereitgestellten Mülleimern entsorgten. Für das Reinigen der Grabplatten und Grabsteine, die Wind und Wetter ausgesetzt waren, waren die Angehörigen verantwortlich. Marla ging an den anderen Gräbern vorbei, bis sie vor dem ihres Mannes und ihres Sohnes stand. Es war schon von Schnee bedeckt wie alle anderen Gräber, weil es bis jetzt ununterbrochen geschneit hatte. Sie faltete die Hände und sprach mehrere Gebete, wie sie das immer machte. Damals, als die Wunden nach Florians Tod noch frisch gewesen waren und Jahre später auch Klaus sein Leben lassen musste, hatte sie oft, vor allem am Grab stehend, nach dem WARUM gefragt. Warum ihr Gott nicht nur ihren einzigen Sohn genommen hatte, sondern obendrein auch noch ihren geliebten Mann. Und warum sie. Und das hatte zwangsläufig zu der Frage geführt, was sie denn Schlimmes in ihrem Leben getan hatte, dass sie von Gott so bestraft worden war. Aber sie hatte, während sie mit versteinerter Miene zum Himmel gesehen und einen unmäßigen Groll in sich gespürt hatte, keine Antworten bekommen. Irgendwann hatte sie aufgehört, sich und Gott diese Art von Fragen zu stellen und hatte anstelle dessen den Tod als Etwas angesehen, gegen das man sich nicht auflehnen konnte, sondern akzeptieren musste.
Nachdem Marla mit dem Beten fertig war, stand sie einfach einige Zeit da und nach ein paar Augenblicken wurde sie von ihren alten Erinnerungen überwältig, so dass sie nicht merkte, dass zusätzlich zum Schnee ein kalter Nordwestwind dazukam, der einem die Schneeflocken gehörig ins Gesicht blies. Nach ein paar Minuten begannen, ihre Augen feucht zu werden und sie weinte kurz. Dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und mit einem Mal bemerkte sie, dass sie fror. Was für ein ungemütlicher, kalter Wind. Sie entschied, zu gehen und machte zum Abschluss noch ein Kreuzzeichen und warf ihren Verstorbenen noch eine Kusshand zu. Auf dem Weg nach Hause steckte sie die kalten Hände in die Taschen. Nach zehn Minuten kam sie an dem Garten vorbei, an dem sie vorher die Kinder beobachtet hatte. Sie waren immer noch beschäftigt und hatten mittlerweile eine große Kugel mit einem Durchmesser von etwa einem halben Meter aus Schnee geformt. Die Kinder sahen auf und Marla winkte ihnen zu. "Ihr habt viel Spaß wie ich sehen kann", rief Marla. "Und, wann meint ihr, dass euer Schneemann fertig ist?" Anja-Marie kam näher, bis sie am Gartenzaun stand. Die beiden älteren Jungs blickten in ihre Richtung, überließen es aber dem Mädchen, zu antworten. "Wenn weiter so viel Schnee fallen tut, dann sind wir fertig, bevor es ganz dunkel wird", entgegnete Anja-Marie mit einem unschuldigen Ausdruck. Unter ihrer Wintermütze schauten ihre zwei hellblonden Zöpfe heraus. "Na, dann beeilt euch mal", antwortete Marla und winkte den drei Kindern zum Abschied noch einmal zu. Daheim angekommen sah Marla, als sie ihre Stiefel ausgezogen und ihren nassen Mantel über die Heizung vor der Eingangstüre ausbreitet hatte, auf ihre Armbanduhr. Jetzt war es kurz nach zwei Uhr nachmittags. Um sechs Uhr begann die Weihnachtsfeier in der Kirche und das hieß, dass sie spätestens zwanzig nach fünf von hier losgehen musste, um noch einen Platz in den hintersten Reihen zu ergattern. Pauline und Martin gingen mit ihren Kindern meist schon um dreiviertelfünf los, um sich weit vorne in der Kirche einen Platz zu sichern, denn sie wollten, dass ihre Kinder möglichst viel von der Weihnachtsmesse mitbekamen. Pauline hatte Marla schon letztes und vorletztes Jahr angeboten, dass sie gerne mitkommen könne, aber Marla hatte freundlich abgelehnt mit der Begründung, dass ihr dreiviertelfünf ein wenig zu früh sei und dass es ihr bei weitem genüge, wenn sie einen Platz im hinteren Bereich der Kirche fand. Jetzt hatte Marla auf jeden Fall Zeit und sie entschied sich, ein entspannendes, heißes Bad zu nehmen.
-2-
Die Kleidung des Penners im Stadtpark roch zwar unangenehm, aber mit der Sträflingskleidung wäre er so auffällig wie ein weißes Schaf unter einer Horde Schwarzer gewesen. Da es kalt war und obendrein angefangen hatte zu schneien, hatte Mark sich der Gefängniskleidung nicht entledigt, sondern hatte den alten, weinroten Pullover und die schmutzigblaue Jeans des Penners einfach darüber gezogen. Zum Schluss hatte er sich dann noch die mottenzerfressene Windjacke umgeworfen und hatte den leblosen Körper im Fluss versenkt. Der Obdachlose hatte keine einzige Gelegenheit gehabt, zu schreien, denn Mark hatte ihn zuvor von hinten gepackt und ihm die Kehle mit dem Messer, das er vor seiner Flucht aus der Küche der JVA entwendet hatte, durchgeschnitten. Obwohl es erst Spätnachmittag gewesen war, hatte es keinen einzigen Augenzeugen gegeben, da Mark die Tat in einem sehr entlegenen Teil des Stadtparks begangen hatte. Er hätte den Penner zwar einfach nur bewusstlos schlagen können, doch er hatte ihn ermordet, weil es eben nur ein Stadtstreicher gewesen war. Ein wertloses Stück Scheiße, dass niemand vermisste. Außerdem war Mark wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden und selbst wenn man ihn schnappen würde und ihm obendrein noch den Mord des Obdachlosen in die Schuhe schieben könnte, würde es keinen Unterschied mehr machen. Mord war Mord. Er hatte lebenslänglich bekommen und nichts mehr zu verlieren. Auf der Suche nach Geld hatte Mark im Anschluss eine alte Dame überfallen, aber dies hatte sich als sinnlos erwiesen, da die alte Schachtel nur ein paar Cents in ihrem Geldbeutel gehabt hatte. Die Kreditkarten hätte sie daheim, hatte sie mit weinerlicher Stimme und schreckensgeweiteten Augen behauptet. Da hatte er sie verschont.
Jetzt hatte er wieder vor, zuzuschlagen. An einem einsamen Parkplatz beobachtete er einen Mann, der entweder im Begriff war, sein Auto ab- oder aufzusperren. Kurzer Blick nach links und rechts. Niemand zu sehen, erst recht keine Polizei. Das war gut so "Hallo sieh, da", rief er, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen. Der Fahrzeughalter, offensichtlich überrascht, hielt inne. Mark kam schnell näher und als er vor ihm stand, fragte er höflich, fast liebevoll: "Hätten Sie kurz Zeit?" "Wieso?" entgegnete der Mann. Er war hager und groß und in seinem Blick lag mit einem Mal Misstrauen. Berechtigterweise, wie sich gleich herausstellte. "Deswegen", zischte Mark und im nächsten Moment blitzte das Messer in seiner Hand. Der Hagere wich einen Schritt von seinem Auto zurück und war plötzlich leichenblass im Gesicht. Aber bevor er etwas sagen konnte, ergriff Mark wieder das Wort. "Schlüssel her!". Der Andere starrte ihn ungläubig und fassungslos an als würde er gerade fliegende Meerschweinchen am Himmel sehen und sein Mund stand offen. Mark sah sich um. Immer noch kein Mensch zugegen, aber das konnte sich schnell ändern. Also gab er Gas. Er machte einen Schritt auf sein Opfer zu und riss dem völlig Verdutzten den Schlüssel aus der Hand. "Und jetzt verpiss dich." Mark schloss die Autotür auf und stieg ein. "Das werden Sie … also, ich werde mir Ihr Gesicht merken. Ich werde …" Der Mann hatte offenbar seinen Mut wieder gefunden. Während Mark den Schlüssel ins Schloss steckte und den Motor startete, kam noch mehr Leben in den schmächtigen Mann und mit einem Mal rief er laut: "Hilfe, Hilfe. Mein Auto wird geklaut. So hilft mir doch einer." Gleichzeitig gestikulierte er mit den Händen, als würde er gerade einen Freudentanz vollführen. Jetzt musste es schnell gehen. Mark schoss aus der Parklücke heraus und hätte sein Opfer fast noch mitgerissen. Der Magere sprang gerade noch beiseite und dann war Mark schon auf und davon. Innerhalb zehn Minuten hatte er die Stadt verlassen und befand sich auf der Landstraße. Sofort hatte er versucht, das Radio einzuschalten, denn er wollte über den neuesten Stand der polizeilichen Ermittlungen in Bezug auf seine Ergreifung unterrichtet sein. "Mist", fluchte er. Das Radio war kaputt. Als sein Blick auf die Tanknadel fiel, fletschte er die Zähne und ließ die Faust zwei Mal auf das Armaturenbrett krachen. Die Benzinanzeige war fast auf Reserve "Mist". Diesmal brüllte er. Zwar hatte er jetzt ein Fluchtmittel, doch was half ihm das, wenn er irgendwann auf der Strecke liegen blieb. Dann war das alles nicht mehr wert, als ein Haufen dampfender Scheiße in einer Kloschüssel. Warum hatte der Kerl nicht vollgetankt? Er hätte ihm die Zähne einschlagen sollen und zwar einzeln. So, wie er das im Knast bei einem Häftling demonstriert hatte, der ihm statt einer Scheibe Brot, die Mark von ihm beim Abendessen verlangt hatte, nur eine lange Nase gezeigt hatte. Und dann war Mark ausgerastet, denn es gab nichts, was er mehr hasste, wenn Jemand nicht das tat, was er von ihm forderte. Er hatte den Kerl gepackt, zu Boden geworfen und so lange mit seiner Faust sein Gesicht bearbeitet, bis die Wärter ihn von hinten gepackt und von seinem stark blutenden Opfer heruntergezogen hatten. Die Folge war die Einzelzelle bei Wasser und Brot gewesen. Toll. Seitdem war ihm der Typ aus dem Weg gegangen und er hatte einige Wochen ein Pflaster auf der Nase betragen, weil Mark ihm die Nase gebrochen hatte. Der Typ, Norbert hieß er, war aber nicht der Einzige gewesen, der ihm aus dem Weg gegangen war, sondern auch die Mehrheit der Häftlinge. Mark war bekannt für seine Ausraster und seine Aggressivität und die Wärter hatten vor allem auf ihn ein wachsames Auge gehabt. Aber sie waren nicht wachsam genug gewesen, denn er war schließlich entkommen. Nie wieder würde er in den Bau gehen, auch wenn das bedeutete, sich ins Ausland abzusetzen, wo ihn niemand kannte. Aber das war Zukunftsmusik. Jetzt musste er sich erst einmal auf die Gegenwart konzentrieren und das hieß, so schnell wie möglich an Geld kommen und dann erst einmal volltanken, um weitere fünfhundert Meilen zwischen sich und der Polizei zu bringen, die ihn mit Sicherheit schon verfolgte. Mittlerweile wurden wahrscheinlich schon Steckbriefe herausgegeben und er würde heute Abend mit Sicherheit in den Nachrichten erwähnt werden. Außerdem würde der Autobesitzer sein Fahrzeug die nächste halbe Stunde bei der Polizei als gestohlen melden und bei der Täterbeschreibung…Die Spuren würden unweigerlich zu ihm führen, denn nach ihm wurde ja bereits gesucht. Er hätte den Mann doch gleich töten sollen, dann hätte er das Maul wenigstens nicht mehr aufgebracht. Aber egal. Er fuhr weiter. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er gestern Mittag zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Er dachte kurz nach. Sein nächstes Ziel war ohne Zweifel eine Tankstelle, aber er würde dort keinen Raubüberfall mehr begehen, auch wenn es verlockend war. Hier war es etwas anderes, als an einem einsamen Parkplatz ein Auto zu klauen. Erst einmal gab es normalerweise in Tankstellen Kameras und zweitens kamen und gingen hier ständig Leute ein und aus. Außerdem war der Kassierer möglicherweise bewaffnet. Mark hatte das immer Fernsehen in amerikanischen Filmen gesehen. Eine doppelläufige Pumpgun unter der Ladentheke, zu jeder Zeit bereit, eine kleine Sauerei anzurichten. Und was hatte er? Ein Küchenmesser. Zwar scharf, aber gegen eine richtige Waffe konnte sie bekanntlich nichts ausrichten. Nein, er würde das ganz legal über die Bühne bringen. Zuerst Kohle klauen und danach ab in die Tankstelle. Er sah noch einmal auf die Tanknadel. Wenn man davon ausging, dass der Reservetank noch fünfzig Kilometer hielt und jetzt noch nicht das rote Licht leuchtete, nahm er an, mindestens achtzig Kilometer bei sparsamer Fahrweise zu kommen. Er stellte fest, dass es angefangen hatte, stärker zu schneien. "Mist", fluchte er. Das konnte er jetzt auch noch brauchen. Dass es noch glatt wurde. Er fuhr weiter und fing an, mit den Zähnen zu knirschen.
-3-
Bevor Marla das Wasser in die Badewanne einließ, ging sie erst einmal ins Wohnzimmer. Im offenen Kamin brannte noch ein kleines Feuer und sie würde heute Nacht, bevor sie sich auf die lange Couch im Wohnzimmer zum Schlafen legen würde (seit Klaus Tod übernachtete sie oft im Wohnzimmer, weil sie das Ehebett so an ihn erinnerte), noch ein paar dicke Holzscheite aus dem Keller holen und nachheizen. Wahrscheinlich würde es eine kalte Nacht werden. Ein paar Meter in sicherer Entfernung vom Kamin entfernt, stand der Weihnachtsbaum. Sie hatte ihn erst heute Morgen dekoriert. Jede Menge Christbaumkugeln, Lametta, kleine Holzfiguren und Strohsterne hingen am Baum und heute Abend nach der weihnachtlichen Bescherung bei Pauline und ihrer Familie, würde sie die Christbaumbeleuchtung einschalten und sich bei klassischer Musik auf der Couch entspannen, um dann dort einzuschlafen. Mit diesen angenehmen Gedanken ging Marla in die Küche und stellte das Radio an, das auf dem Tisch stand. Ein Radiosprecher kündigte an, dass es wider Erwarten doch stärker schneite, als es die Meteorologen angenommen hatten. Die weiteren Aussichten waren, dass es die ganze Nacht weiterschneien würde und mit Glätte auf den Straßen zu rechnen sei. "Dass es die ganze Nacht weiterschneit, hätte ich auch gewusst", murmelte Marla und ging ins Bad hoch. Sie ließ das Radio oft laufen, wenn sie woanders im Haus war. Es ging ihr nicht nur darum, die Radiosendung zu verfolgen, sondern es war ihr fast noch wichtiger, die Einsamkeit und Stille zu verbannen, die am Anfang nach Klaus Tod kaum zu ertragen gewesen war. Aber sie hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt, wenigstens einigermaßen und wenn der Fernseher oder das Radio lief, konnte sie mit der Situation besser umgehen. Sie ließ sich ein warmes Bad ein und als ein paar Zentimeter Wasser in der Wanne waren, gab sie noch ein paar Tropfen ergiebigen Badezusatz mit dazu, der beruhigende, pflanzliche Inhaltsstoffe enthielt. Sie hatte nach Klaus Tod oft unter Unruhe- und Angstzuständen gelitten und hatte zwei Jahre lang Beruhigungstabletten genommen, die ihr der behandelnde Psychiater verschrieben hatte, den sie neben dem Psychologen, aus Verzweiflung heraus und völlig am Ende, konsultiert hatte. Auch wenn die Angstzustände sehr unangenehm und sie auch deshalb niedergeschlagen und traurig gewesen war, so war Marla trotzdem froh, dass ihre krankhaften Depressionen nicht zurückgekehrt waren, die sie mit Klaus an ihrer Seite, jahrelang ertragen hatte müssen. Wenn die nämlich auch noch hinzugekommen wäre, hätte sie das vollends aus der Bahn geworfen und es wäre wahrscheinlich nicht bei einer ambulanten Therapie geblieben. Seit gut einem Jahr kam sie ohne jede Form von Chemie und ärztlicher Hilfe aus und sie nahm mittlerweile nur zwei- bis drei Mal die Woche ein entspannendes Bad. Sie war sehr stolz auf sich, das sie das alles aus eigener Kraft geschafft hatte, aber glücklich war sie dennoch nicht. Wahrscheinlich würde sie nie wieder so glücklich sein, wie sie es einmal gewesen war. Mit Florian war ein Teil in ihr gestorben und nachdem ihr Mann gestorben war, war auch der andere Teil gestorben. Sie glaubte nicht mehr, dass sich das in ihrem Inneren wieder regenerieren würde. Gestorben war schließlich gestorben. Es war wie ein Häuflein zertrampelter und fruchtlos gewordener Erde, auf der nichts mehr wachsen konnte. Im Bad zog sich Marla langsam aus und legte ihre Wäsche auf den heruntergeklappten Toilettensitz. Währenddessen strömte das Wasser in die Wanne und ein angenehmer Geruch machte sich im Badezimmer breit. Sie ließ die Badezimmertür einen Spaltbreit offen, denn sie hatte keine Gründe, sich hier einzuschließen. Schließlich stieg sie nackt in die Wanne voller Schaum und fing an, sich zu entspannen. Durch das Rauschen des einströmenden Wassers und durch die Tatsache, dass die Türe nicht ganz offen stand, sondern nur einen Spalt breit, hörte sie nicht, als der Nachrichtensprecher eine wichtige Meldung kundgab.
"Wir müssen unser Programm für einen kurzen Moment unterbrechen. Wie uns vor fünf Minuten mitgeteilt wurde, ist in der nahegelegenen JVA gestern ein Häftling ausgebrochen. Er ist derzeit auf der Flucht. Es gibt wahrscheinlich einen Augenzeugen. Es ist der Besitzer eines Dreier BMWs, der Opfer eines Raubüberfalles war. Die Täterbeschreibung passt auf den Flüchtigen. Das Opfer, dessen BMW durch den Sträfling entwendet wurde, gab aber vor, dass sich in seinem Benzintank nicht mehr viel Kraftstoff befände. In diesem Fall wird davon ausgegangen, dass der Flüchtige entweder das Fahrzeug irgendwann abstellen muss oder gezwungen ist, einen weiteren Autodiebstahl zu begehen. Der Entflohene gilt als sehr gefährlich. Er ist etwa 1,80 Meter groß, breitschultrig und hat kurzes, rasiertes Haar. Die Nummer des Kennzeichens ist…."
Aber all davon bekam Marla nichts mit. Sie schloss die Augen und begann, die wohlduftenden und beruhigenden Düfte einzuatmen. Dann, als das Wasser ihr bis unters Kinn ging, tastete sie mit der rechten Hand zum Hahn und drehte ihn zu. Es war still, außer der sanften und leisen Musik, die aus dem Radio kam. Elvis Presley sang gerade den Song "Amazing Grace". Marla erkannte das Lied sofort und sang eine Strophe mit:
Yes, when this flesh and heart shall fail,
And mortal life shall cease;
I shall possess, within the veil,
A life of joy and peace.
Sie hörte sich entspannt noch das Ende des Liedes aus der Badewanne aus an und dann wurde sie auf einmal so müde, dass sie, mit einem Mal völlig losgelöst von Allem, kurz einnickte. Nach zehn Minuten schreckte sie plötzlich auf, weil sie meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Zuerst wusste sie gar nicht wo sie war, aber dann war sie mit einem Mal wieder richtig da. Sie lächelte über sich selber. Sie blieb noch weitere zehn Minuten entspannt in der Wanne liegen. Dann, als das Wasser schon nicht mehr so heiß war, wie zu Anfang, setzte sich auf und fing an, sich die nassen Haare zu shampoonieren und sie sich anschließend mit der Brause abzuwaschen. Danach erhob sie sich aus dem Wasser und stieg anschließend aus der Wanne. Gerade sang Phil Collins den Song "We can´t dance". Marla öffnete die Tür, so dass die schwüle Luft, die die zwei großen Badezimmerspiegel zum Beschlagen gebracht hatte, aus dem Raum entweichen konnte. Auf einmal klingelte es an der Tür und sie fluchte "Scheiße." Sie war splitternackt. Sie trocknete sich in Rekordzeit ab, schlang sich schnell den blauen Bademantel um und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Während sie die Treppe hinuntereilte, rief sie laut "Komme schon". Sie öffnete die Haustüre, aber niemand war zu sehen. Kälte schlug ihr entgegen und sie fror. Sie sah das sperrangelweit offene Gartentor. "Hallo?" fragte sie leise und unsicher. Dann lauter mit fester Stimme: "Hallo?" Nichts regte sich und Marla war im Begriff die Tür zu schließen, als Anjas Kopf aus einem Gebüsch spähte. Sie hatte einen frechen Ausdruck im Gesicht. "Hab dich reingelegt", lachte sie. "Hab dich reingelegt". "Ja, das hast du, Kleines", erwiderte Marla und zog ihren Mantel noch ein bisschen zu, aber nicht nur wegen der Kälte. Sie war etwas erleichtert und sie musste sich eingestehen, dass ihr die paar Augenblicke nicht allzu sehr behagt hatten. Anja sah zu ihr herauf. Mamma lässt fragen, ob du heute auch wirklich nach der Kirche zu uns kommst, um Weihnachten mit uns zu feiern?" Marla blickte in die kleinen, unschuldigen Engelsaugen und erwiderte lächelnd: "Na klar Kleines komm ich. Das hab ich deinen Eltern versprochen und was man verspricht…" "Das hält man", vollendete Anja den Satz, dann sprang sie vor Freude in die Luft und streckte die Arme himmelwärts. "Yuppie." Sie und ihr Bruder freuten sich immer so, wenn Marla kam. Dann drehte sich das Mädchen um, lief zum Gartentor und rief noch ein lautes "Bis späääääter". Im nächsten Moment knallte sie das Tor auch schon zu, dass es schepperte, wie sie es immer machte. Pauline, die das einmal mitbekommen hatte, hatte Anja auch deswegen gleich zur Schnecke gemacht. Das gehöre sich nicht und es würde genügen, wenn sie das Tor leise schließe. Im nächsten Augenblick hatte Marla ihre Freundin am Arm genommen und ihr versichert, dass das wirklich nicht schlimm sei. So seien halt Kinder.
Marla ging nach oben ins Bad und ließ erst einmal das mittlerweile lauwarme Wasser abfließen. Dann spülte sie die Schaumreste ab und föhnte sich das Haar. Nachdem sie damit fertig war, empfand sie eine so starke Müdigkeit, dass sie entschied, sich noch einmal ein Stündchen auf die Couch zu legen. Sie ging in die Küche hinunter und schaltete das Radio aus. Danach blickte sie auf ihre Uhr. Jetzt war es halb vier und um sechs Uhr fing die Messe an. Um sich einen Platz zu sichern, musste sie spätestens um halb sechs dort sein. Sie hatte also noch etwa zwei Stunden Zeit und die würde sie nutzen. Müde und langsam schlich sie, immer noch nur mit dem blauen Bademantel bekleidet, ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. Sie schloss ihre Augen und eine Minute später war sie eingeschlafen.
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Marla öffnet die Augen und sieht sich um. Sie liegt splitternackt auf weichem Gras. Vor ihr liegt ein riesengroßer See. Nebel steigt von der Wasseroberfläche auf und lässt ihn geheimnisvoll wirken. Marla erhebt sich und jetzt erst fällt ihr auf, dass sie völlig nackt ist. Aber sie empfindet keine Scham. Nicht an diesem Ort. Sie friert nicht, noch hat sie Hunger, noch Durst, sie friert nicht. Marla presst die Augen zu Schlitzen zusammen und sieht vom Ufer, wo sie steht, weit hinaus auf die See. Man kann nur Nebel sehen, aber sie ist sich sicher, dass da noch etwas Anderes ist. Eine andere Insel, eine Art Gegenstück zu dieser. So was in der Art. Sie will dort hinüber, auf die andere Insel, von der sich sicher ist, dass sie existiert. Sie geht auf die Böschung zu und sieht hinab. Unter ihr, direkt am Wasser ist ein Floß, das mit einem Seil an einem aus der Erde herausragenden Holzpflock befestigt ist. Sie geht die sandige Böschung hinunter, bis sie vor dem Floß steht, dass leicht im Wasser schaukelt. Marla bindet das Seil los und steigt aufs Floß. Sie legt sich auf den Bauch. Da das Floß sehr schmal ist, kann sie links und rechts mit den Armen rudern. Und das tut sie auch. Langsam entfernt sie sich vom Ufer. Immer mehr. Als sie nach zehn Minuten hinter sich blickt, ist es verschwunden. Nebel und Wasser umgibt sie, so weit das Auge reicht. Sie rudert weiter und als sie völlig erschöpft die Hoffnung schon aufgeben will, sieht sie Umrisse im Nebel. Oder ist es nur Einbildung? Als sie näher kommt, seht sie schemenhaft das Ufer einer Insel. Freudig und motiviert legt sie sich noch einmal richtig ins Zeug und bringt das Floß schnell näher. Obwohl die Insel unzweifelhaft vor ihren Augen existiert, so zweifelt Marla doch für einen kurzen Moment, ob das wirklich eine andere Insel ist. Denn es wäre ja auch gut möglich, dass sie, völlig orientierungslos im Nebel, ihr Floß in Wirklichkeit in einem Bogen manövriert hat und jetzt die Insel sieht, die sie verlassen hat. Doch im nächsten Augenblick sieht sie zwei Gestalten am Ufer und sie weiß, dass sie eine andere Insel vor sich hat. Da, wo sie hinwollte. Als sie näher kommt, erkennt sie, dass es ein Mann und ein Junge ist. Sie sitzen beide auf einer Holzbrücke und ihre Füße baumeln im Wasser. Sie winken. Schließlich, als sie nur noch gute 20 Meter vom anderen Ufer entfernt ist, erkennt sie beide. Es ist Klaus, der völlig gesund aussieht. Sein schwarzes, lockiges Haar bewegt sich sanft im Wind und er hat einen Arm um Florian gelegt. Beide winken unentwegt, aber es stimmt etwas nicht mit ihnen. Als Marla noch näher kommt, sieht sie, dass sie weinen. Aber sie müssten doch glücklich sein, sie zu sehen, genauso wie es Marla ist. Warum nur? Doch auf einmal sind sie verschwunden und mit ihnen alles um sie herum. Es existiert keine Insel, kein Wasser, kein Nebel mehr. Nur noch Schwärze.
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Marla wachte auf und völlig benommen schüttelte sie den Kopf. Nervös blickte sie auf die Uhr, denn da sie jetzt registrierte, dass sie eingeschlafen war, hoffte sie, den weihnachtlichen Gottesdienst nicht verschlafen zu haben. Ein Blick auf die Uhr ließ sie Erleichterung spüren. Gott sei Dank, es war erst kurz nach halb fünf, also hatte sie noch Zeit. Sie hatte genau 1 Stunde lang geschlafen, aber sie fühlte sich putzmunter, als wäre es bedeutend länger gewesen. Sie reckte und streckte sich auf der Couch und gähnte herzhaft. Sie musste geträumt haben, da war sie ganz sicher, aber sie wusste nicht mehr genau, um was es sich im Traum gehandelt hatte. Aber fest stand, dass es kein Alptraum gewesen war, denn sonst wäre sie schweißgebadet aufgewacht und wäre bei weitem nicht so ausgeruht gewesen, wie sie es jetzt war. Nein, im Gegenteil. Es musste ein schöner und angenehmer Traum gewesen sein. Vielleicht würde er ihr im Laufe des heutigen oder morgigen Tages wieder einfallen. Mit diesen Gedanken erhob sich Marla von der Couch und ging ins Schlafzimmer, um sich für die Kirchenfeier und den festlichen Abend nachher bei Pauline etwas Passendes aus ihrem Schrank herauszusuchen. Sie entschied sich für einen dunkelblauen Hosenanzug mit einer weißen, geblümten Bluse darunter. Sie zog sich im Bad an, weil sie sich im Anschluss noch schminken wollte. Nachdem sie das hinter sich gebracht hatte, sah sie noch einmal auf die Uhr. Es war viertel nach fünf. Sie schaltete überall in der Wohnung das Licht aus und ging hinunter. Sie zog ihre Stiefel und ihren Mantel an, der mittlerweile wieder trocken war und sah noch einmal in den Eingangsspiegel, um den Sitz der Kleidung und ihre Frisur noch einmal zu überprüfen und verließ dann das Haus. Marla traf um kurz vor halb sechs in der Kirche ein. Mittlerweile wurde es langsam dunkel. Da es jetzt schon mehrere Stunden geschneit hatte, war das ganze Dorf mittlerweile in ein totales Weiß eingehüllt. Marla musste an Zuckerwatte denken, die sie als kleines Kind so gerne gegessen hatte. Die Kirche war zum jetzigen Zeitpunkt schon sehr voll und sie fand gerade noch in einer der hintersten Reihen einen Platz neben Frau Albst, der Metzgereiverkäuferin des Ortes. Marla warf ihr ein begrüßendes Lächeln zu und die Frau erwiderte es. Um Punkt sechs fing der Pfarrer, Herr Meisel, der seit 10 Jahren Pfarrer im Dorf war, mit der Weihnachtsmesse an, indem er alle Anwesenden begrüßte und das Raunen der Menge verstummte mit einem Mal. Während der Christmette sah Marla immer wieder zu den großen Kirchenfenstern hinaus und stellte fest, dass es unentwegt weiter schneite. Als sie sich während der Kommunion in einer langen Reihe anstellte, um den Leib Christie zu empfangen, sah sie ihre Freundin Pauline mit ihrem Ehemann, als sie hinter sich blickte. Sie winkten sich Beide zu und lächelten. Nachdem Marla die Hostie empfangen hatte, ging sie zu ihrem Platz zurück und kniend und mit geschlossenen Augen bat sie Gott, dass er ihr die Kraft geben möge, trotz ihres inneren Schmerzes weiter durchzuhalten und nicht zu verzweifeln. Dann betete sie noch kurz für ihren verstorbenen Ehemann und ihren Sohn Florian. Am Ende des Gottesdienstes wurde sämtliche Beleuchtung in der Kirche ausgeschaltet, so dass nur noch der schwache Lichtschein der Kerzen zu sehen war, die auf dem Altartisch standen. Dann stimmte der Orgelmeister das berühmte Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" an und die ganze Gemeinde sang mit. Nach der Messe strömte die Menge aus den zwei großen, geöffneten Doppeltüren heraus. Mittlerweile war es stockdunkel geworden. In Anbetracht der Schneemassen, konnte man jetzt zu Recht von weißen Weihnachten reden. So einen Heiligabend hatte sich sicherlich jeder, vor allem die Kinder gewünscht. Manche der Dorfbewohner blieben noch vor der Kirche stehen und plauderten miteinander. Andere schüttelten sich die Hände oder umarmten sich und es wurde sich noch ein frohes restliches Weihnachtsfest gewünscht. Die Eltern von kleinen Kindern jedoch entschieden, gleich von der Kirche nach Hause zu marschieren, da die Kleinen sich schon so auf die Bescherung freuten und schon zu drängeln begannen. Marla war auch eine von denjenigen, die gleich nach Hause ging. Sie kannte hier zwar genug Leute, aber seit sie Witwe war, hatte sie sich ein wenig zurückgezogen und ihr war nicht immer zum Reden zumute. Daheim angekommen sah sie erst einmal auf die Uhr. Jetzt war es sieben. Marla hatte vor, um halb acht zu ihren Nachbarn zu gehen. Aber erst würde sie die Geschenke einpacken.
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Mittlerweile war es dunkel geworden und es schneite es so stark, dass Mark die Scheinwerfer eingeschaltet hatte und den Scheibenwischer auf "Intervall" gestellt hatte. Er hatte nicht lange überlegen müssen, denn mit BMWs kannte er sich aus, weil er selber schon mehrere Fahrzeuge dieser Marke gefahren hatte. Das Reservelicht leuchtete schon seit zehn Minuten und immer noch war keine Tankstelle in Sicht. Er brauchte zwar zu erst Geld, aber ohne eine Tankstelle war es sinnlos, jemand zu beklauen. Immer noch knirschte er mit den Zähnen. Er wollte schon wieder anfangen zu fluchen, als er innehielt. Er sah durch die Schneeflocken in weiter Ferne einen kleinen, hellen Lichtfleck am Straßenrand. Hoffnung keimte ihn ihm auf. Er fuhr schneller. Umso näher er kam, umso zuversichtlicher wurde er und sein Lächeln breiter. Ja, ohne Zweifel. Es war eine Tankstelle. Er fuhr langsam vorbei. Wie er erwartet hatte, war eine Menge an den Zapfsäulen los, da die Straße, die Mark entlangfuhr, vielbefahren war. Er erhaschte noch einen Blick auf zwei Lastwägen, die in einiger Entfernung von den tankenden Fahrern parkten. Dann ließ er die Tankstelle hinter sich. Jetzt musste er möglichst schnell an Bargeld kommen. Hier war weit und breit keine Stadt. Es gab im Abstand von fünf bis zehn Kilometern nur abgeschiedene Dörfer, wo es keine Polizei gab und wo sich selten eine Streife verirrte, weil hier nie irgendetwas Schlimmes passierte. Aber heute würde sich das ändern und er würde höchstpersönlich dafür sorgen. Wieder lächelte er.
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Marla öffnete den Wohnzimmerschrank und holte ein Spielzeugauto samt Fernbedienung heraus und ein Kinderbuch, auf dem ein Hase zu sehen war, der genüsslich eine Mohrrübe aß. Das Auto war ein Weihnachtsgeschenk für Peter, während das Buch für Anja gedacht war. Sie war dieses Jahr in die Schule gekommen und Marla wollte das Mädchen durch das Geschenk zum Lesen ermutigen. Nun musste Marla die Sachen noch einpacken. Das Geschenkpapier lag neben der Flasche Rotwein, die für Pauline und Martin gedacht war, auf dem Küchentisch. Sie war gerade im Begriff, es zu holen, um die Geschenke einzupacken, als es an der Tür klingelte. Wer mochte das sein? Vielleicht war es Anja, aber sie hatte dem Mädchen doch heute Nachmittag schon erklärt, dass sie sicher kommen würde. Sie ging zur Haustüre und öffnete sie. Sie spürte kalten Wind. Niemand war da. Bestimmt war Anja irgendwo im Garten und versuchte sie wieder zu ärgern wie heute Nachmittag. Marla ging belustigt durch den Garten. "Anjalein, mein Kind", sprach sie, während sie langsam herumging. "Ich weiß, dass du hier bist. Du versteckst dich doch hier irgendwo. Also komm raus, sonst zieh ich deine Ohren bis zum Mond." Auf einmal hörte sie das Rascheln eines Gebüsches. Ja, da war das kleine Ding. Sie versteckte sich. "Hab dich schon gehört, Anja. Ich weiß wo du bist. Ich.." Doch Marla konnte nicht mehr weitersprechen. Plötzlich schlang sich von hinten ein Arm um ihren Hals und drückte so fest zu, dass sie keine Luft mehr bekam. Im selben Moment sah sie ein Messer im Schein der Straßenlampen blitzen und eine Stimme sprach an ihr Ohr: "Wir werden jetzt ganz langsam dort in dein Haus gehen, hast du verstanden?" Marla nickte panikartig und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Die Stimme fuhr fort: "Du wirst nicht schreien, hörst du? Ansonsten schneide ich dich mit diesem Messer in der Mitte durch, verstanden?" Bei jeder Frage nickte Marla wieder mehrere Male. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie hatte Todesangst. Der Griff um ihren Hals herum lockerte sich und sie bekam wieder Luft, die sie gierig einsog. Sie wurde rückwärts in Richtung Haustür gezogen und die ganze Zeit war das Messer nur ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Schließlich waren sie im Haus und plötzlich wurde sie zu Boden geschleudert. Auf dem Bauch liegend, drehte sie sich schlagartig um und sah im selben Moment, als die Haustüre ins Schloss fiel, den Fremden in voller Lebensgröße vor sich stehen. Er war mittelgroß, kräftig, aber nicht dick und hatte kurzes, rasiertes Haar. Er trug eine blaue Windjacke, die halb geöffnet war und darunter einen dunkelroten Pullover zeigte. Seine Beine steckten in blauen, schmutzigen Jeans, die teilweise zerrissen waren. Der Mann lächelte sie an. Es war das böseste Lächeln, das Marla je in ihrem Leben gesehen hatte und die Angst auf das Bevorstehende ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. "Hör zu, Fotze", sprach er. "Erst Mal will ich wissen, ob hier noch wer wohnt." Sie brachte vor lauter Panik kein Wort heraus, sondern schüttelte nur den Kopf. Der Mann nickte zufrieden. "Also wohnst du allein. Sehr gut. Das macht die Sache schon mal ein wenig einfacher. Und jetzt hör zu! Was ich will, ist Geld. Ich will, dass du mir soviel Bargeld gibst, wie du hier im Haus hast. Mein Wagen braucht dringend Sprit und ohne Geld kann ich nicht tanken. Du verstehst, oder?" Marla nickte folgsam wie ein eingeschüchtertes, kleines Kind. Sie verspürte Hoffnung, denn anscheinend ging es dem Fremden nicht darum, ihr etwas anzutun, sondern er wollte nur Geld. "Also, Fotze, wie viel Bargeld hast du im Haus? Und lüg mich ja nicht an!" Endlich brachte Marla einen Ton heraus. "In … in ... meiner … Handtasche", stammelte sie und deutete auf die Garderobe beim Eingangsspiegel. Dort hing eine schwarze Handtasche und der Fremde riss sie an sich und öffnete sie gierig. Er kramte darin herum und nach einer Weile förderte er ein dunkles Portemonnaie aus Leder zutage. Darin waren fünfzig Euro, die der Mann herauszog und sich in die Hosentasche seiner schmutzigen Jeans steckte. Der Fremde öffnete die Tür und war im Begriff zu gehen, als er sich auf einmal umdrehte und zu grinsen anfing. Anscheinend war ihm ein Einfall gekommen. "Kleiner Planwechsel", sprach er und schloss erneut die Haustüre. "Hast du einen Wagen?" fragte er plötzlich. Marla nickte automatisch und ahnte im selben Moment, auf was diese Frage hinauslief. "Gut, du dumme Kuh. Nächste Frage. Ist der Wagen vollgetankt?" "Ja", antwortete Marla. Mit einem Mal spürte sie eine starke Wut in sich aufsteigen und dieses Gefühl vertrieb die Angst. "Aber du wirst diesen Wagen nicht bekommen, denn er gehört meinem verstorbenen Ehemann", sprach sie auf einmal mit fester Stimme und konnte ihre jetzige Selbstsicherheit gar nicht fassen. Sie dachte an Klaus und er war in ihrem gemeinsamen Leben eine so starke Persönlichkeit gewesen, dass er ihr selbst über seinen Tod hinaus noch Mut machte. Mark konnte nicht fassen, was er da hörte. Dieses dumme Etwas wagte doch tatsächlich, ihm zu widersprechen. Doch sein anfänglicher Hass verging schnell. Er hatte andere Pläne, als sich mit diesem Luder aufzuhalten. "Fick dich, Fotze", sagte er und nahm den Schlüsselbund, an dem auch der Autoschlüssel hing, vom Haken. Er öffnete die Tür und wollte gehen, aber plötzlich spürte er, wie sich Marla von hinten gegen ihn warf und ihn festhielt, um ihn am Hinausgehen zu hindern. Mark drehte sich zu ihr um, aber anstatt sie von ihr wegzustoßen, was nach seinem Körperbau zu urteilen, vollkommen ausgereicht hätte, stach er Marla zwei Mal kaltblütig in den Bauch. Sofort ließ sie von ihm ab und brach zusammen. Marla hörte nur noch das böse Lachen des Fremden, dann begann sich, die Realität um sie herum, langsam aufzulösen. Sie spürte weder das warme Blut, das aus ihrer Wunde strömte und ihre weiße, geblümte Bluse befleckte, noch die Schmerzen. Ihre Augen fielen zu und sie hörte nicht einmal mehr den aufheulenden Motor auf ihrer Einfahrt, gefolgt vom Geräusch quietschender Reifen. Sie sah und spürte nur, wie sie, umgeben von Nebel, auf einem kleinen, schmalen Floß im Wasser schaukelte und ihr, in nicht allzu weiter Entfernung auf dem Ufer einer fremden Insel, zwei Gestalten zuwinkten.
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Es war schon acht nach acht und sie war immer noch nicht da. Die Kinder waren schon ganz ungeduldig und fragten Pauline und ihren Mann ständig nach Tante Marla. Als es fast viertel nach war, entschied Pauline, rüberzugehen. Als sie vor der Einfahrt stand, fiel ihr zunächst auf, dass das Garagentor offen stand und kein Auto da war. Pauline runzelte die Stirn. Warum war sie bei diesem Wetter noch weggefahren und hatte ihr und ihrer Familie kein Sterbenswörtchen gesagt, während die Kinder sehnsüchtig auf ihre Geschenke warteten? Sie sah durch den Garten und bemerkte, dass die Haustür einen Spaltbreit offen stand und Licht war zu sehen. Irgendetwas stimmte hier nicht, das war sicher. Pauline öffnete das Gartentor und trat ein. Sie ging auf die Haustüre zu. Sekunden später betrat Pauline das Haus und sah im selben Moment sah sie Marla blutüberströmt am Boden liegen. Der Kopf lag leicht schief, die Augen waren geschlossen, während beide Hände, die voller Blut waren, sich den Bauch hielten, als wäre ihr übel. Marla schien zu lächeln, als wäre sie erlöst von einer langen Qual. Pauline begann zu schreien.
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Ende gut, Alles gut. Mit den fünfzig Euro der dummen Kuh hatte sich Mark an der Tankstelle, die er zuvor nach langem Hoffen endlich gefunden hatte, ein Sixpack Bier, ein paar Wurstsemmeln und dazu zwei Packungen Chips gekauft. Obendrein hatte er noch ein vollgetanktes, neues Auto, das angeblich dem verstorbenen Ehemann der Witwe gehört hatte. Während er auf der Landstraße in Richtung der nächsten Stadt fuhr, fraß und soff er nach Herzenslust. Dass er vor nicht allzu langer Zeit eine Frau niedergestochen hatte, war ihm total egal. Was zählte, war jetzt nur Freiheit. Mit einem Mal wurde es extrem hell hinter ihm. Er fluchte. Warum fuhren manche Idioten nur ständig mit Fernlicht herum? Er sah in den Rückspiegel und erschrak zu Tode. Auf dem Rücksitz hockte ein Mann. Er hatte schwarzes, lockiges Haar und sah Mark böse an. Seine Augen funkelten. Mark war so gelähmt vor Entsetzen, dass er den Blick nicht abwenden konnte oder in der Lage gewesen wäre, sich umzudrehen. Nicht einmal einen klaren Gedanken konnte er fassen. Er starrte weiterhin wie hypnotisiert in das Gesicht des Mannes und deshalb merkte er nicht, dass sein Wagen allmählich die Spur verließ und auf die Gegenfahrbahn geriet. Ein entgegen kommender Lastwagen kam langsam näher und gab schon von weitem Lichthupe. Aus den Augenwinkeln registrierte das Mark noch, aber er war nicht in der Lage zu reagieren. Er war zu völliger Bewegungslosigkeit erstarrt wie ein erschrockenes Reh im Scheinwerferlicht eines Autos. Der Fahrer im LKW fing an, unentwegt und nervös zu hupen. Wahrscheinlich war der Autofahrer eingeschlafen, dachte er, während sein Puls in die Höhe stieg. In seiner Verzweiflung, fing der Lastwagenfahrer an, unkontrolliert zu bremsen, aber aufgrund der schneenassen Fahrbahn gingen ihm die Reifen durch. Im letzten Moment riss er das Steuer herum, aber es war zu spät. Der Fahrer des Autos krachte ihm voll in die Seite. Als die Polizei später eintraf, konnte sie nur noch den Tod des Autofahrers feststellen. Der LKW-Fahrer kam mit leichten Blessuren davon. Ansonsten gab es keine Opfer. Mittlerweile hatte es aufgehört, zu schneien.